Seit April 2020 beobachten Jens Plag und seine Kolleg:innen von der Charité, wie sich das Coronavirus auf das Wohlbefinden der Deutschen auswirkt. Dabei stellten sie fest: Wir haben nicht nur Angst zu erkranken, sondern fürchten vor allem die Einsamkeit im Lockdown und langfristige Konsequenzen wie den Verlust des Arbeitsplatzes.
Ich habe den Psychiater und Angstforscher gefragt, wie man eine angstfreie Entscheidung trifft, wie man mit Wut umgeht und warum soziale Medien besser sind, als wir denken.
Lisa McMinn: Als ich Sie eben anrief, liefen Sie von einer Station zur nächsten, und wenn man Ihnen eine Mail schreibt, kommt die Antwort morgens um 5 Uhr. Sind Sie gerade gestresst?
Jens Plag: Ich bin oberärztlich für zwei psychiatrische Stationen und unsere psychiatrische Ambulanz zuständig. Meine Tage sind gerade sehr lang.
Ihre psychiatrische Notaufnahme ist für Menschen, die akut unter Ängsten oder auch Suizidgedanken leiden, durchgehend geöffnet. Füllt sich diese Notaufnahme, wenn die Corona-Zahlen steigen, so wie jetzt?
Ja und nein. So einfach kann man den Zusammenhang nicht erklären. Die Notaufnahme ist jetzt nicht viel voller als sonst. Die Menschen fühlen sich aber grundsätzlich schlechter, vor allem diejenigen, die psychisch vorbelastet sind.
Wie wirkt sich das Coronavirus auf diese Menschen aus?
Analog zum Rest der Bevölkerung, die mittlerweile von einer Corona-Müdigkeit berichten, also einer stärkeren Belastung und Stresssymptomen wie Überforderung, Gereiztheit oder Nervosität, läuft Corona bei Menschen mit psychischen Krankheiten immer mit. Viele, die durch die Isolation verstärkt Symptome einer Depression zeigen oder lebensmüde Gedanken haben, kommen aber erst später bei uns an. Ich finde das Bild der Bugwelle ganz gut. Zuerst kommen die hohen Infektionszahlen und ein paar Wochen später folgen die seelischen Konsequenzen. Am Anfang gelingt die Adaption noch ganz gut. Doch gerade, wenn man auf unabsehbare Zeit die Kontrolle verliert, wird es schwierig. Angst wird oft durch das Gefühl ausgelöst, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren.
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen dem Schreck, den man kriegt, wenn es nachts vorm Fenster rappelt, und pathologischer, krankhafter Angst?
Der Schreck, den Sie kriegen, ist eine normal-psychologische Angst. Sie ist ein evolutionsbiologisches Element, das uns hilft, potentielle Gefahren abzuwehren oder auf sie zu reagieren. Bei der normal-psychologischen Angst atmet man schneller, das Herz rast, die Muskeln werden stärker durchblutet. Alles, damit man wegrennen oder kämpfen kann, falls die Gefahrensituation es erfordert. Wenn dieser Schutzmechanismus ausgelöst wird durch eine Situation, die nicht lebensbedrohlich oder nicht wirklich gefährlich ist, die Reaktion also nicht adäquat ist, sprechen wir von krankhafter Angst. Und wenn diese Angstreaktionen den Menschen im Alltag einschränken oder belasten, sprechen wir von einer Angsterkrankung.
Sie und Ihre Kolleg:innen von der Berliner Charité erheben seit April 2020 mithilfe einer Umfrage, wie die Corona-Pandemie sich auf das Wohlbefinden und mögliche Angst der Allgemeinbevölkerung in Deutschland auswirkt. Was ist ihr Ergebnis?
Wir haben in unserer Studie festgestellt, dass die Angst vor dem Virus selbst vor allem in den ersten Wochen aufgetreten ist und dann durch andere Ängste abgelöst wurde. Anfangs standen unmittelbar mit dem Virus verknüpfte Ängste bei den Menschen im Fokus: Was macht das Virus mit mir? Welches Risiko habe ich? Wie lange dauert die Quarantäne? Doch je länger die Pandemie andauert, desto mehr haben sich die Sorgen hin zu ökonomischen und sozialen Ängste verlagert: Werde ich meinen Job verlieren? Werde ich Arbeit und Familie im Homeoffice wuppen? Wie komme ich klar ohne soziale Kontakte? Das geht bis hin zu Existenzängsten und der Angst, sozial völlig den Anschluss zu verlieren. Die Kontaktbeschränkungen haben das noch verschlimmert; sie nehmen dem Menschen die Chance, aktiv etwas an seiner Lage verändern zu können. Dadurch verliert man die Perspektive.
Wir stecken jetzt in der vierten Welle. Hat unsere Psyche sich nicht langsam an Corona gewöhnt?
Jede Corona-Welle ist für die Psyche ein neuer Schock. Wir haben uns unser Leben lang an unsere „alte Normalität“ gewöhnt, also an unser vorheriges Leben ohne Corona, dass die mögliche Gewöhnung an ein Leben in oder mit einer Pandemie das nicht aufholen kann. Es dauert sehr lange, bis wir diese „neue Normalität“ annehmen können. Hinzu kommt, dass sich unsere Situation derzeit ständig verändert. Wir dachten, durch die Impfungen wären wir längst wieder frei – stattdessen kam die vierte Welle. Ich glaube deshalb, dass die Psyche sich kaum vollständig an die Corona-Pandemie gewöhnen kann.
Das ist ein düsterer Ausblick.
Ich würde es gerne anders formulieren. Aber ich kann es nicht.
Was kann uns die Angst nehmen?
Sozialen und ökonomischen Ängsten muss man politisch entgegentreten. Viele erleben es als entlastend, verlässlich auf staatliche Hilfen zurückgreifen zu können. Wer einen kleinen Laden hat, sich aber auf Corona-Hilfen verlassen kann, dem gibt der Staat ein Gefühl der Kontrolle zurück. Ich bin zwar kein Politiker, aber in meiner praktischen Arbeit sehe ich, wie wichtig das ist.
Was, wenn der nächste Lockdown kommt?
Wenn Kontaktbeschränkungen wieder eingeführt werden, was ich medizinisch für unausweichlich halte, sollte, wenn irgendwie möglich, ein klarer Endzeitpunkt definiert werden. Viele Menschen sehen rational ein, dass die Kontaktbeschränkungen richtig sind. Aber emotional können sie sie nur schwer oder nicht verkraften. Um aufkommenden Ängsten in der sozialen Isolation vorzubeugen, empfehle ich soziale oder virtuelle Medien, also auch soziale Netzwerke.
Sie empfehlen tatsächlich soziale Medien? Das ist für einen Arzt sehr ungewöhnlich.
Man muss kreativ sein, um die Defizite im sozialen Bereich auszugleichen. Das gelingt vor allem jungen Menschen sehr gut. Wenn man soziale Medien nutzt, ist aber wichtig, die Dauer und die Frequenz gut zu dosieren. Unsere Daten weisen darauf hin, dass ein Zuviel auch zu einer Verschlechterung der Angst und der allgemeinen psychischen Befindlichkeit führen kann. Das ist wahrscheinlich auf eine Überflutung mit dem Thema Corona und auf eine ungefilterte Informationsaufnahme zurückzuführen.
Gut ist, wenn durch die Technik Dinge möglich werden, die im realen Leben nicht möglich gewesen wären. Mich zum Beispiel hat es aufgemuntert, dass ausländische Referenten an unseren Online-Konferenzen teilnehmen konnten, die ich sonst nie hätte kennenlernen können.
Kann man Angst auch körperlich gegensteuern?
Es ist wichtig, einen Zustand herzustellen, in dem es einem körperlich gut geht. Bewegung, ausreichend Schlaf und eine gesunde Ernährung sind die Basis, um psychisch stabil zu bleiben. Jeder muss selbst wissen, wo sein Defizit am stärksten ist. Fehlt Ihnen menschlicher Kontakt? Dann schreiben Sie jemandem eine Nachricht. Sehnen Sie sich nach Bewegung? Dann gehen Sie an die frische Luft.
Auf die Idee, die Arbeit zu reduzieren, um Menschen in der Krise zu entlasten, ist kein Politiker bisher gekommen. Aus wirtschaftlichen Gründen, natürlich. Aber wäre das medizinisch sinnvoll? Wäre das eine psychische Entlastung?
Sie meinen, die Arbeit herunterfahren, und etwa durch Hilfen auszugleichen?
Ja.
Das könnte ich mir sehr gut vorstellen. Denn die Arbeit ist natürlich für viele ein sehr großer Stressfaktor, der enormen Druck erzeugt. Die meisten mussten weiterarbeiten, trotz Lockdown, teils auch im Homeoffice gleichzeitig Kinder betreuen, und das war und ist eine enorme Belastung. Das Arbeitsvolumen zu reduzieren, ist also eine enorme Entlastung. Wer das kann, sollte es tun.
Bald ist Weihnachten, viele Menschen sind derzeit wieder verunsichert und besorgt, weil sie nicht wissen, ob sie Verwandte besuchen sollen oder nicht. Wie trifft man eine angstfreie Entscheidung, ohne in Panik zu verfallen?
Man sollte gut auf sich hören! Wie fühlen Sie sich denn mit der Aussicht, zur Familie zu fahren? Das Bauchgefühl ist eine gute erste Instanz. Was Sie hier fühlen, entsteht nämlich zum Teil auch im Kopf: Wenn Sie wissen, dass Sie ein hohes Risiko eingehen, weil ihre Eltern sehr alt sind, dann werden Sie sich vermutlich nicht gut dabei fühlen, nach Hause zu fahren. Und dann prüfen Sie dieses Bauchgefühl einmal, indem sie es mit der Faktenlage abgleichen. Sind Ihre Eltern vielleicht schon geboostert? Das reduziert das Risiko nach gegenwärtiger Datenlage zumindest schon einmal. Wichtig ist, dass man nichts macht, was gegen die eigene Intuition geht. Wenn Sie sich zu etwas zwingen, was Sie nicht wollen, erhöht das Ihr Stresslevel.
Der kleine Bruder von Angst ist Wut. Die spüren gerade besonders viele Menschen. Derzeit sind vor allem die Geimpften wütend auf die Ungeimpften, vorher war es andersherum. Wie kommt das?
Wut ist genau wie Angst ein evolutionär verankertes Gefühl. Sie ist etwas jünger als die Angst und speist sich aus einem Verteidigungsimpuls. Sie springt also an, wenn ich meinen persönlichen Bereich oder mein Wohlergehen bedroht sehe. Und das merkt man in der Spaltung zwischen Geimpften und Ungeimpften, denn beide fühlen sich, wenn auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten, in ihrer Freiheit eingeschränkt.
Wie geht man am besten mit dieser Wut um?
Wichtig ist, dass man sie nicht ungefiltert rauslässt. Man muss nicht sofort alles verbalisieren, was einem durch den Kopf geht. Stattdessen kann man sich in Verständnis üben. Man kann sich also etwa sagen: Andere Meinungen und Haltungen sind genauso legitim wie meine.
Das klingt sehr versöhnlich – aber das Blöde an der Wut ist gerade, dass man sie eben nicht rationalisieren kann. Sie reißt einen einfach mit.
Ja, wenn man merkt, dass das nicht mehr geht und die Wut körperlich wird, dann muss man sie anders abfahren.
Wut abfahren – was heißt das?
Wir haben hier in der Klinik einen Boxsack. Da kann man ein Foto, etwa vom Coronavirus, oder ein Wort draufkleben und einfach mal richtig draufhauen. Danach ist man meistens wieder in einem Zustand, in dem man seine negativen Gefühle rational kontrollieren kann.
Boxen Sie auch manchmal in den Sack?
Ich würde gerne, aber die Schlange ist zu lang (lacht).
Wirklich?
Nein. Der Sack ist sehr beliebt. Aber ich gehe lieber joggen.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger