An dem Tag, an dem ich diesen Newsletter schreibe, zählt das Robert Koch-Institut zehn Millionen Menschen mit Atemwegsinfektionen in Deutschland.
Meine Kollegin Theresa ist eine von diesen zehn Millionen und wollte wissen: Verliert das Immunsystem die Fähigkeit, mit Krankmachern umzugehen, wenn es nicht regelmäßig trainiert wird?
Viele Leute vermuten, dass genau das während der Pandemie passiert ist. Die Maßnahmen hätten dazu geführt, dass unsere Immunsysteme jetzt zu schwach sind, weil wir zu lange keinen Kontakt zu bestimmten Erregern hatten.
Um es gleich zu sagen: Es gibt keinen Hinweis darauf, dass diese Behauptung stimmen könnte. Unser Immunsystem verliert seine Fähigkeiten zur Abwehr nicht.
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Das Immunsystem arbeitet mit mehreren Verteidigungslinien
Wir kommen schon mit einem intakten Immunsystem zur Welt. Obwohl wir im Mutterleib keinen Kontakt zu Erregern haben, sterben wir nicht, sobald wir ihnen zum ersten Mal begegnen. Auch wegen der Immunzellen, die wir von der Mutter mitbekommen: dem sogenannten Nestschutz.
Bereits als Babys haben wir also ein voll funktionsfähiges Immunsystem, es ist nur relativ unerfahren und muss dazulernen. Das Dazulernen bleibt ein Leben lang wichtig. Das heißt: Die Abwehrleistung des Immunsystems hängt auch vom Grad der Erfahrung ab. Wie genau, verstehst du, wenn du weiterliest.
Das Immunsystem ist von Anfang an in der Lage, körpereigene von körperfremden Zellen und Stoffen zu unterscheiden. Diese Fähigkeit könnte man auch als erste Verteidigungslinie bezeichnen. Sie funktioniert immer, profitiert zum Teil aber auch von Erfahrung. Diese erste Verteidigungslinie wird durch unser angeborenes Immunsystem organisiert. Dazu gehören viele verschiedene Zellen. Sie heißen zum Beispiel „Killerzelle“, „Fresszelle“ oder „Mastzelle“ und bekämpfen alles, was sie für körperfremd halten. Vorteil: Die Reaktion des Körpers auf Eindringlinge setzt schnell ein. Nachteil: Darunter leidet auch körpereigenes Gewebe, weil die Zellen mit den martialischen Namen Substanzen ausschütten, die nichts in ihrer direkten Umgebung verschonen. Deshalb zerstören sich einige der besonders aggressiven Zellen in dieser Phase der Abwehrreaktion nach einer Weile vorsichtshalber selbst.
Andere Zellen sind in dieser Phase weniger effektiv bei der Zerstörung, dafür stellen sie eine Art Steckbrief her. Dazu präsentieren sie Teile des Erregers auf ihrer Oberfläche. Mit diesem Steckbrief machen sie sich auf die Suche nach T-Zellen, die genau das richtige Werkzeug kennen, das den fremden Eindringling effektiv tötet. Hier müssen wir kurz innehalten und uns das Wunder klarmachen, das in diesem Satz steckt.
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Das Wunder ist: Dein Körper besitzt mindestens eine T-Zelle, die den Bauplan zu einem tödlichen Werkzeug hat, das genau zu dem Erreger passt, der gerade in deinem Körper wütet. Also auch zu dem, der erst in 100 Jahren entsteht. Das heißt: Auch für Sars-CoV-2 gab es bereits vor Ausbruch der Pandemie mindestens eine passende T-Zelle in deinem Körper. Sie hat aber fest geschlafen (und ist im besten Fall durch die Corona-Impfungen aktiviert worden).
Durch den Steckbrief werden also die schlafenden T-Zellen „geweckt“ und vermehren sich. T-Zellen können sich unterschiedlich spezialisieren. Ein Teil aktiviert noch mehr Fresszellen aus der ersten Verteidigungslinie, ein Teil produziert selbst zellschädigende Substanzen und ein anderer Teil aktiviert B-Zellen. B-Zellen sind die Produktionsstätten der tödlichsten Waffen. Dieser Prozess gehört zur zweiten Verteidigungslinie des Immunsystems. Man nennt es auch das adaptierte oder erworbene Immunsystem. In diesem spielen Antikörper eine Hauptrolle.
Dieser Teil des Immunsystems merkt sich, mit wem er Kontakt hatte. Ein Teil der T- und B-Zellen bleibt nach dem Ende der Abwehrreaktion übrig. Monatelang (manchmal jahrelang, manchmal für immer) können diese Zellen in Lymphknoten und Knochenmark auf den nächsten Angriff „warten“ und dann schneller zuschlagen als beim ersten Kontakt. Deshalb spricht man auch von einem Immungedächtnis.
