Ich kämpfe seit Jahren mit einer Zahl. Meist ist sie zu hoch und egal, was ich tue, um sie zu verkleinern: Sie wächst. Leider verändern sich meine Gefühle mit der Zahl. Unter 100 fühle ich mich gut, ab 110 bekomme ich ein schlechtes Gewissen und über 120 sinkt mein Selbstwertgefühl.
Die Zahl ist mein Körpergewicht. Ich erschrak, als ich mich 2010 zum ersten Mal in meinem Leben freiwillig auf eine Waage stellte. Als junger Mann hatte ich nie mit Übergewicht zu kämpfen. Bis ich fast 30 war, hatte ich keinen Grund, eine Waage zu kaufen. Dann bekam ich im selben Jahr zum ersten Mal Antidepressiva verschrieben, als eine der Nebenwirkungen war im Beipackzettel „Gewichtszunahme“ aufgeführt. Nun zeigte die neue Waage 120 Kilogramm. Fuck.
Ich war fett. Ich fühlte mich nicht mehr zuhause in meinem Körper. Noch nie hatte ich geglaubt, besonders schön zu sein. Aber mich fett zu fühlen, war neu.
Nach diesem Tag schaute ich genauer hin, wenn ich mich im Spiegel sah. Mein Gesicht sah aufgeblasen aus, meine Wangen viel zu dick. „Jetzt hast du einen Bierbauch“, dachte ich, dabei trank ich kaum Alkohol. Niemals hätte ich es laut ausgesprochen, aber ich fand mich wirklich hässlich.
Ich weiß, dass mir das Kreisen um mein eigenes Gewicht nicht guttut. Und ich will lernen, ein anderes Gefühl zu meinem Körper zu bekommen. Als dicker Mann ist die Suche nach einer Haltung zum eigenen Körper aber gar nicht so einfach, denn oft sind es in Body-Positivity-Debatten Frauen, die zu Wort kommen.
Etwa 61 Prozent der Männer in Deutschland sind übergewichtig, schreibt das Statistische Bundesamt. Trotzdem: In meinem Kopf ist ein dicker Bauch nicht männlich. Ich weiß, dass Männlichkeit ein kulturelles Konstrukt ist und das kann auch anders definiert werden. Trotzdem fühle ich nun einmal, dass ich mit breiten Schultern, einer schönen Brustmuskulatur und Waschbrettbauch männlicher und attraktiver wäre.
Ich hörte auf zu essen
Nachdem ich von der Waage gestiegen war, begann ich sofort eine Diät. Ich verzichtete auf die Haribos, die ich beim Arbeiten am Computer aß, und kaufte mir keine Snickers und keine Cola mehr, die ich gerne auf meinen Fototouren durch den Schwarzwald verdrückte. Auf Familienfesten sagte ich „Nein“ zu Bienenstich und Erdbeertorte, und die Frühstücksmarmelade war auch gestrichen.
Ich aß nur noch fettarmen Käse und Knäckebrot, unterließ das Essen nach 18 Uhr und hörte den „Abnehmen-Podcast“. Ein Ehepaar sprach darin über die vielen Möglichkeiten, sich selbst spärlich zu ernähren und wie wichtig es sei, Wasser zu trinken, um den Hungerimpuls zu unterdrücken.
Ich meldete mich in einem Fitnessstudio an, konnte mich aber nur mühsam aufraffen. So quälte ich mich mit Kurzhanteln und Bauchmuskelübungen und hatte keine Ahnung, was das bringen würde. Nach drei Besuchen kam ich nicht mehr wieder. Den Vertrag kündigte ich desillusioniert ein halbes Jahr später.
Stattdessen hörte ich fast ganz auf zu essen. Ich hatte jeden Tag mehrmals Hunger und unternahm: nichts. Ich hielt das Hungergefühl aus, in der Hoffnung, wieder ein paar Gramm zu verlieren. Wenn ich abends Freund:innen besuchte, verneinte ich alle netten Angebote. Keine Kekse, keine Chips, keine selbstgebackenen Muffins. Eine Freundin sagte: „Wow, Martin. Ich schaffe es ja nicht einmal, auf meine Schokolade zu verzichten.“ Ich war stolz auf meine Selbstdisziplin und hart und unnachgiebig zu mir selbst.
Wer gesund bleiben will, sollte im Monat nicht mehr als ein oder zwei Kilogramm abnehmen, schreiben Männermagazine und Diätratgeber. Ich wollte mehr. Jeden Tag stellte ich mich auf die Waage und trug das Ergebnis in eine Liste ein. In den ersten Wochen verlor ich schnell sehr viel Gewicht. Nach zwei Monaten erreichte ich ein Plateau. Doch ich blieb ich bei meinem harten Kurs und zwang damit meinen Körper, weiter abzunehmen. Binnen eines halben Jahres verlor ich 30 Kilo.
Ich schaute in den Spiegel und war stolz auf mich: Endlich passte ich wieder in engere Hosen, die längst auf dem Stapel für die Kleidersammlung gelandet waren. Ich kaufte mir ein Locheisen, mit dem ich neue Löcher in meinen Gürtel stanzte. Ich erinnere mich an ein Foto aus dieser Zeit, das meine damalige Frau auf einem Spaziergang von mir machte. Man konnte meine Wangenknochen sehen und meine Beine sahen so schön schmal aus. So gefiel ich mir besser – und ich fühlte mich wieder mehr wie ein Mann.
Mein Leben ist ein Jojo-Effekt
Dann kam der Jojo-Effekt. In jedem Diätratgeber, jeder Lifestyle-Zeitschrift wird davor gewarnt. Statt Fettzellen baut der Körper bei einer Diät Eiweiße und Kohlenhydrate ab, ein Schutzmechanismus für Hungerphasen. Die Fettgewebezellen werden beim Abnehmen nur geleert und danach schnell wieder aufgefüllt. Man wird wieder dick.
Forscher:innen der Universität Kopenhagen haben ihn schon 2010 verstanden und genau beschrieben, was man essen muss, um den Jojo-Effekt zu vermeiden: morgens Gemüse-Sticks und fettarmen Käse, mittags Makrele in Tomatensauce und abends Avocado-Salat mit Fetakäse. Dazu Wasser oder fettarme Milch. Man könnte meinen, dass der Jojo-Effekt leicht zu kontrollieren ist, wenn man ihn erwartet hat, aber das stimmt nicht. Ich dachte permanent an saure Haribo-Zungen und Burger mit Pommes und hatte keine Kraftreserven mehr, weiter zu hungern.
Ich gab mich geschlagen, stellte die Waage in die Rumpelkammer.
Seither ist mein Leben ein einziger Jojo-Effekt. Ich nehme ab, reiße mich zusammen, und dann nehme ich wieder zu. Wenn ich schlank und durchtrainiert in der Stadt unterwegs bin, fühle ich mich gut. Mit dickem Bauch hingegen trage ich nur schwarze Kleidung, um das Fett zu kaschieren.
Gerade bin ich wieder am „Ich wiege zu viel“-Ende angekommen: ich schätze 130 Kilo. Auf die Waage stelle ich mich seit Monaten nicht mehr, denn ich will nicht jeden Morgen enttäuscht in den Tag starten. Meine Traumzahl ist die 90.
Wenn ich in den Spiegel sehe, dann gefällt mir der Anblick meines zu dicken Bauches und meiner breiten Oberschenkel nicht. Ich finde das weder attraktiv noch sexy. Mein Körper kommt mir defizitär vor, weil er so groß ist.
Ich versuche, ein guter, fleißiger und verantwortungsbewusster Martin zu sein. 130 Kilo bedeuten: Ich habe mich schon wieder gehen lassen und mich ungesund ernährt. Ich war schlecht, faul und nachlässig. 130 Kilo bedeuten: Ich habe die Prüfung des Lebens nicht bestanden. Setzen, 6.
Die Zahl kontrolliert meine Gefühle. Ich will lernen, mich von ihr freizumachen. Dafür muss ich verstehen, wie sie so eine Macht über mich erlangen konnte.
Wie mich David Hasselhoff und Spider-Man beeinflussten
Ich war nie ein dickes Kind und doch muss meine Kindheit mein Bild von männlichen Körpern geprägt haben. Ich muss sieben oder acht gewesen sein, denn ich erinnere mich an den staubigen Geruch des Speichers, wo mein zehn Jahre älterer Cousin Marvel-Comics lagerte. Er hatte mir erlaubt, dort oben rumzustöbern und so stieß ich auf einen großen Stapel Spider-Man, Wolverine- und Hulk-Heftchen, von denen ich bei jedem Besuch ein paar mit nach Hause nehmen durfte.
Ich verschlang die Actiongeschichten der Superhelden, denn sie waren viel spannender als meine trockenen, bilderlosen Bücher wie „Die unendliche Geschichte“. Mein liebster Held war Spider-Man.
Der rotblaue Superheldenanzug und seine Fähigkeit, mit gesprühter Netzflüssigkeit durch New York zu fliegen, beeindruckten mich. Spiderman war gelenkig, athletisch und hatte einen Körper wie Ben Johnson, einer der besten 100-Meter-Sprinter der Achtzigerjahre.
Alle Superhelden des Marvel-Universums hatten perfekte Körper. Hulk, Wolverine, die X-Men und die Fantastischen Vier waren vor allem muskulös. Spider-Man war grazil, das gefiel mir besonders.
Wie viele andere Kids las ich die Bravo, aber nur wegen der Poster von David Hasselhoff, den ich aus der Serie Baywatch kannte und auf dessen Auftritte als Sänger bei „Wetten, dass..?“ ich hinfieberte.
Hasselhoff strahlte etwas aus, das mich in seinen Bann zog. Klar, er war ein Held, der Menschen vor dem Ertrinken rettete. Aber ich bewunderte auch seinen Körper. Kein Muskelprotz, aber schlank und durchtrainiert.
Ich hatte niemals, auch nicht als Jugendlicher, das Ziel, einen besonders muskulösen Körper zu haben. Ich spielte Handball im Verein, trainierte meistens dreimal in der Woche und hatte in Sport eine Eins.
Mit acht Jahren wollte ich sein, wie Hasselhoff und Spider-Man, daran erinnere ich mich. Ich wollte mutig und stark sein, schnell und edel und Superkräfte besitzen. Ich erinnere mich nicht daran, dass ich als Junge Körper wie ihre haben wollte. Aber sie scheinen mein Bild vom idealen männlichen Körper geprägt zu haben.
Als erwachsener Mann habe ich als Erzieher in Kitas gearbeitet und die Körper der Helden meiner Kindheit wieder erkannt. Alle Figuren, mit denen die kleinen Jungs spielten, hatten einen Fitnessstudio-Body. Diese Erwartung an Männlichkeit tragen sie bis ins Erwachsenenalter mit sich herum. Und werden dann, wenn sie dem Ideal nicht entsprechen, unzufrieden, so wie ich.
Mein Insta-Körper und ich
Ich frage mich: Geht es anderen dicken Männern wie mir? Suchen sie einen Umgang mit ihren Körpern? Wenn ich auf Instagram dicke Menschen suche, dann finde ich vorwiegend Frauen. Sie zeigen sich aus allen möglichen Perspektiven, tragen enge Kleider und lächeln auf nahezu perfekten Fotos in die Kamera. Diese Frauen sind, wenn man mich fragt, sehr, sehr mutig. Und viele von ihnen bekommen eine Menge Hass in den Kommentarspalten zu spüren.
Sie machen das Gegenteil von dem, was gesellschaftlich von Frauen erwartet wird: Sie verstecken ihre dicken Bäuche und Oberschenkel nicht hinter weiten Kleidern oder Hosen. Sie zeigen sich ohne Scham, dafür mit Stolz. Und hinterfragen nicht nur, was als schön, sondern auch, was in unserer Gesellschaft als gesund gilt. Negative Gedanken über den eigenen Körper machen krank und treiben in Essstörungen, schreibt die Aktivistin @schönwild auf Instagram. Gesund sei es, sich zu akzeptieren.
Sie hat ja recht, denke ich. Aber was, wenn ich mich trotzdem nicht akzeptieren kann? Wenn ich meinen fehlerhaften Körper sehe, ist mir nicht zum Lächeln zumute wie den schönen Aktivistinnen. Die Vorstellung, mich in Badehose zu fotografieren und meinen Bauch in die Kamera zu halten, löst bei mir Übelkeit aus. Meine Selfies schneide ich immer über dem Bauch ab. Meine dicken Stellen sind wie Rechtschreibfehler. Ich kann sie stehen lassen, aber ich sehe sie trotzdem jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schaue.
Erzwungene Liebe
Geht es um die Body-Positivity-Bewegung, wird oft über Frauen gesprochen. Einer ihrer Väter ist ein Mann: Der 23-jährige Radiomoderator Steve Post veranstaltete 1967 im New Yorker Central Park ein sogenanntes Fat-in: 500 Menschen versammelten sich, um gegen die Diskriminierung von Dicken zu protestieren.
Sogar die New York Times berichtete über die kleine Demo. Post beschrieb das Publikum als „kleine dicke Menschen, große dicke Menschen und Dutzende von schlanken Menschen, die sagten, sie wünschten, sie wären dick.“ Auf Plakate hatten sie „Fat Power“ und „Think fat“ geschrieben.
In den Jahrzehnten darauf entwickelte sich in den USA die Fat-Acceptance-Bewegung, ein Vorläufer der heutigen Body-Positivity-Bewegung. Und Männer gerieten immer mehr in den Hintergrund.
Im April 2021 sagte Claus Fleißner, ein Plus-Size-Model, Männer hätten es immer noch schwer, weil sie tendenziell nicht über ihre Gefühle sprechen würden. Deshalb würde es ihnen so schwerfallen zu sagen: „Ich bin dick, aber ich gefalle mir und bin völlig zufrieden.“
Es mag sein, dass Männer tendenziell nicht über ihre Gefühle sprechen. Was ich über meinen dicken Körper fühle, ist aber fern von Stolz oder Zufriedenheit. Es sind Unzufriedenheit, Unsicherheit und Frust. Ich kann meinen Körper nicht lieben. Genauso, wie ich eine Person nicht lieben kann, die ich nicht schön finde. Muss ich es trotzdem versuchen?
Was ich schön finde, hat nicht immer rationale Gründe
Ich bin seit 17 Jahren Fotograf. Nur selten fotografiere ich Blumen. Ich finde sie einfach nicht besonders schön. Ich habe lieber Menschen mit Hüten, urbane Brücken, abgetretene Treppen oder eine vollgestopfte U-Bahn vor der Linse.
Wie sinnvoll wäre es, wenn ich jetzt dekonstruieren würde, welche kulturellen Einflüsse mich dazu gebracht haben, weiße Rosen und Gänseblümchen ein bisschen langweilig zu finden? Was würde es bringen, wenn ich permanent versuchen würde, Tulpen, so doof wie ich sie finde, zu akzeptieren, ja, zu lieben? Wahrscheinlich würde ich dann beginnen, sie erst richtig zu hassen.
Und selbst wenn ich mich schön finden würde, wäre mein Leben als dicker Mann doch noch immer nicht einfacher. Denn ich mache mir Sorgen um meine Gesundheit.
Heute gilt als übergewichtig, wer einen Body Mass Index von über 25 hat. Fünf Punkte darüber, ab 30, sprechen wir von Adipositas. Und die hat gesundheitliche Konsequenzen für Betroffene, die sehr einschneidend sein können. Eine verkürzte Lebenserwartung und Krankheiten. Diabetes mellitus Typ 2, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Arteriosklerose, Herzinfarkt oder Schlaganfall.
Daran denke ich, wenn mir empfohlen wird, mich einfach so zu lieben und zu akzeptieren wie ich bin. Ich habe Angst davor, meinem Körper zu schaden und selbst schuld daran zu sein, früher zu sterben, als ich eigentlich müsste.
Ich möchte lange und gesund leben. Und vielleicht ist doch auch das eine Form der Selbstliebe: zu meinem Hausarzt zu gehen, meinen BMI bestimmen zu lassen und herauszufinden, ob ich Adipositas habe. Mich um meinen Körper zu kümmern, indem ich mein Krankheits- und Sterberisiko senke. Schaue ich in den Spiegel, sähe ich dann bestimmt keinen schönen Mann. Aber einen gesunden.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion und Fotos: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert