Ich stehe auf Männer. Neulich stand einer hinter mir, in einer Schlange im Café. Er war vielleicht Ende Dreißig, trug einen weißen Marken-Pulli und diese Lederschuhe zum Reinschlüpfen, die reiche Hamburger tragen. Er bestellte selbstbewusst einen Flat White und warf sich dabei die dünnen blonden Strähnen aus dem Gesicht. Fand ich ihn attraktiv? Nein.
Ein Stück weiter stand eine Frau. Eine dünne, blasse Person Mitte Zwanzig mit blond gefärbten Föhn-Locken, die sich mit unsicher verschränkten Armen die Kaffee-Sorten erklären ließ. Anziehung? Null. Dabei stehe ich auch auf Frauen.
An Frauen finde ich Kurven anziehend, ich mag lange Haare und alles, was allgemein als feminin gilt. Ich finde auch feminine Attribute an Männern anziehend: Ein bisschen Make-Up, eine zarte Figur, eine sinnliche, feine Art, sich zu bewegen. Fühle ich mich also zu Frauen hingezogen – oder zu Weiblichkeit? Ich stehe auch auf Menschen, die sowohl mit typisch männlichen als auch mit typisch weiblichen Attributen spielen. Die Person aus meinem Auslandssemester zum Beispiel, mit den abrasierten Haaren, der viel zu großen Bomberjacke und dem perfekten Lidstrich.
Ob die beiden Personen im Café wirklich Mann und Frau waren, weiß ich gar nicht. Ich habe ja nicht gefragt. Vielleicht war die Person mit der selbstbewussten Flat-White-Bestellung eine Frau, die mit den schmalen Locken ein Mann. Oder beide nicht-binär. Schließlich hat nicht jede Person die Genitalien, die wir an ihr vermuten. Und bis wir die zu Gesicht bekommen, vergeht mal mehr, mal weniger Zeit. Attraktiv finden wir die Person aber vorher schon. Es muss also noch andere Faktoren geben, die dazu führen, dass wir jemanden als Mann oder Frau erkennen und attraktiv finden.
Was also bedeutet es, sich zu Männern oder zu Frauen hingezogen zu fühlen? Ist die Geschlechtszugehörigkeit eine Art Minimalkriterium? Und was genau muss eine Person an sich haben, um es zu erfüllen? Einen Penis oder eine Vagina?
Das Problem mit der Anziehung
Um zu wissen, was es bedeutet, hetero oder homo zu sein, müssen wir wissen, was es bedeutet, ein Mann oder eine Frau zu sein. Und das ist gar nicht so leicht zu definieren, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.
Klar ist, die Sozialwissenschaften unterscheiden zwischen zwei Arten von Geschlecht, dem biologischen und dem sozialen. Oder auch: Sex und Gender. Ersteres bezieht sich auf rein biologische Unterschiede, letzteres darauf, wie wir uns nach außen präsentieren, uns verhalten, welche Rollen wir in der Gesellschaft übernehmen. Diese Erkenntnis hatte die Philosophin Simone de Beauvoir bereits 1949, als sie sagte: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“.
Wenn wir jemanden neu kennenlernen, kommen wir in der Regel zuerst mit der zweiten Kategorie, dem sozialen Geschlecht in Kontakt. Wir nehmen wahr, wie eine Person spricht, sich verhält, sich kleidet. Trägt sie Hosen oder einen Rock, spricht hoch oder tief, hat einen Bart?
Biologisches und soziales Geschlecht müssen nicht übereinstimmen. Bei trans Personen ist das Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, ein anderes als das, in dem sie sich gesellschaftlich bewegen. Mein Kollege Steven Meyer erklärt das in diesem Text . Aber auch cis Menschen können von den Normen abweichen, wie sich ein typischer Mann oder eine typische Frau verhält. Ein Mann mit langen Haaren kann natürlich ein Mann bleiben – und eine Frau mit Mastektomie bleibt eine Frau.
Das Problem mit den Genitalien
Genitalien sind nur eine Ebene, anhand derer das biologische Geschlecht definiert wird. Daneben spielen die Keimdrüsen eine Rolle (Hoden und Eierstöcke), ebenso wie die Chromosomen (X und Y) und die Hormone (zum Beispiel Östrogen und Testosteron). Auf allen vier Ebenen kann es zu Variationen kommen, sie lassen sich nicht immer klar zuordnen und stimmen auch nicht immer alle vier überein.
Selbst das biologische Geschlecht eignet sich also nicht so gut für eine eindeutige, klare Definition von männlich und weiblich, wie man denken könnte. Die Philosophin Judith Butler ist der Ansicht, dass sogar das biologische Geschlecht ein soziales Konstrukt ist.
Für mich sind Genitalien zweitrangig. Aber natürlich gibt es Menschen, die nur Lust auf Sex mit einer bestimmten Sorte haben. Angenommen also, man will als Frau unbedingt einen Penis im Bett. „Ich stehe auf Männer” oder „Ich bin heterosexuell” wäre dafür der falsche Ausdruck. Auch trans Frauen und nicht-binäre Menschen können schließlich einen Penis haben. „Hauptsache Penis!“ wäre also die korrektere sexuelle Orientierung.
Geschlecht ist offenbar nichts weiter als ein mehr oder weniger schwammig definiertes, veränderbares Konstrukt. Da stellt sich die Frage: Ist unsere sexuelle Orientierung dann genauso schwammig und veränderbar?
Gibt es Heterosexualität überhaupt?
Ich frage mich, was genau ich eigentlich anziehend an Männern finde. Die meisten von ihnen sind größer und stärker als ich und ich genieße die Umarmung einer größeren, stärkeren Person. Sie gibt mir ein Gefühl von Geborgenheit. Ich gebe zu: Die Fakten stützen das nicht. Jede vierte Frau in Deutschland hat schon Gewalt durch einen Partner oder Ex-Partner erlebt. Jeden dritten Tag bringt ein Mann seine Partnerin oder Ex-Partnerin um. Rein statistisch betrachtet, hätte ich in den Armen einer Frau, einer trans oder nicht-binären Person also mehr Anlass, mich sicher zu fühlen als mit einem cis Mann.
Ich bin eher groß, mein erster Freund war kleiner als ich. Geborgen gefühlt habe ich mich trotzdem, wenn ich in seinen Armen eingeschlafen bin. Die meisten anderen Männer, die ich mochte, waren eher schmal gebaut. Und auch die meisten Frauen, mit denen ich etwas hatte, waren kleiner und schmaler als ich. Ich frage mich, wie es sich anfühlen würde, in den Armen einer großen, starken Frau zu liegen. Würde es mir das gleiche Gefühl von Geborgenheit geben?
Frage ich meine Freund:innen, ob sie auf Männer oder Frauen stehen, haben die meisten eine klare Antwort. Doch zu sagen, worauf genau sie stehen, fällt allen genauso schwer wie mir. Die Frauen, die vor allem Männer daten, fanden feste, definierte, breite Körper anziehend. Zumindest müssen die Männer breiter sein als sie selbst, sagen sie. Sie stehen darauf, wenn jemand gut riecht und eine Leidenschaft für etwas hat. Wenn ein Mann die eigenen Gefühle reflektieren kann und weiß, wie man einen Körper schön berührt. Und einen Penis sollte er haben! Männer in meinem Umfeld, die Frauen attraktiv finden, mögen schöne Gesichter, strahlende Augen, sinnliche Lippen, verheißungsvolle nackte Haut und lange Haare. Die Blicke seien wichtig, hieß es. Und Pos.
Während wir darüber sprachen, fiel vielen ein, wie sie mal in jemand verliebt waren, der all diese tollen Eigenschaften nicht hatte: Schmale Männer, kurzhaarige Frauen. Und es wurde uns klar, dass keines der Attribute sich eindeutig einem Geschlecht zuordnen lässt. Es gibt vielleicht Tendenzen. Die härteren, größeren Körper gehören meist Männern, die weicheren, kleineren meist Frauen. Verallgemeinern lässt sich das aber nicht. Penisse sind vorwiegend an Männern zu finden, aber nicht nur – und nicht an allen. Strahlende Augen und knackige Pos haben mit dem Geschlecht wirklich gar nichts zu tun.
Das Problem mit den Rollen
„Ich fühle mich sicher mit Frauen“, sagt ein Freund. „Ich kann mit ihnen weicher und emotionaler sein. Männer finde ich oft bedrohlich“. Eine Freundin mag es, sich von Männern umsorgen und auf Händen tragen zu lassen – auch sexuell. Sie fühle sich auch zu anderen Geschlechtern hingezogen. Mit Frauen traue sie sich aber nicht immer, die Rolle der „kleinen Prinzessin“ zu spielen. Mit Hetero-Cis-Männern sei das ganz selbstverständlich akzeptiert. Außerdem, sagt sie, seien Männer einfach leichter zu haben.
Traditionelle Geschlechterrollen sorgen dafür, dass ich mich unbehaglich fühle. Trotzdem flirte ich leichter mit Männern, es ist einfach einfacher. Flirten, ist ein unsicheres zwischenmenschliches Terrain. Meine Rolle als Frau gibt mir Sicherheit. Bei Männern weiß ich eher, wann ein langer Blick bedeutet: Ich steh auf dich. Dass ein Kompliment für meinen Lippenstift wahrscheinlich ein Flirt ist, und wann eine Berührung nicht freundschaftlich gemeint ist. Flirte ich mit Menschen, die keine Männer sind, bin ich auf mich allein gestellt. Das Skript ist weg. Wenn ich eine Frau oder eine nicht-binäre Person neu kennenlerne, fühle ich mich immer etwas unsicher. Selten bin ich dann so entspannt wie auf Hetero-Dates.
Die Journalistin Carolin Emcke scheint genau das reizvoll zu finden. In ihrem Buch „Wie wir begehren“ schreibt sie: Was sie bei Frauen so errege, sei die Unsicherheit, nicht zu wissen, ob die andere sie auch will: „Nicht zu wissen ob all das Werben erfolgreich sein wird, ja dass ich überhaupt werben muss.“ Kein vorgefertigten Skripte zu haben, kann auch reizvoll sein. Vor allem beim Sex. Queerer Sex ist für mich oft aufregender, vielfältiger und kreativer. Aber er bringt auch mehr Unsicherheit.
Heterosexualität macht natürlich nicht nur das Kennenlernen und Flirten unkomplizierter, sondern das ganze Leben: Keine unangenehmen Blicke und Kommentare auf der Straße, keine offenen Anfeindungen und Übergriffe, kein aufwändiger Papierkram, um als Eltern eines gemeinsamen Kindes anerkannt zu sein.
Sie ist, was wir von klein auf überall sehen, in der Familie, in der Schule, in Märchen, in Songs, in Filmen. Es ist also nur verständlich, wenn Menschen in unserer heteronormativen Gesellschaft dazu tendieren, vor allem ihr heterosexuelles Begehren auszuleben – auch wenn das für sie vielleicht gar nicht die einzig mögliche Form des Begehrens ist. Eine heterosexuelle Freundin von mir sagt: „Vielleicht bin ich einfach nur hetero weil ich es gelernt habe.” Auch Frauen finde ich schließlich attraktiv.
Wen wir mögen, hängt also vielleicht auch davon ab, ob wir die Norm bevorzugen oder die Unsicherheit und Freiheit – die in der Abweichung von der Norm liegt.
Sag mir, wer auf dich steht und ich sag dir, wer du bist
Nicht nur Heterosexualität ist eine mächtige Norm, auch Zweigeschlechtlichkeit. In den Sozialwissenschaftengibt es die Theorie, heterosexuelles Begehren diene auch dazu, das eigene Geschlecht zu bestätigen. Denn wer sich besonders männlich oder weiblich verhält, wird von der Gesellschaft belohnt. Umgedreht wird man ausgegrenzt: Schon auf dem Schulhof kann Abweichung von der männlichen oder weiblichen Norm zu Ablehnung und Gewalt führen.
In seinem Buch „I don’t want to talk about it” über männliche Depression, beschreibt Familienpsychologe Terrence Real diese Spirale der Gewalt. Männlichkeit müsse ständig unter Beweis gestellt werden, durch körperliche Dominanz zum Beispiel, aber auch durch heterosexuelles Begehren. Nachhören kann man das in jedem durchschnittlichen Rap-Song: Die Indizien von Macht, Status und Männlichkeit sind Geld, Gewalt und Frauen.
Frauen wurde jahrhundertelang abgesprochen, ein eigenständiges Begehren zu haben. Mittlerweile haben auch sie das heterosexuelle Begehren als Statussymbol entdeckt. Auch weibliche Hip Hop Stars singen inzwischen viel über ihr Geld – aber eben auch davon, wie sehr alle Männer auf sie stehen. Ich fühle mich deshalb manchmal wie ein wandelndes Klischee. Ich finde es begehrenswert, von Männern begehrt zu werden. Wenn ich von einem Mann begehrt werde, fühle ich mich weiblicher. Und damit aufgewertet. Frauen begehre ich einfach, punkt.
Ähnlich schreibt es die Theoretikerin bell hooks in „Lieben lernen“: Mädchen lernen nicht, dass sie wertvolle Menschen sind. Sie lernen, dass sie nur wertvoll sind, wenn ein Mann ihnen einen Wert zuteilt. Das sei selbst bei Frauen so, die gar nicht auf Männer stehen, schreibt hooks. Die suchten die Anerkennung eben bei ihren Vätern, Chefs und anderen Männern in ihren Leben.
Männer, schreibt bell hooks in „The Will to Change”, suchen im Sex mit Frauen nach Nähe und emotionaler Verbundenheit. Zu weinen, sich anzulehnen, sich umarmen zu lassen, all das gelte im Patriarchat als unmännlich. Also hofften Männer, diese Bedürfnisse durch Sex zu kompensieren. Das klingt bitter und unemanzipiert. Und resoniert manchmal mit meinem Gefühl. Hätte ich meinen menschlichen Wert von Anfang an tief verinnerlicht – würde ich mich dann überhaupt für Männer interessieren? Wahrscheinlich schon. Aber vielleicht würde einfach keine große Rolle mehr spielen, ob jemand ein Mann ist – oder nicht.
Bindung, Anerkennung und Selbstwerterhöhung gehören zu den psychischen Grundbedürfnissen. Neben breiten Schultern scheinen wir auch die Menschen zu begehren, die diese Bedürfnisse erfüllen könnten.
Und worauf stehe ich nun?
Ich möchte niemandem die eigene Sexualität absprechen. Labels wie Homo-, Hetero-, oder Bisexualität helfen, strukturelle Diskriminierung zu erfassen. Allein schon dafür brauchen wir sie. Carolin Emcke schreibt, wenn es um die Geschichten geht, wie wir das eigene Begehren entdecken, spielen die meist in der Pubertät. Diese Geschichten klingen meist ganz klar und laufen auf den Fluchtpunkt nicht einer Lust, sondern einer Identität zu: Ich bin hetero. Emcke fragt: Ist es wirklich so, dass diese Identität unser Begehren fertig erklärt?
Worauf stehen wir wirklich? Ich kann empfehlen, diese Frage zu stellen. In einer Schlange im Café oder am Schreibtisch oder im Bett. Es geht nicht nur darum, wen wir begehren, sondern auch, wie wir begehren und begehrt werden wollen. Je präziser wir diese Frage beantworten können, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Bedürfnisse auch erfüllt werden. „Ich begehre Männer“ ist nicht falsch, aber eben nicht besonders präzise.
Wir sollten uns – das schreibt auch Emcke – zugestehen, außerhalb der Begriffe und Kategorien zu denken, die wir bisher kannten. Das eigene Begehren drehen und wenden, es von allen Seiten zu begutachten und es vielleicht ein wenig kneten, es an den Rändern weicher werden lassen, so, dass es noch besser passt. Nicht aus Wokeness, sondern aus Neugier.
Redaktion: Thembi Wolf; Bildredaktion Philipp Sipos, Schlussredaktion: Lisa McMinn, Audioversion: Iris Hochberger