Wie gut die Verteidigung ist, hängt maßgeblich vom Gegner ab
Theresa und all die anderen hustenden Erwachsenen hatten vor diesem Herbst und Winter schon mindestens einmal Kontakt mit dem Erreger, der sie nun krank gemacht hat. Sie sind ja nicht neu, wie es das Sars-CoV-2-Virus war. Nur: Wenn sich der Erreger seit der letzten Begegnung ein bisschen verändert hat, hat er im Kampf gegen Theresas Immunsystem wieder bessere Karten. Theresa hat in ihrer wunderbaren Körper-Bibliothek aber zum Glück auch den Bauplan für ein tödliches Werkzeug gegen den neu ausgerüsteten Feind. Es muss nur noch gebaut werden.
Die Erreger da draußen liefern sich also einen unerbittlichen Wettbewerb mit unserer Abwehr: Sie mutieren und verschaffen sich so einen Zeitvorteil. Das Grippevirus mutiert zum Beispiel besonders schnell. Obwohl es in den Pandemiejahren kaum zirkulierte, weil sich die Menschen vor Ansteckungen geschützt haben, hat es sich weiterentwickelt.
Die erste Verteidigungslinie des Immunsystems springt sofort an, sobald es das Virus bemerkt und aktiviert die zweite. Kann das Immunsystem dafür sorgen, dass sich die eingedrungenen Viren nicht massenhaft vermehren, bemerkst du wahrscheinlich nicht viel von deiner Infektion. Gewinnt das Virus, indem es sich trotzdem massenhaft vermehrt, wirst du krank, hustest, bekommst Fieber und so weiter. Die Symptome werden nur zum Teil vom Erreger selbst verursacht, der Rest gehört zu einer normalen Immunreaktion. Fieber, mehr Schleim, Entzündungen: All das soll die Eindringlinge möglichst schnell aus dem Körper befördern, ist aber leider sehr unangenehm für dich.
Mit dieser Erfahrung im Gepäck bekommt das Immunsystem einen Vorsprung für die nächste Begegnung. Die ungewöhnlich hohe Welle an Atemwegsinfekten in diesem Winter hat auch damit zu tun, dass einige Erreger derzeit einen Zeitvorteil haben. Dieses Phänomen nennt man Immunitätslücke. Das hat aber nichts mit Schwäche zu tun oder mangelndem Training, weil wir nicht oft genug krank waren. Die Erreger haben sich weiterentwickelt und du kannst dich beglückwünschen, wenn du nicht jede Mutationsrunde mitgenommen hast.
Die Frage, warum nicht jede Ansteckung generell dazu führt, dass du krank wirst und warum nicht alle gleich schwer erkranken, wird noch erforscht. Einige Faktoren kennt man schon. Zum Beispiel spielt es eine Rolle, wie hoch die Erregerdosis ist, die du abbekommst. Oder wie sehr die Schleimhäute im Mund-Rachen-Raum strapaziert sind, zum Beispiel durch trockene Luft.
Kinder bauen ihr Immungedächtnis erst noch auf. Sie sind in den ersten Lebensjahren sehr oft krank. Dass es jetzt so viele erwischt, ist so „als ob man zwei Jahre keine Kinder eingeschult hätte und nun sehr große erste Klassen hat“, sagt die Virologin Isabella Eckerle in diesem Video von Quarks zum gleichen Thema. Es werden mehrere Jahrgänge auf einmal krank. Das ist übrigens auch mit dafür verantwortlich, dass die Kinderkliniken gerade überlastet sind. Und natürlich wegen der Schwierigkeiten, die die Kindermedizin schon lange hat.
Das Immunsystem funktioniert – wie alle anderen Organe auch – von alleine gut
In Wirklichkeit ist das Immunsystem natürlich sehr viel komplexer, als ich es hier beschreibe. So komplex, dass die Wissenschaft es noch gar nicht richtig versteht. Und bevor du fragst: Ein gesundes Immunsystem braucht keine Mittelchen zur Stärkung. Es ist sogar so, dass ein überaktives Immunsystem Schaden anrichten kann, zum Beispiel, weil es sich gegen körpereigene Zellen richtet. Das kann dann zu einer Autoimmunkrankheit führen oder zu einer Allergie. So sind zum Beispiel in der ersten Phase der Pandemie viele Menschen an den überschießenden Immunreaktionen gestorben, die das Coronavirus auslöste. In diesen Fällen war das Immunsystem nicht zu schwach, sondern ist eher unkontrolliert explodiert.
Du hilfst deinem Immunsystem, genug neue Zellen zu produzieren, indem du dich ausgewogen ernährst, dich regelmäßig bewegst und möglichst wenig Stress hast. Dein Immunsystem funktioniert wie alle anderen Organe deines Körpers nämlich von ganz allein ausreichend gut.
Redaktion: Julia Kopatzki, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert