Seit der russische Staatspräsident Wladimir Putin der Ukraine ihre „echte Staatlichkeit“ abgesprochen hat, ist auf die Twitter die Rede von Krieg. Diskutiert wird nur noch, ob er nicht schon längst begonnen hat. Aber allen ist klar: Spätestens jetzt ist es soweit.
Ich bin im Alltag eigentlich entspannt. Selbst an die Corona-Pandemie habe ich mich gewöhnt. Aber in diesen Tagen macht sich in mir ein Gefühl breit, das ich selten habe: Angst.
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Ich las Nachrichten-Ticker und spürte, wie sehr mich die Russland-Krise verunsicherte. Wie weit wird Putin gehen? Bis zu… mir? In Gedanken sah ich Bomben auf Berlin fallen, wischte den Gedanken schnell wieder weg und schrieb diesen Tweet:
Die Situation in der Ukraine lässt mich nicht kalt. Ich bin kein supercooler Dude mit einem — no matter what — positiven Mindset, den nichts aus der Ruhe bringt. Ich habe Angst. Vor dem Krieg.
Schon beim Schreiben des Tweets fragte ich mich: Ist meine Angst angebracht?
Heute habe ich auf Instagram diesen Post gelesen. „Hast du Tipps, was die Psyche angeht?”, fragt darin ein:e Follower:in die Moderatorin und Reporterin Eva Schulz. Die postet einen Screenshot der Nachricht und gibt die Frage an ihr Publikum weiter: „Was wäre dein Tipp?”
Schulz empfiehlt, sich feste Zeit-Budgets zu nehmen, und nur in einem begrenzten Zeitfenster Nachrichten zu konsumieren. Ihr persönlich würde es auch helfen, das Gefühl aufzumalen. So weit, so gut.
Aber. Unter ihrem Post kommentiert eine Person: „Es ist auch einfach wichtig, sich nicht die Lebensfreude nehmen zu lassen.“ Eine andere empfiehlt: „Handy weg, lange Waldspaziergänge, Kinder.“
Wow. Jetzt muss ich das Handy weglegen. Haben die das wirklich geschrieben? In meinem Kopf rattert es. Ich bin irritiert. Irgendwas stimmt doch hier nicht.
In der Ukraine trainieren 130.000 Zivilisten mit Holzwaffen bei der Armee. Freiwillig. Sie machen das, um sich im Notfall verteidigen zu können. Sie machen das, um mit der Situation klarzukommen. Und wir? Wir machen Waldspaziergänge, um mit unseren Gefühlen klarzukommen. Haben wir den Schuss nicht gehört?
Die Ukrainer:innen rechnen zurzeit jeden Tag damit, dem Tod ins Auge sehen zu müssen. Und eine Deutsche sagt auf Instagram, dass es wichtig ist, sich die Lebensfreude nicht nehmen zu lassen. Bin ich der Einzige, der das schräg findet?
Natürlich ist es wichtig, dass wir unseren Gefühlen treu bleiben und uns fragen, was bestimmte Situationen mit uns machen. Wenn wir Angst haben, haben wir Angst. Dann kann man in den Wald gehen. Das ist okay. Es hilft sogar. Aber vielleicht hat sich unser Selbstverständnis von psychischer Gesundheit hier einmal zu weit gedreht: Es geht heute nicht um mich, und auch nicht um dich, sondern um die Menschen in der Ukraine.
Ich werde den Eindruck nicht los, dass wir einen Schritt zu weit gegangen sind. Es hat einen blöden Beigeschmack, wenn man sich im Angesicht des Leides anderer selbst in den Vordergrund rückt.
Mich erinnert das an die peinliche Dance-Show von David Guetta, das “Tribute to George Floyd”. Mitten im Song beginnt er eine fürchterlich kitschige Rede über den Tod Georg Floyds zu halten. Und das Publikum soll den Schmerz wegtanzen. Mir fällt da das Jugendwort 2021 ein: Cringe. Denn der Schmerz, in dem Guetta sich sonnt, gehört ihm nicht.
Es geht – jetzt gerade – nicht um dich. Jetzt gehört der Schmerz den Menschen in der Ukraine. Wir können zuhören und mitfühlen. Aber wir brauchen kein Pflaster für unsere Wunden. Wir sind nicht die Betroffenen. Wir leben im gut geschützten Deutschland. Wir brauchen unsere Unsicherheit nicht schön-mindsetten, damit wir unsere Lebensfreude happyclappy bewahren können. #selfcare.
Es gibt Momente, in denen Nabelschau nicht hilft. So einen Moment erleben wir gerade. Wir dürfen diese Krise nicht ignorieren. Aber wir dürfen uns nicht in ihren Mittelpunkt rücken. Vielleicht hilft uns das sogar, mit unserer Angst besser klarzukommen.
Redaktion: Lisa McMinn, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Esther Göbe, Audioversion: Christian Melchert