Als ich vor ein paar Wochen meine Umfrage auswertete, in der ich Männer danach gefragt hatte, ob sie mit ihrem Körpergewicht zufrieden sind, bemerkte ich es zum ersten Mal. Fast 600 Männer nahmen teil und auf die erste Frage: „Bist du mit deinem Körpergewicht zufrieden?“, antworteten 69 Prozent der Teilnehmer mit Nein. Der Grund für die Unzufriedenheit? Fast alle, ganze 92 Prozent, schrieben, dass sie sich zu dick fühlten.
Ich beschäftige mich in den vergangenen Wochen viel mit dicken Männern. Ich bin einer. Einer von sehr, sehr vielen. Zwei Drittel der Männer in Deutschland sind laut Robert Koch-Institut übergewichtig. Ein Viertel hat einen BMI von mehr als 30 und gilt damit als adipös. Zum Vergleich: Unter den Frauen ist gut die Hälfte übergewichtig und ebenfalls ein Viertel adipös.
Ich wollte wissen, wie es anderen Männern mit ihrem Körper geht. Denn während immer mehr Frauen sich trauen, über ihre Erfahrungen als dicker Mensch zu reden, bleiben Männer meistens stumm.
Ein Hauptanliegen meiner Umfrage war, von Betroffenen Erlebnisberichte zu bekommen, in denen sie beschreiben, wo und wie sie wegen ihres Gewichts unangenehme Erfahrungen gemacht hatten. Nur 23 Prozent der unzufriedenen Teilnehmer wollten sich dazu äußern. Nun könnte man sagen: Ja, klar, es werden halt nur 23 Prozent diskriminiert! Doch diejenigen, die darüber schrieben, hielten sich auffällig kurz.
Mein erster Gedanke war: „Männer reden nicht gern darüber, wenn sie ausgegrenzt werden. Sie wollen nicht.“ Mein zweiter war eine Vermutung: „Vielleicht können sie gar nicht darüber sprechen!“ Der erste unterstellte Männern eine gewisse Verweigerungshaltung, die mit dem Klischee einhergeht, dass sie nun mal nicht gern über ihre Gefühle reden. Der zweite war wohlwollender.
Gegen Gewichtsdiskriminierung gibt es keine Gesetze
Es gibt zwei Arten von Benachteiligung: die strukturelle Diskriminierung und die soziale Ausgrenzung. Natalie Rosenke ist Vorsitzende der „Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung“. Der Antidiskriminierungsverband will vor allem die strukturelle Benachteiligung dicker Menschen beenden. Noch muss er aber vor allem darüber aufklären, dass es diese Diskriminierung überhaupt gibt und wie sie aussieht. „In Deutschland ist Gewichtsdiskriminierung noch ein sehr wenig beleuchtetes Thema“, sagt Natalie Rosenke.
Das hat auch damit zu tun, dass Gewicht nicht als Diskriminierungsmerkmal im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, kurz AGG, aufgeführt ist. Das sei aber wichtig, damit dicke Menschen, anhand ihres Gewichts diskriminiert werden, eine rechtliche Grundlage haben, sich zu wehren, so Rosenke. Um Gewichtsdiskriminierung im AGG zu verankern, kämpft die Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung seit 2017 mit der Kampagne „AGG mit Gewicht“. „Wir halten Vorträge bei Parteien, geben Impulse für Anträge – und werden im Herbst diesen Jahres versuchen, auf den Landesparteitagen mit einem Stand präsent zu sein“, so Rosenke.
Vorhaben dieser Art scheitern, so Rosenke, auf Bundesebene in der Regel unter anderem an der CDU und FDP. Diese würden stets vor einer großen Klagewelle warnen. Rosenke sagt: „Diese Sorge ist allerdings unberechtigt. Denn bei der Einführung des AGGs hat es auch keine Klagewelle gegeben.“
Wie dicke Menschen diskriminiert werden, sah die Öffentlichkeit im Sommer 2020, als ein Cuxhavener Hotel auf seiner Website vermerkte, dass die Möbel nur für Menschen bis 130 Kilo geeignet seien. Auf die Diskriminierung angesprochen, sagte die Besitzerin dann auch noch im Lokalfernsehen, dass sie es „persönlich diskriminierend“ finde, dicke Menschen zu sehen.
Weniger offensichtliche Fälle dokumentiert ein Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes: In einer repräsentativen Befragung wurden Diskriminierungserfahrungen und -gründe erhoben. Dort schildern Betroffene, dass sie zu Bewerbungsgesprächen nicht eingeladen werden, wenn auf dem Bild ihr Gewicht zu erkennen ist. Sie berichten, dass sie Stellen nicht bekommen haben, weil sie mit ihrem Gewicht dafür nicht geeignet seien – obwohl es um eine Bürotätigkeit ging. Außerdem wird dicken Menschen häufig Faulheit und Disziplinlosigkeit zugeschrieben und Ärzte nehmen Beschwerden weniger ernst.
Und obwohl Experten vor allem die Umwelt für immer mehr stark übergewichtige Menschen verantwortlich machen, glauben die meisten Menschen wer dick ist, ist selbst daran schuld und sollte etwaige Behandlungskosten auch selbst tragen.
Männer sind bei Gewichtsdiskriminierung weniger sichtbar als Frauen
Gegen all das regt sich Widerstand. Politisch, zum Beispiel durch Natalie Rosenke, aber auch gesellschaftlich. Schon 1969 gründete sich in den USA das „Fat Acceptance Movement“, aber richtig groß wurde der Kampf gegen unrealistische und diskriminierende Schönheitsideale erst durch die sozialen Netzwerke und die Body-Positivity-Bewegung.
Frauen berichten, wie sie das Wort „dick“ für sich zu einem positiven gemacht haben. Sie zeigen auf Instagram ihre Körper, so wie sie sind. Und schreiben darüber, was sie als dicke Frauen erleben. Es gibt dicke Sängerinnen, wie Superstar Lizzo, dicke Schauspielerinnen, wie Melissa McCarthy, die sich mühevoll erkämpft hat, nicht immer die dicke lustige Freundin zu spielen, oder auch die deutsche Autorin Melody Michelberger, die sich für Body Positivity stark macht. Aber: Es sind fast immer Frauen.
Dicke Männer sind selten sichtbar und noch seltener reden sie über ihren Körper und die Erfahrungen, die sie durch ihn machen.
Natalie Rosenke kennt das Problem. Ihre Erklärung: Dadurch, dass sich Frauen über die feministische Bewegung schon länger mit der Wahrnehmung von Körpern auseinandersetzen, sei es für sie leichter, sich für Gewichtsdiskriminierung zu sensibilisieren. Auch Betroffene, die sich an den Verein wenden, sind mehrheitlich Frauen.
Männer seien bei diesem Thema weniger sichtbar als Frauen, denn: „Um den Körper tanzen mehrere Industrien: die Diät-, Fitness- und Schönheitsindustrien.“ Einige dieser Industrien seien, so Rosenke, in ihrer Werbung sehr auf Frauen fokussiert. Und deshalb beginne auch bei den Frauen das Sich-Wehren gegen den Einfluss dieser Industrien.
Männer haben bei Übergewicht ein höheres Sterberisiko als Frauen
Gesundheitlich sieht es für übergewichtige Männer deutlich schlechter aus als für Frauen: Die Stiftung Gesundheitswissen berechnet, wie sich das Risiko, in den nächsten 15 Jahren zu versterben, nach Gewicht verändert. Bei einem BMI von mehr als 40 ist es wahrscheinlich, dass zwölf Prozent der Frauen sterben und 45 Prozent der Männer. Und mehr als zwei Drittel der Menschen, die sich wegen Adipositas behandeln lassen, sind Frauen.
Vielleicht ist der Leidensdruck der Männer nicht so groß wie der der Frauen. Vielleicht sehen sie kein Problem, wenn sie in den Spiegel gucken, vielleicht haben sie keins im Alltag. Dann lese ich alle Erfahrungsberichte aus meiner Umfrage durch.
Michael, 41, beschreibt einen lange aufgeschobenen Zahnarztbesuch. Nach der Besprechung des Behandlungsplans wollte Michael schon gehen, als die Ärztin nochmal mit ihm reden wollte. Sie müsse ihn nach seinem Gewicht fragen. „Als ich das nannte, eröffnete sie mir, dass sie mich nicht behandeln könne, da der Stuhl für mich nicht zugelassen sei.“ Nur mit Diskussionen konnte Michael erreichen, dass zumindest seine akuten Schmerzen behandelt wurden. Seither traute er sich in keine andere Praxis.
Roman, 41, fühlt sich zu dick. Er schrieb, beim Dating habe er mal sein Shirt ausgezogen und die andere Person habe dann genervt reagiert. Sie sagte, sie hoffe, „ich hätte keine Probleme mit meinem Körper, weil sie jetzt gern keinen von Komplexen beeinflussten Sex mit angezogener Handbremse haben wollen würde.“
Jens, 32, teilte mir mit, jedes Umziehen im Sportunterricht hätte nur daraus bestanden, dass er nur in der hintersten Ecke sein Shirt wechseln konnte. Einmal wurden seine Klamotten geklaut und aus dem Fenster geworfen. „Ich musste aus der Sporthalle und sie aus dem Gebüsch pflücken. Ich war daraufhin zwei Wochen nicht in der Schule.“
Auch, wenn kaum jemand darüber spricht, werden Männer ständig wegen ihres Gewichtes bewertet. Peter Altmaier wurde in seiner Karriere immer wieder mit Witzen konfrontiert, die sein Äußeres kommentierten. Die Gewichtszunahme des Profifußballer Romelu Lukaku ist dem Onlineportal des Fernsehsenders Sport1 einen eigenen Artikel wert. Und als Schauspieler Martin Lawrence 2019 in „Bad Boys 3“ nicht so trainiert aussah, erntete er von seinen Fans Spott und Hohn.
Es gibt kaum Studien über die Diskriminierung hochgewichtiger Männer
Ich rufe Friedrich Schorb an. Er ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter an der Universität Bremen und forscht zur gesellschaftlichen Wahrnehmung von Menschen mit Übergewicht. Was weiß die Wissenschaft über männliche Gewichtsdiskriminierung? „Es gibt Studien über Gewichtsdiskriminierung, in denen nach Geschlecht differenziert wird – allerdings geht es darin meistens um das weibliche Geschlecht.“ Die Studienlage zur Diskriminierung von hochgewichtigen Männern sei dünn, beziehungsweise gar nicht vorhanden.
Immer noch sei die Diskriminierung dicker Männer ein blinder Fleck. Es werde so gut wie gar nicht darüber gesprochen – und das führe zu einem Vakuum, das vor allem rechte Bewegungen füllen würden. Mit Behauptungen wie: Männer müssen wieder zu richtigen Männern erzogen werden, so Schorb. „Das ist sozusagen die Back-to-the-Roots-Rhetorik der Rechten.“
Es gibt immerhin Studien zu dem, was dicke Kinder und Jugendliche erleben. Eine italienische Studie hat herausgefunden, dass Kinder mit starkem Übergewicht besonders häufig in der Doppelrolle von Täter und Opfer sind, wenn es um Mobbing geht. Übergewicht ist einer der häufigsten Gründe, in der Schule gemobbt zu werden.
Dass Männer genauso körperliche Schönheitsideale haben, zeigt eine Studie der Universität Osnabrück. Männern und Frauen wurden Bilder von verschiedenen Körpern gezeigt und sie sollten diese Körper bewerten. In einer zweiten Runde wurde das Gesicht des jeweiligen Probanden auf den Körper montiert. Das Ergebnis: Männer bewerteten einen athletischen Körper am positivsten. Doch während Frauen mit fremden Körpern fairer waren und sich selbst kritischer betrachteten, bewerteten Männer ihren eigenen Körper besser.
Männer können nicht über Gewichtsdiskriminierung sprechen
Es ist kein Wunder, dass Männer nicht darüber sprechen, wenn sie wegen ihres Gewichtes diskriminiert werden. Sie sprechen ja meist noch nicht einmal über ihr Gewicht selbst. Und bis Gewichtsdiskriminierung nicht im Recht verankert ist, wird es unmöglich bleiben, hier nennenswerte Fortschritte zu machen.
Ich glaube heute mehr denn je: Es liegt nicht am Willen, Männer können nicht über erlebte Gewichtsdiskriminierung sprechen. Obwohl sie genau das erfahren. Wenn du kein Wort für ein Problem hast, kannst du das Problem nicht benennen. Und wenn du ein Problem nicht benennen kannst, kannst du es auch nicht lösen.
Redaktion: Thembi Wolf und Julia Kopatzki, Bildredaktion: Martin Gommel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert