Wer sich den Arm gebrochen hat, fährt in die Notaufnahme. Wer aber zum ersten Mal eine Depression oder eine Angststörung erlebt, weiß oft nicht, was zu tun ist. Und dann ist da ja auch noch die Scham. Psychisch krank? Ich doch nicht! Oft ist Wissen dann die beste Medizin. Wer weiß, welche Therapieverfahren es gibt und wie man einen Therapieplatz finden kann, kann auch schneller Hilfe in Anspruch nehmen.
Prof. Dr. Jürgen Hoyer
Ich habe deshalb den Autoren eines Grundlagenwerkes für Psychotherapie nach den absoluten Therapie-Basics gefragt, die jeder Mensch im Notfall wissen sollte, egal ob man selbst, Freunde oder Verwandte betroffen sind. Jürgen Hoyer ist Psychotherapeut und leitet die Universitätsambulanz und das Forschungszentrum für Psychotherapie der Technischen Universität Dresden. Er hat mir nicht nur erzählt, wie man die Therapie findet, die zu einem passt, sondern auch, woran man erkennt, ob die Therapie erfolgreich ist – und wann man aufhören sollte.
Herr Hoyer, angenommen, ich spüre, dass ich mental stark belastet bin und überlege, eine Psychotherapie zu machen. Wie gehe ich jetzt vor?
Erstmal kann man bei jedem niedergelassenen Psychotherapeuten oder jeder Psychotherapeutin anrufen. Seit 2017 sind alle Therapeutinnen und Therapeuten verpflichtet, sogenannte Sprechstundentermine anzubieten. Diese Termine dienen dazu, dass Menschen zumindest einen ersten Kontakt zur Psychotherapie bekommen, ohne monatelang auf der Warteliste ausharren zu müssen.
Und wie finde ich diese:n Therapeut:in?
Therapeuten in meiner Nähe finde ich über Webseiten der Kassenärztlichen Vereinigungen der Bundesländer. Da gibt es die Möglichkeit, über die Postleitzahl zu suchen. Noch schneller geht es unter der deutschlandweit funktionierenden Notfall-Telefonnummer 116 117. Wer diese Nummer wählt, wird nach eigenen Angaben im Akutfall innerhalb von drei Wochen mit einem Therapeuten oder einer Therapeutin in der Nähe vermittelt.
Klingt erstaunlich einfach. Ich dachte, einen Therapieplatz zu finden, ist höllisch schwer.
Dieses Erstgespräch ist keine Garantie für einen Therapieplatz, es dient eher der Abklärung. Aber in jedem Fall würde ich dafür argumentieren, dass Leute sich nicht durch Schwellenängste davon abbringen lassen, eine Psychotherapie zu beginnen.
Wie meinen Sie das?
Viele Leute haben Angst vor zu hohen Hürden wie Wartezeiten oder frustrierenden Telefonaten und machen sich deswegen gar nicht erst auf die Suche nach Hilfe. Diese Ängste sind menschlich, vor allem wenn noch innere Hürden und Bedenken dazukommen, überhaupt eine Psychotherapie zu beginnen. Dabei ist es heute viel einfacher, als es vor ein paar Jahrzehnten noch war. Manchmal kann es dauern, einen Therapieplatz zu bekommen – aber es geht.
Wie läuft so ein Sprechstundentermin ab?
Beim ersten Termin werden die Gründe besprochen, weshalb man eine Psychotherapie beginnen möchte. Welche Belastungen existieren? Wie sind diese fachlich einzuschätzen? Was könnte helfen? Hilfesuchende erhalten Informationen, welche Behandlungsformen existieren und welche am besten passen könnten. Insgesamt kann man bis zu sechs dieser Sprechstundentermine wahrnehmen, sie dauern jeweils eine halbe Stunde.
Danach überlegen Therapeut:in und Patient:in in sogenannten probatorischen Sitzungen gemeinsam, wie es weitergeht: Ob eine Psychotherapie aufgenommen wird und wenn ja, ob bei diesem oder einem anderen Therapeuten. Fachlich gesehen geht es dann um die „Krankheitswertigkeit“ der vorliegenden psychischen Probleme, also um die Dringlichkeit, und darum, ob eine Indikation, also ein Grund zur Psychotherapie besteht. Manchen Menschen geht es aber nach diesen ersten Sitzungen auch schon besser, weil es ihnen hilft, mit jemandem gesprochen zu haben.
Hilft es, vorab Kontakt zu meinem Hausarzt aufzunehmen?
Das muss jeder für sich entscheiden. Manchmal ist die Hemmschwelle niedriger, mit jemandem zu sprechen, der einen vielleicht schon einige Jahre kennt und behandelt. Es braucht aber keine Überweisung, um eine Therapie aufzunehmen. Und man muss bedenken: Der Hausarzt hat in der Regel schlicht und einfach zu wenig Zeit für ein entlastendes Gespräch.
Wenn es soweit ist und man einen Therapeuten oder eine Therapeutin gefunden hat, bei dem man die Therapie beginnt, muss man seinen Hausarzt oder die behandelnde Fachärztin allerdings kontaktieren, denn sie müssen den Konsiliarbericht ausfüllen.
Was ist das, ein Konsiliarbericht?
Der Konsiliarbericht dient dazu auszuschließen, dass eine psychische Verstimmung biologische oder medizinische Ursachen hat. In seltenen Fällen kann beispielsweise eine Schilddrüsenerkrankung oder ein Tumor Auswirkungen auf die Psyche haben, die sich dann in Form einer depressiven Verstimmung äußern. Das sind zwar seltene Fälle, aber sie müssen trotzdem ausgeschlossen werden, damit wir in der Psychotherapie nicht am falschen Ende behandeln.
Bei der Suche nach Hilfe stolpert man immer wieder über die Begriffe psychologischer Psychotherapeut und Psychiaterin. Was ist der Unterschied?
Erstmal sind beide hervorragende Fachleute. Therapeuten:innen haben in der Regel Psychologie studiert und danach eine therapeutische Ausbildung gemacht. Psychiater:innen sind Fachärzte, haben also eine medizinische Ausbildung. Das heißt, dass sie auch Medikamente verschreiben dürfen. Es gibt gewisse psychische Störungsbilder, die so schwerwiegend sind, dass das erforderlich ist.
Wer kann das beurteilen?
Dazu dient die Sprechstunde bei einem Psychotherapeuten. Der kann eine fachliche Einschätzung darüber abgeben, ob jemand auch medikamentös behandelt werden sollte. Ein Beispiel dafür wären die bipolare Störung oder Psychosen, etwa Schizophrenien. Ich vergleiche das immer mit Diabetes: Auch das ist eine chronische Erkrankung und jeder weiß, dass man sich daran für den Rest seines Lebens anpassen muss. Wie gut die Lebensqualität ist, hängt allein vom Grad dieser Anpassung ab: Dazu gehört auch, regelmäßig Insulin zu nehmen. Eine Behandlung mit Medikamenten durch eine Psychiaterin lässt sich oft gut mit einer therapeutischen Behandlung durch einen Psychotherapeuten kombinieren.
Welche Formen der Psychotherapie gibt es überhaupt?
Grundsätzlich gibt es vier Therapieverfahren, die von den Krankenkassen anerkannt und entsprechend übernommen werden: die Verhaltenstherapie, die tiefenpsychologische Therapie, die psychoanalytische Therapie und seit einigen Jahren wird auch die systemische Therapie übernommen.
Was unterscheidet diese vier Verfahren?
Der wichtigste Unterschied besteht – vereinfacht gesagt – darin, wie viel Wert auf das Verstehen und Klären der verborgenen Ursachen des Problems gelegt wird. Hier ist die Logik unterschiedlich. In der Tiefenpsychologie ist die erste Priorität die Klärung der Ursachen und darauf aufbauend die Verhaltensänderung. In der Verhaltenstherapie ist es genau andersrum.
Was bedeutet das konkret?
Bei der Verhaltenstherapie ist es typisch, dass viel mit neu erlerntem Verhalten experimentiert wird: Jemand probiert zum Beispiel aus, ob er es schaffen kann, sich trotz seiner depressiven Gefühle weniger als zuvor sozial zurückzuziehen. Diese neue Erfahrung wird dann gemeinsam ausgewertet. Es könnte zum Beispiel sein, dass die Person überrascht feststellt, dass es tatsächlich geht. Eine Erkenntnis könnte sein: Auch wenn mir anfangs nicht danach ist, kann ich unter Leute gehen und das tut mir gut. Solange ich depressiv bin, sollte ich wohl nicht so viel auf Gefühle achten.
Es kann auch sein, dass das Experiment nicht sofort solche positiven Resultate bringt, aber Patient:in und Therapeut:in bekommen neue Informationen, zum Beispiel darüber, welche depressiven Gedanken es bis dahin verhindert haben, die Gesellschaft anderer Menschen als angenehm zu erleben. Dann würde mit diesen Gedanken weitergearbeitet. Kurzum: Es wird versucht, möglichst aus mehr oder weniger großen Variationen des eigenen Denkens und Verhaltens zu lernen.
Bei den tiefenpsychologischen Therapien spielt dem gegenüber das Verstehen und Einfühlen in die emotionale Situation eine größere Rolle. Die Idee ist hier: Wenn die psychischen Blockaden gründlich genug verstanden wurden, sind die Patient:innen so viel freier und mutiger, dass sie sich in schwierigen Situationen deutlich besser verhalten können oder die Situationen anders erleben. Letztlich überlappen sich beide Ansätze aber mehr, als oft angenommen wird.
Was hat es mit der systemischen Therapie auf sich?
Die systemische Therapie hat die stärksten Überlappungen mit der Verhaltenstherapie. Ihre Besonderheit besteht darin, den Menschen innerhalb eines Systems zu sehen, in der Regel seiner Familie. Sie möchte die Spielregeln innerhalb dieses System analysieren und diejenigen verändern, die für den Patienten nicht funktionieren.
Ich habe gehört, dass Psychoanalyse nichts bringt und ewig dauert. Stimmt das?
Die psychoanalytische Therapie ist die längste Form. Sie kann mehrere Jahre dauern. In ihrer klassischen Variante sind außerdem drei bis vier Sitzungen in der Woche vorgesehen. Eigentlich ist es üblich, dass der Patient dabei liegt und die Psychoanalytikerin nicht sieht: So soll möglichst viel freier Spielraum für das eigene Erleben entstehen. Grundsätzlich ist die Psychoanalyse sicherlich das Verfahren, das es ermöglicht, die eigene Persönlichkeit am besten kennenzulernen. Aber ob es auch ein effizientes Verfahren zur Behandlung psychischer Störungen ist, da habe ich persönlich meine Zweifel.
„Am Ende geht es in jeder Therapie darum, irgendwann über den eigenen Schatten zu springen. Irgendwas anders zu machen, als man es zuvor gemacht hat. “
Jürgen Hoyer
Und ist es richtig, dass die Verhaltenstherapie hingegen am schnellsten Heilung bringt?
Ja, das stimmt. Das ist auch wissenschaftlich belegt. Selbst wenn alle Therapieverfahren unterm Strich erfolgreich sind, ist die Verhaltenstherapie diejenige, bei der sich am schnellsten eine Besserung der Situation einstellt.
Woran liegt das?
Am Ende geht es in jeder Therapie darum, irgendwann über den eigenen Schatten zu springen. Irgendwas anders zu machen, als man es zuvor gemacht hat. Hier hat die Verhaltenstherapie ihre Kernkompetenz: Sie bietet genaue Techniken, wie man jemanden dazu bringt, über seinen Schatten zu springen – und sie begleitet die Patientinnen und Patienten auch dabei.
Welche Therapieform wählen die Menschen am häufigsten?
Für viele Patient:innen ist das Verfahren gar nicht so entscheidend, sie entscheiden sich eher danach, wo sie am ehesten einen gut erreichbaren Therapieplatz bekommen. An deutschen Universitäten und Ausbildungsinstituten ist die Verhaltenstherapie die am häufigsten gelehrte Verfahrensart. Viele angehende Psychotherapeut:innen entscheiden sich aber auch für den tiefenpsychologischen Ansatz. Diese beiden Verfahren sind heute am häufigsten verbreitet.
Gibt es weitere Trends, die sich mit Blick auf die Psychotherapie beobachten lassen? Was ist gerade angesagt?
Der größte Trend der letzten 20 Jahre ist der Einzug der Mindfulness und der „Kognitiven Defusion“ in die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Das sind mentale Strategien, die sich mit der bewussten Aufmerksamkeitslenkung beschäftigen und vor allen Dingen mit dem Erwerb einer sehr wichtigen Kompetenz: Ich entscheide selbst, welche Gedanken ich betrachte und welche Gedanken ich einfach nur unkommentiert vorüberziehen lasse. Diese Fähigkeit steigert langfristig die Kapazität, mit Unsicherheiten umzugehen. Dazu gehört auch, sich selbst als unperfekt zu akzeptieren. Beide Methoden kommen eigentlich aus der ostasiatischen Meditationspraxis und werden gerade verstärkt in die Verhaltenstherapie integriert.
Und wie finde ich jetzt raus, welche Therapie die richtige für mich ist?
Ich glaube, diese Frage ist überschätzt. Die wichtigere Frage ist: „Soll ich eine Therapie machen, ja oder nein?“ Und da ist meine Antwort: „Im Zweifel immer ausprobieren!“ Statt dem Zweifel zu viel Raum zu geben, ob ich denn überhaupt die richtige Therapie finde. Denn in dem Zustand, in dem ich überlege, eine Therapie zu machen, bin ich sowieso verunsichert und sitze den eigenen Zweifeln eher auf. Einfach den ersten Schritt gehen und sagen: „Ich gucke mir das jetzt mal an und prüfe das und hole mir eine Rückmeldung.“
Sollte ich es dann von meinem Therapeuten oder meiner Therapeutin abhängig machen?
Auch das wäre zu einfach: Es gibt Studien, die zeigen, dass der Therapeut oder die Therapeutin nur drei bis acht Prozent Einfluss auf die Erfolgsbilanz einer Therapie hat. In anderen Worten: Wer einen therapiert, spielt gar keine so große Rolle, wie man zunächst denkt. Gerade auf der Suche sollte man sich nicht darauf versteifen, dass der oder die Therapeutin ein bestimmtes Geschlecht, ein bestimmtes Alter oder eine bestimmte Menge an Erfahrung haben sollte. Das ist für den Erfolg einer fachlich fundierten Therapie nicht wirklich erheblich. Wichtiger ist es, dass die therapeutische Beziehung funktioniert: Dass ich das Gefühl habe, mit meinem Gegenüber arbeiten zu können.
„Wer einen therapiert, spielt gar keine so große Rolle, wie man zunächst denkt. Wichtiger ist es, dass die therapeutische Beziehung funktioniert: Dass ich das Gefühl habe, mit meinem Gegenüber arbeiten zu können.“
Jürgen Hoyer
Woran merkt man, dass es gut läuft?
Wenn ich aus der Sitzung gehe und mich ernst genommen fühle. Wenn ich das Gefühl habe, es gibt Hoffnung für meine Probleme. Wenn ich mich als Mensch gesehen fühle und wenn ich das Gefühl habe, ein echtes Gegenüber zu haben. Sprich: Mein Therapeut redet mir nicht nach dem Mund, sondern nimmt seine eigene Sichtweise ein, aber so, dass ich sie verstehen kann.
Es gibt natürlich auch Sitzungen, die ich mal sehr traurig oder nachdenklich verlasse. Auch dann sollte ich aber das Gefühl haben, dass das jetzt was gebracht hat. Dass mir die Therapeutin einen Impuls gegeben hat, der mich voranbringt in meiner therapeutischen Arbeit.
Wie merke ich, dass eine Therapie wirkt?
Ich sollte binnen der ersten zehn Therapiesitzungen erkennen, dass ich auf neue Gedanken komme, dass es mir besser geht und dass ich neue Dinge tun kann. Womöglich bin ich zu dem Zeitpunkt noch nicht geheilt. Aber ich sollte merken, dass ich ganz konkrete Fortschritte spüren werde, wenn ich damit weitermache. Und wenn das nicht der Fall ist, dann sollte ich das Gespräch mit meinem Therapeuten darüber suchen. Das ist im Übrigen ein wunderbarer Test für die therapeutische Beziehung! Man sollte gemeinsam besprechen können, woran das liegt, welche Schritte noch vor einem liegen. Das ist eine Riesenchance für die Beziehung und somit auch für den weiteren Therapieverlauf.
Kann es auch sinnvoll sein, eine Therapie abzubrechen, wenn man sich mit seinem Therapeuten nicht versteht?
Eigentlich ist das selten der Fall. Therapeutinnen und Therapeuten sind ja grundsätzlich so ausgebildet, sich an möglichst viele Persönlichkeiten gut anzupassen. Aber natürlich: Auch sie sind keine Zauberer. Manchmal versteht man sich einfach nicht. Dann sollte man das in der Therapie ansprechen und gemeinsam überlegen, wie man weiter verfährt.
Woran erkenne ich, dass es an der Zeit ist, eine Therapie zu beenden?
Wenn ich weiß, was mein Therapeut mir in einer bestimmten Situation sagen oder raten würde, dann ist eine Therapie erfolgreich beendet. Wenn der positive, unterstützende Dialog im eigenen Kopf angekommen ist, dann ist es gut. Denn dann kann ich selbst korrigierend in meine Gedanken- und Gefühlsroutinen eingreifen. Dann bin ich in der Lage, meinen eigenen Kritiker in die Schranken zu weisen. Dann kann ich meine eigene Unvollständigkeit erkennen. Und das ist ganz wichtig: Dass noch Unsicherheiten bestehen, heißt nicht, dass die Therapie kein Erfolg war oder nicht beendet werden sollte. Im Leben bleibt Unsicherheit und Unordnung und auch Angst und Niedergeschlagenheit übrig. Das ist Teil des Lebens und daran ändert sich auch nichts, wenn ich den mutigen Schritt gehe, meine Therapie zu beenden. Aber ich sollte dann genügend mitgenommen haben, was mich dabei stärkt, damit umzugehen.
Redaktion: Lisa McMinn und Julia Kopatzki, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Lisa McMinn, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger