Kennt ihr Stefanie Stahl? Sie ist Psychologin, Podcasterin und Autorin vieler Spiegel-Dauer-Bestseller. Das bekannteste: „Das Kind in dir muss Heimat finden“. Natürlich kennt ihr Stefanie Stahl. Sie ist vermutlich die erfolgreichste Psychotherapeutin Deutschlands. Und da fängt das Problem schon an: Erfolg und Therapie? Da bin ich erstmal skeptisch.
Als meine Chefredakteurin mich fragte, ob ich ihre Psychotainment-Tour besuchen wolle, musste ich erstmal lachen. Gestern Abend lachte ich nicht mehr. Da saß ich nämlich in der vierten Reihe im Babylon: Stefanie Stahl – „Normalgestört“.
Um 19.30 Uhr stehe ich vor dem riesigen Kino im Berliner Ortsteil Mitte, starre auf die großen Lettern und verstehe nicht, was dieser Titel eigentlich sagen soll. Normalgestört – nennt Stefanie Stahl so ihre Klient:innen? Oder sich selbst? Ich seufze kurz, löse meine Karte ein und betrete das Foyer.
Was mir sofort auffällt, ist das Publikum. Gutaussehende Leute, hübsch gekleidet, fein rasierte Bärte, durchsichtige Brillengestelle, ein paar Masken. Ich betrete den Saal und suche umständlich meinen Platz. Nach zehn Minuten sitze ich tatsächlich – und links von mir tuschelt ein Pärchen. „Na dann wollen wir mal sehen, was die Steffi heute wieder zaubert.“ Die Steffi, damit ist wohl Stefanie Stahl gemeint und wer so etwas sagt, kennt sie wohl persönlich. Jetzt will ich auch wissen, ob die Steffi zaubern kann.
Der Saal ist voll, ich schätze 450 bis 500 Leute. Erst jetzt fällt mir auf: Alle sind weiß. Und dann, kurz nach acht, läuft ein junger Mensch mit weißen Sneakern und Golduhr auf die Bühne, nimmt das Mikrofon in die Hand und begrüßt die Gäste. Es wird geklatscht und gejauchzt und ich bin mir sicher: Das ist nicht die Steffi.
Das ist Lukas Klaschinski und ich warte nur darauf, dass meine Nachbarn ihn Luki oder Lucky Luke nennen. Klaschinski lässt einen Therapeutenwitz nach dem Nächsten krachen, auf die das Publikum mit lautem Gelächter reagiert, aber die mich irgendwie nicht so richtig catchen.
„Als Psychologe wird man doch immer gefragt, ob man im Studium die eigenen Probleme lösen wollte. Oder sowas wie ‚Analysierst du mich jetzt?‘“ Die Menge lacht. Vielleicht, weil viele von ihnen selbst Psycholog:innen sind.
Aber ich frage mich: Muss man die Menge so auf einen Hauptgast heiß machen, wenn der Hauptgast eine Therapeutin ist? Man stelle sich vor, das wäre so, wenn man zur Therapie geht. Die Sprechstundenhilfe heizt ein, und dann flaniert unter Applaus die Star-Therapeutin herein.
Du liest eine Ausgabe meines Newsletters über psychische Gesundheit, „Die Wochendosis“. Wenn du keinen Text von mir verpassen willst, kannst du dich hier kostenlos anmelden.
Noch sei Stefanie Stahl ja Backstage, sagt Klaschinski, und schreibe fleißig an ihrem nächsten Buch. Anderthalb Jahre würde sowas dauern, aber Stahl sei wirklich sehr fleißig. Aus irgendeinem Grund muss Klaschinski auch erwähnen, wie viel bei Stahl eine Therapiestunde kostet: 500 Euro. Die Menge reagiert verhalten. Aber ich huste. Eine Therapiestunde kostet nach der Gebührenordnung für Psychotherapeut:innen derzeit 100,55 Euro für 50 Minuten. Wie kommt sie auf 500 Euro? Ich schätze: Ihre Leistungen sind Privatleistungen. Ich könnte mir das jedenfalls nicht leisten.
Therapiestunden können von Therapeut:innen über eine Krankenkasse oder privat abgerechnet werden. Um über eine Krankenkasse abrechnen zu können, brauchen Therapeut:innen eine Kassenzulassung. Diese Zulassungen sind aufgrund der sogenannten Bedarfsplanung nur begrenzt verfügbar. Wer keine Zulassung hat, rechnet Therapiesitzungen als Privatleistung mit seinen Patient:innen ab.
Die Kosten werden in beiden Fällen von der Bundespsychotherapeutenkammer, dem Verband der Privaten Krankenversicherung und den Beihilfestellen von Bund und Ländern empfohlen. Es gilt die Gebührenordnung für Psychotherapeut:innen.
Darüber hinaus ist es möglich, sogenannte Coachings anzubieten. Coachings haben keinen medizinischen Anspruch, sondern sind als Beratungsgespräche zu verstehen. Die Kosten für psychologische Beratungen und Coachings werden von den Krankenkassen grundsätzlich nicht übernommen. Diese Leistungen können nur Selbstzahler in Anspruch nehmen. Die Preise werden vom Anbietenden selbst bestimmt.
Was für ein Zirkus. Während ich über den Leoparden auf der Bühne staune – kein echter, einer aus Porzellan, der mich an die Villa eines reichen Schulfreunds, dessen Eltern in ihrem mega großen Wohnzimmer so einen stehen hatten, erinnert – gibt Luki die „Psychobox“ rum.
Ein in Glitzer verpackter Schuhkarton wird durch die Menge gereicht. Auf den Plätzen liegen weiße Blätter, die dafür gedacht sind, dass mensch ein persönliches Problem draufschreibt, einwirft und Stahl später darauf antwortet.
Und da tritt sie auch schon auf die Bühne, unter tosendem Applaus, lachend und gut gelaunt. Hurra, hurra, die Steffi ist da.
Stahl wirkt entspannt, die Menge gebannt. Und dann holt sie aus und sagt Weisheiten wie „psychisch sind wir im Prinzip alle gleich“. In den nächsten zwanzig Minuten hält sie einen Vortrag über die vier psychischen Grundbedürfnisse, die jeder Mensch hat. Bindung und Zugehörigkeit; Autonomie und Kontrolle; Selbstwerterhöhung; Lustbefriedigung und Unlustvermeidung.
Stahl erklärt das sehr ausführlich und kommt immer wieder darauf zurück, dass alle psychischen Probleme, die ein Mensch haben kann, in der Kindheit entstehen, wenn „Papa und Mama“ nicht die Bedürfnisse des Kindes erfüllen. Mama und Papa? Ich sehe keine Kinder im Publikum. Irgendwie finde ich diese Verkindlichung ein bisschen albern.
Nun lädt Klaschinski Leute ein, mit persönlichen Problemen auf die Bühne zu kommen. Linda traut sich. Sie habe das Problem, sich für andere Menschen überverantwortlich zu fühlen. Sie denke immerzu, dass sie gebraucht werden will und nützlich sein muss.
Stahl unterbricht Linda und hat sofort die passenden Antworten. Linda habe das Gefühl sicher schon bei ihren Eltern gehabt und ich schalte innerlich ab. Ich höre noch, Linda solle die Verantwortung an ihre Eltern zurückgeben und manchmal müsse man sich eingestehen, dass die eigenen Eltern „wirklich Mist“ gebaut haben.
Zwischendurch sagt Stahl: „Und bevor einzelne Psychotherapeuten jetzt die Stirn runzeln, das hier ist natürlich keine Psychotherapie, sondern nur ein Coaching.“ Immerhin muss Linda keine 500 Euro bezahlen.
Nach einigen Minuten fällt mir auf, dass Stahl keine Fragen stellt, sondern ununterbrochen redet. Linda hatte etwa 30 Sekunden Redeanteil, um ihr Problem zu schildern, woraufhin Stahl zehn bis 15 Minuten mal dem Publikum, mal Linda die Gesetze des Lebens erklärt. Linda kommt noch einmal kurz zu Wort, aber nur, um eine Frage von Stahl zu beantworten.
In mir macht sich Frust breit. Während Luki um Applaus für Linda bittet und die Psychobox auf der Bühne ankommt, packe ich vorsichtshalber schon mal meine Sachen. Klaschinski liest die Fragen vor, Stahl hat auf jede eine Antwort parat.
Wie soll man mit Social Media umgehen? Einfach nicht so viel drauf abhängen. „Ich empfehle sowieso, immer mal wieder Realtherapie zu machen. Jeder sollte einmal an der Strandpromenade von Teneriffa entlang gehen“, sagt sie. Da sei man sofort von allen Minderwertigkeitskomplexen geheilt.
Das Publikum lacht. Ich nicht. Stefanie Stahl hat eine Ferienwohnung auf Teneriffa. Ich habe keine Ferienwohnung. Nirgendwo. Ich spüre in mich hinein und merke, dass ich mich selten so sehr ausgeschlossen gefühlt habe, wie an diesem Abend.
Warum ich ein Problem mit Stefanie Stahls Event habe
Ich bin seit Jahren in Therapie. Das ist eine ernste Angelegenheit, es ist harte Arbeit an sich selbst – und sollte keinen elitären, kapitalistischen Beigeschmack haben. Stefanie Stahls Ansatz, für jedes Problem in der Kindheit die Lösung zu suchen, funktioniert in einem relativ sorgenfreien Leben, wie dem des Publikums. Hier sitzen Menschen, die es sich leisten können, Montagabends ein Event zu besuchen, für das sie 30 Euro bezahlen. Menschen, die über 500 € pro Therapiestunde lachen können.
Ich finde es gut, wenn Menschen lernen, darüber nachzudenken, wie sie auf andere wirken, was sie unglücklich macht und ob ihre zwischenmenschlichen Probleme von heute etwas mit ihrer Kindheit zu tun habe. Das ist super! Es ist gut, dass Linda hier sitzt und offen sagt, was sie bedrückt und es ist ein Gewinn, dass wir heute so frei sind, auf einer Bühne darüber zu sprechen.
Ich könnte allerdings nicht da sitzen. Denn wenn ich von meiner Kindheit oder meiner erlebten Suizidalität erzählen würde, hätten viele Gäste Tränen in den Augen oder müssten vor lauter Bedrücktheit den Saal verlassen. Vielleicht bin ich einfach nicht normalgestört, sondern so richtig, denn ich habe zwei diagnostizierte Erkrankungen: Schwere Depressionen und Schlafstörungen. Ich nehme jeden Tag hochdosierte Antidepressiva, um leben zu können.
Deshalb ist dieses Format, diese Psychoshow, für mich eine Farce. Ich fühle mich weder gesehen, noch ernst genommen. Meine Krankheit hat hier keinen Platz. Nicht auf der Bühne, nicht in den Gedanken des Publikums und nicht im Weltbild von Steffi, die übrigens nicht zaubern kann. Aber das Gefühl, in einem Zirkus zu sitzen, habe ich trotzdem. Und während Klaschinski und Stahl zur nächsten Übung einladen, schnalle ich mir meinen Rucksack um und verlasse – als erster – den Saal.
Stefanie Stahl hat mit ihren Büchern und Podcasts etwas geschafft, das vor ihr wenige geschafft haben: Dass offen über psychische Gesundheit gesprochen wird. Das ist wertvoll. Aber es scheint nur für gut situierte, gebildete Menschen zu gelten – und das ist schade. Nach diesem Abend wird mir klar: Nur weil mehr Normalgestörte sich mit ihrer Psyche auseinandersetzen, werden nicht mehr „Gestörte“ geheilt. Wer wirklich krank ist, steht immer noch außen vor.
Redaktion: Lisa McMinn; Schlussredaktion: Thembi Wolf; Fotoredaktion: Philipp Sipos; Fotos: Martin Gommel; Audioversion: Christian Melchert