Hinweis: Dieser Artikel enthält Schilderungen von Suizidgedanken.
Ich wurde als Kind misshandelt, körperlich und psychisch. Ich wachte morgens mit Angst vor dem Täter oder der Täterin auf und ich schlief abends mit derselben Angst ein. Das Gefühl, all die Schmerzen verdient zu haben und selbst daran schuld zu sein, lässt mich bis heute nicht mehr los.
Mit zwölf Jahren wollte ich nicht mehr leben. Ich wollte dem Horror ein Ende machen. Es schien mir der einzige Weg zu entkommen. Ich war ein Kind und konnte mich nicht wehren. Ich hatte nicht die geringste Chance, gegen den erwachsenen Täter oder die Täterin.
Ich kann nicht über die Misshandlungen schreiben
Heute bin ich erwachsen und könnte mich wehren: mit meiner Tastatur.
Ich bin Reporter für psychische Gesundheit. Über mein Leben mit Depressionen habe ich ein Buch geschrieben, es trägt den Titel „Ich habe keine Lust mehr, leise zu sein“. Der Missbrauch, das habe ich mittlerweile verstanden, ist bis heute eine Hauptursache für meine Krankheit. Ich könnte meine Erinnerungen an das Trauma veröffentlichen und damit mein eigenes Schweigen brechen.
Ich könnte. Aber ich kann nicht.
Praktisch trage ich einen Maulkorb, denn ich darf den Namen der Täterin oder des Täters nicht nennen. Nicht einmal, ob es eine Frau oder ein Mann war. Ich darf nicht beschreiben, wo ich missbraucht wurde. In welchem Dorf, in welchem Haus und in welchen Räumen. Das würde Rückschlüsse auf den oder die Täter:in zulassen. Ich darf nicht schreiben, was mir passiert ist, wie oft und welche Verletzungen ich davongetragen habe.
Das liegt nicht an mir. Es geht allen Menschen so, die in ihrer Kindheit von Erwachsenen gezüchtigt, gedemütigt und bestraft wurden. Ganz gleich, ob die Taten in der katholischen Kirche, in einem reformpädagogischen Internat oder im Kinderzimmer stattfanden: Wer als Kind missbraucht wurde, kann als Erwachsene:r vor dem Problem stehen, über die Wahrheit schweigen zu müssen.
Was ist die Wahrheit?
Der Maulkorb liegt in der deutschen Gesetzgebung. Alexandra Braun ist Fachanwältin für Strafrecht und oft als Rechtsanwältin in Sexualstrafsachen als Nebenklagevertreterin tätig. „Wenn ich eine Tatsache behaupte, die sich im Nachhinein nicht beweisen lässt, dann kann ich wegen übler Nachrede angezeigt werden.“
Weil ich nicht über mich schreiben darf, sprechen wir über Karina Meier. Karina ist eine fiktive Person und wurde in ihrer Kindheit von ihrem Vater misshandelt. Karina hat einen Twitter-Account, möchte von dem Trauma berichten, das sie durch den Missbrauch erlitten hat und schreibt: „Mein Vater, Egon Meier, hat mich in meiner Kindheit missbraucht.“
Egon Meier könnte daraufhin bei der Polizei Strafanzeige wegen übler Nachrede erstatten. Auch, wenn Karinas Tweet nicht gelogen ist.
„Strafgesetzbuch und Strafprozessordnung haben einen eigenen Wahrheitsbegriff: die prozessuale Wahrheit“, sagt Anwältin Braun.
Am Ende eines Strafverfahrens gibt es ein Urteil oder einen Freispruch. Wer freigesprochen wird, ist im Sinne der Strafprozessordnung unschuldig. Wer rechtskräftig verurteilt wurde, ist schuldig.
„Das muss nicht die Wahrheit sein, im Sinne dessen, was tatsächlich passiert ist. Man kann zu Unrecht freigesprochen oder zu Unrecht verurteilt werden. Aber sobald die Entscheidung rechtskräftig ist, ist das, was im Urteil steht, die prozessuale Wahrheit“, sagt Braun.
Erst, wenn Karina ihren Vater angezeigt, die Staatsanwaltschaft ein Verfahren geführt und ein Richter ihn rechtskräftig verurteilt hat, darf sie ihren Tweet absetzen und auch den Namen des Täters nennen. Erst dann ist der Tweet die Wahrheit, auch vor dem Gesetz.
Wie lange zählt das, was passiert ist?
Ich habe nie Strafanzeige gestellt. Wie hätte das gehen sollen? Mir wäre im Traum nicht eingefallen, nach einer Tracht Prügel oder morgens nach dem Frühstück schnurstracks zur Polizei zu spazieren. Auch die Erwachsenen, die von den Misshandlungen wussten, reagierten nicht adäquat. Dabei ist es nie die Aufgabe von Kindern, sich selbst zu schützen, wie mir Frau Huxoll-von Ahn vom Kinderschutzbund im Interview sagte.
Ich war etwa achtzehn, als ich beschloss: Ich will mit meiner Vergangenheit nichts mehr zu tun haben. Schließlich war ich jetzt erwachsen, konnte rauchend in meinem roten Opel Kadett Black Metal hören. In die erste WG ziehen. Und ich tat also, als ob mich nie jemand misshandelt hätte.
Ich bin heute 41 Jahre alt, und kann nicht mehr vor Gericht ziehen. Denn die Misshandlungen sind längst verjährt. Braun sagt: „Die Misshandlung Schutzbefohlener verjährt nach zehn Jahren, beginnend mit dem 18. Lebensjahr des Opfers. Bei § 225 Abs. 3 beträgt die Verjährung 20 Jahre.“
Dieser besagt, dass der Täter die schutzbefohlene Person durch die Tat in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung oder einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung bringt. „Bei einfachem sexuellen Missbrauch sind die Taten nach zehn Jahren verjährt, bei schwerem nach 20 Jahren“, so Braun. Allerdings kann das im konkreten Fall kompliziert werden, weil es bei diesem Thema Gesetzesänderungen gab.
Was würde passieren, wenn ich trotzdem darüber schreibe?
Wagen wir ein kleines Gedankenexperiment. Was würde passieren, wenn ich trotzdem laut bin? Wenn ich schreibe, was passiert ist, um zu erklären, was es mit mir gemacht hat? Wenn ich in einem Text hier auf Krautreporter sogar den Namen de:r Täter:in nenne?
Die Anwältin Alexandra Braun überlegt kurz. Wenn der oder die Täter:in rechtliche Schritte gehen will, kann Krautreporter mit einer Unterlassungsklage dazu gezwungen werden, den Text von der Seite zu nehmen, sagt sie. Außerdem könne er oder sie mich wegen übler Nachrede anzeigen.
„Der Anzeigenerstatter könnte dann zusätzlich den Zivilrechtsweg bestreiten und eine Unterlassungsklage gegen Sie einreichen.“ Ich dürfte dann öffentlich nie wieder darüber schreiben oder sprechen, was passiert ist.
Warum das Gesetz so ist, kann auch Braun nicht erklären. „Üble Nachrede gibt es schon ewig im Strafgesetzbuch. Manchmal würden bei Streitigkeiten zu Unrecht Straftaten behauptet.“ Dennoch sei das für Geschädigte von Missbrauch nicht erklärbar, sagt Braun. „Wenn man weiß, dass man missbraucht wurde und es nicht einmal in Buchform oder Interviews veröffentlichen darf.“
Zwei missglückte Versuche
Bevor ich diesen Text schrieb, versuchte ich mich an zwei anderen. Zuerst schrieb ich einen Text, in dem ich dem oder der Täter:in eine neue Identität gab, einen neuen Namen und ein neues Geschlecht. Für die wichtigsten Orte, wo der Missbrauch stattfand, überlegte ich mir andere. Die Menschen, bei denen ich als Kind Hilfe suchte und die mir nicht halfen, bekamen neue Namen.
Als ich den Text noch einmal las, stellte ich fest, dass der oder die Täter:in wissen würde, wer gemeint ist. Und sein Umfeld könnte es ahnen.
Dann schrieb ich einen Text, in dem ich mir selbst einen anderen Namen gab. Ich beschrieb diesmal ganz genau, was passiert war. Die Orte, die Namen, die Taten. Am Ende stellte ich fest, dass vielleicht einige Menschen aus dem Text auf mich schließen könnten. Und damit auf den oder die Täter:in.
Für mich wird es keinen Frieden geben
Ich habe viele Tage damit verbracht, wütend zu sein. Ich trage einen Maulkorb, obwohl ich nur die Wahrheit sagen will. Dass mir das verwehrt wird, ist aber nur ein kleiner Teil der Katastrophe. Denn ich bin einer von unzähligen Betroffenen, die so wortwörtlich verstummen – und das schützt auch die Täter:innen.
In mir wehrt sich alles dagegen, mich damit still und heimlich abzufinden. Frieden wird es für mich nicht geben. Ich trage zwar keine Verbitterung und keinen Hass in mir, aber ich will gegen das gesellschaftliche Stigma ankämpfen.
Denn das Schweigen ist wie ein schwerer Mantel, der sich über Opfer wie mich legt. Ich weiß, wie schwer es sein kann, ihn abzulegen und in Worte zu fassen, was vor 10, 20 oder 30 Jahren passiert ist.
Ich verfolge viele Menschen aus der #mentalhealth-Blase, die sich mit psychischen Krankheiten beschäftigen. Betroffene, Psychotherapeut:innen, Ärzt:innen und Aktivist:innen.
Und ich stelle fest: Das Thema Misshandlung in der Kindheit ist beinahe unsichtbar. Äußerst selten meldet sich eine Person und sagt: „Ich wurde als Kind missbraucht.“
Wie viele haben versucht, darüber zu reden und durften nicht? Wie viele haben gehofft, Hilfe zu bekommen und wurden stillgestellt? Wie viele tragen innere Wunden mit sich herum, fühlen sich isoliert und schämen sich für ihre Vergangenheit?
Das darf so nicht bleiben. Ich wünsche mir, dass wir sprechfähig werden und uns gegenseitig zuhören. Dass wir Empathie lernen: in Familien, Schulen, Vereinen und an allen Orten, wo Kinder zu Opfern werden. Und in sozialen Medien, auf Instagram, Twitter oder Tiktok.
Ich erzähle manchmal Freund:innen, was passiert ist. Aber sie müssen mir versprechen, nichts weiterzuerzählen. Was mir übrig bleibt, ist weiter mit meinem Therapeuten über meine Kindheit zu sprechen. Denn der steht unter Schweigepflicht.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert
Das „Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen“ berät bundesweit Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Die Nummer 08000 116 016 ist rund um die Uhr erreichbar. Männer können sich per Chat oder Telefon (innerhalb der Sprechzeiten) an das „Hilfetelefon Gewalt an Männern“ wenden: 0800 1239900.
Das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch berät Betroffene – aller Geschlechter – unter 0800 22 55 530. Anzeige gegen den Täter oder die Täterin erstattest du bei der Polizei in deiner Nähe.