New York, Heiligabend 2014. Ich trete an die Fensterscheibe einer Bar und wische mit meinem Ärmel ein Guckloch ins Kondenswasser. Drinnen steht ein Flügel, drum herum sitzen ein paar Menschen, die trinken – und singen.
„Möchtest du reinkommen, Honey?“
Ich zucke zusammen. Ein riesengroßer Türsteher lächelt mich an.
„Hm, Lust hätte ich.“
Aber eigentlich wollte ich heute nicht so viel trinken. Und eigentlich habe ich auch kaum noch Geld übrig. Aber er lacht so freundlich, und ich denke mir: Come in, it is Christmas. Und die veranstalten Weihnachtslieder-Karaoke am Flügel. Gehts cooler?
„Du musst nur wissen, dass das ne Schwulenbar ist, Sweetheart“, sagt der Türsteher.
„So? Störe ich da?“ Ich schmeiße meine Zigarette auf den Boden und trete sie aus.
„Nein, du siehst nur aus, als würdest du jemanden suchen.”
Ich komme mir ertappt vor. Sieht man mir an, wie sehr ich mich nach einem Partner sehne? Der Türsteher legt seine Pranke auf meine Schulterblätter, zwinkert mir zu und schiebt mich sanft ins Innere. Aus den Weihnachtsliedern sind mittlerweile Filmklassiker geworden. Ich setze mich auf einen Hocker am Flügel, bestelle ein Glas Weißwein und schließe die Augen. Der Pianist stimmt ein Lied an, das ich nicht kenne. Mein Sitznachbar fängt an zu singen. Und ich bekomme Gänsehaut.
„I am restless as a willow in a windstorm. I’m as jumpy as a puppet on a string. I’d say that I had spring fever. But it isn’t even spring.“
Er singt über mich. Ruhelos wie eine Weide im Sturm. Ferngesteuert wie eine Marionette. Es brodelt in mir. Aber meine Zeit scheint noch nicht gekommen zu sein.
„I keep wishing I were somewhere else. Walking down a strange new street. Hearing words that I have never heard. From a girl I’ve yet to meet.“
Jetzt kommen mir die Tränen. Auch ich wünsche mir immer, woanders zu sein. Hetze durch fremde Straßen. Suche nach dem Mann meiner Träume und lege dafür jede noch so belanglose Geste als Liebesbeweis aus. Als die letzten Töne durch die Bar hallen, hält mir ein spindeldürrer Santa Claus ein Taschentuch hin. Es ist mir peinlich, dass ich weine. Außerdem ist mein Glas leer. Ich lege einen Schein auf den Flügel und verlasse den Laden. Draußen legt mein Türsteher einen Arm um mich und zeigt auf die andere Straßenseite.
„Hey Babygirl, schau mal da drüben, da ist ne Bar, die heißt ‚Arthur’s Tavern‘. Da gibts auch gute Musik – und da sind sie hetero.“
Er lacht sein warmes Lachen. Sehr gut, denke ich und laufe wieder los. Auf diffuse Art und Weise ist mir in diesem Moment klar, was mich dorthin treibt. Ich will trinken, und zwar so richtig. Und eigentlich wollte ich das schon den ganzen Tag.
In der Bar, die mir der Türsteher empfohlen hat, spielt eine Band Live-Jazz. Ich mag keinen Jazz. Egal. An der langen Theke sitzen New Yorker Schönheiten mit bunten Seidenkleidern und geföhnten Haaren, ihre Absätze lässig hinter den Fußring der Hocker gehakt. Ich bin seit siebzehn Stunden auf den Beinen, trage noch immer die schwarzen Leggins und den grauen Wollpulli vom Morgen, mein Dutt hängt auf halb acht, und mein Mascara ist verschmiert.
Dann lese ich: „Cash only.“ Ich habe noch 14 Dollar Bargeld und scanne die Bar nach Typen, die mir den Abend finanzieren. Einer sticht mir sofort ins Auge, weil er so attraktiv ist. Dunkelblau-weiß gestreiftes Hemd, dunkle Haare, lautes Lachen, wache Augen. Sexy. Und eindeutig eine Liga zu hoch für mich. Daneben sitzt ein teigiger Typ mit Brille und Pulli mit aufgedruckten Achtelnoten. Schon eher. Ich setze mich neben ihn und bestelle einen Wodka Cranberry.
Die Barfrau bewegt sich wie eine rhythmische Sportgymnastin. Ihre Flaschen tanzen in der Luft, die Spirituosen fliegen wie Seidenbänder ins Glas. Plötzlich kippt Aufdruckpulli nach hinten. Reflexartig halte ich ihn fest. Keine Ahnung, woran das liegt, aber mein Reaktionsvermögen ist selbst unter Alkoholeinfluss noch überdurchschnittlich. Aufdruckpulli inspiziert seinen Hocker und sagt: „Mann, der Stuhl ist nicht gerade stabil.“ Klar, der Stuhl. Ich muss lachen und stelle mich vor. Er und sein Freund kommen aus Brasilien. Keine Ahnung, was da so abgeht, ich habe nur bisschen über Dilma Rousseff gelesen.
Ich also: „Was hältst du von Dilma Rousseff?“
Er: „Oh Lord, wie viel Zeit hast du?“
„Viel.“
Er lacht und wendet sich Sexy zu. „Sie möchte wissen, was ich von Dilma halte.“ Sexy schreit: „Oh God!“, winkt ab und schaut Richtung Bühne. Ich fühle mich auf der Stelle wohl. Die sind witzig. Aufdruckpulli erzählt mir vom Süden Brasiliens, dass er mittlerweile in den USA lebt und sein Freund zu Besuch ist. Dass sein Freund Anwalt und er Violinist ist. Warum er für Kafka schwärmt und nicht so auf Karneval steht, ob ich noch einen Wodka Cranberry will? Jackpot.
Sein Allgemeinwissen imponiert mir, und ich merke, dass ich ihm gefalle. Aber mein Blick fällt immer wieder auf Sexy, der so begeistert von der Musik ist, dass er sich kaum auf seinem Hocker halten kann. Zwischen Hüftschwüngen und Yeah-Rufen dreht er sich immer wieder zu uns um, klinkt sich ins Gespräch ein. Scharfsinnig und witzig, mit einer Wahnsinnsstimme. Tenor mit diesem dunklen Timbre. Ich strahle ihn an. Er zieht mich vom Hocker und tanzt mit mir. Jetzt bin ich blitzverliebt.
Sobald mein Wodka Cranberry leer ist, stellt mir die Barfrau einen neuen hin. Mit jedem einzelnen fühle ich mich ein bisschen mehr wie eine der Schönheiten vom Anfang der Theke. Und Jazz finde ich auf einmal auch ganz gut. Das Licht geht an. Sperrstunde. No! Der Abend kann unmöglich schon zu Ende sein.
„Möchtest du noch mit zu uns ins Hotel kommen? Wir haben da noch ganz viel Wein.“
Yeah. Wir steigen ins Taxi, und als wir durch die Hotellobby schwanken, komme ich mir nicht nur superschön vor, sondern auch total verrucht. Das Zimmer ist edel, warme Farben, große Sessel, große Fensterfront. Davor an die zwanzig Flaschen Rotwein. Wir legen uns aufs Bett. Sexy öffnet eine Flasche und schüttet den Wein in zwei Burgundergläser. Sie rotieren zwischen uns dreien. Dann fangen die beiden an, mich zu streicheln, mich zu küssen. Irgendwann sind wir nackt. Und ich bin zu betrunken, um klarzustellen, dass ich eigentlich nur Sexy will.
Der Lichtblick an harten Tagen, an einsamen Abenden, in all dem Stress
So fand ich mich ständig in Situationen wieder, in die ich nüchtern gar nicht geraten wäre. Dass ich das nicht erkannte, hat mehrere Gründe. Einer der wichtigsten: Alkohol gaukelt uns vor, mit all unseren Problemen nichts zu tun zu haben. Er ist zwar der Grund dafür, dass sich unser Leben so dermaßen angestrengt gestaltet. Aber er präsentiert sich als Rettung: als Lichtblick an harten Tagen, an einsamen Abenden, in all dem Stress. Und so suchen wir verzweifelt nach Lösungen, damit es uns wieder besser geht – nur nicht dort, wo wir sie finden können.
Deutschland, 2016. Ich klappe den Toilettendeckel runter, wasche meine Hände und spüle mir den Mund aus. Beim Blick in den Spiegel sehe ich als Erstes einen Pickel. Irgendwo habe ich immer einen. Dann betrachte ich meine Augen. Sie sind rot. Sie sind tot. Ich kann nicht mehr erkennen, wer mich da anschaut, aber ich weiß, dass ich diese Frau hasse.
Sie hatte alles. Alles. Und jetzt? Mein innerer Monolog beginnt: Wie ekelhaft kann man eigentlich sein? Und wie tief willst du eigentlich noch sinken? Wieso tust du nichts, du undankbares Stück Dreck? Es ist doch nur noch eine Frage der Zeit, bis es wirklich knallt. Bis du dich ernsthaft verletzt. Bis du an einen Mann gerätst, bei dem dir nicht mehr egal ist, was er mit dir macht. Bis du einen Arbeitstag verschläfst oder noch betrunken bist, wenn du ihn beginnst. Wieso tust du nichts, du widerliches Stück Scheiße?
Die Antwort ist immer die gleiche: Weil mir all das immer noch besser erscheint als dieses Wort, das sich anfühlt wie ein lebenslanges Todesurteil: Alkoholikerin. Nein, so werde ich mich nicht nennen. Nein, nein, nein! Lieber hacke ich mir einen Arm ab. Lieber bleibe ich in diesem Elend. In diesem beschissenen Leben, das immer beschissener wird.
Also machte ich weiter. Die letzten Monate meiner Sucht über war mir klar, dass ich abhängig bin. Ich konnte es nicht leugnen. Alkohol bestimmte meine Gedanken, er bestimmte den Großteil meines Lebens.
Ich sehnte mich noch immer nach einer Partnerschaft, nach einer Ehe, nach jemandem, mit dem ich eine Familie gründen könnte. Ich wollte das so sehr, und zugleich hatte ich es aufgegeben, ernsthaft daran zu glauben. Mir war klar, dass ich in diesem Zustand nicht in der Lage war, eine Beziehung zu führen. Geschweige denn, schwanger zu sein. Wie sollte ich so viele Monate auf Alkohol verzichten?
Ein paar Tage danach weckt mich der nächste Höllenkater. Es ist ein Julimorgen im Jahr 2016. Die Sonne scheint, und mich begrüßt der vertraute Horror. Ich liege in meiner Kuhle, neben mir ein nackter Typ. Ich kenne ihn, aber ich erinnere mich nicht daran, wie er heißt. Irgendwann habe ich ihm schon mal eine Abfuhr erteilt, weil ich ihn so unattraktiv finde. Mein Kopf pocht. Meine Zunge schabt an meinem Gaumen. Ich schaue nach links. Auf dem Boden liegt mein zerfetztes, verdrecktes Sommerkleid. Es war mal weiß. Jetzt kann ich es nur noch wegwerfen.
Um 16 Uhr beginnt meine nächste Schicht. Ein weiterer Tag, den ich irgendwie überstehen muss. Ich schließe die Augen. Mein Ziehen im Magen fühlt sich an, als hätte mir jemand ein Messer in den Bauch gerammt. Und mir ist plötzlich klar: Das kommt nicht nur vom Wein. Das kommt aus den Tiefen meiner Seele. In diesem Schmerz steckt der letzte Rest Intuition, das letzte bisschen Kompass.
Ich kann mir bis heute nicht so richtig erklären, was danach passierte. Warum es ausgerechnet dieser Morgen war. Aber in diesem Moment öffnete ich meine Augen und traf die beste Entscheidung meines Lebens:
Ich höre auf zu trinken. Keine Ahnung, wie das gehen soll, aber ich höre ganz auf zu trinken.
Ich habe angefangen zu trinken, weil ich erwachsen sein wollte. Ich sah, was für ein schönes Leben meine Eltern führen, und ich wollte so sein wie sie. Ja, mir gefiel auch, wie ich mich fühlte, wenn ich Wein getrunken habe, aber am Anfang stand das nicht im Vordergrund. Und ja, mir fiel auch damals schon auf, dass ich deutlich mehr vertrage als meine Freundinnen, aber erst als Partys wichtiger wurden als Sport, als ich dicker wurde, mich immer hässlicher fühlte, einen Freund wollte, aber keinen fand, den ich wirklich mochte – erst da fing ich an, mich falsch zu fühlen und an mir zu zweifeln.
Und da fing ich dann auch an zu genießen, dass Alkohol mich für ein paar Stunden von diesen Selbstzweifeln zu befreien schien. Ich wusste nicht, dass er sich damals bereits langsam daran machte, meine psychische Gesundheit zu unterwandern. Mir war nicht klar, in welchen Teufelskreis ich mich begab. Dass ich die Zweifel nicht betäubte, sondern heranzüchtete. Die Totalabstürze mehrten sich.
In meinen Zwanzigern waren Traurigkeit und Sehnsucht schon fester Bestandteil meines Lebens. Je länger und intensiver ich trank, desto wertloser, überforderter und leerer fühlte ich mich. Desto weniger wusste ich, wer ich eigentlich bin. Und desto verbitterter blickte ich auf diese Welt mit all ihren Ungerechtigkeiten.
In diesen Jahren haben die Veränderungen, die mein Alkoholkonsum in meinem Hirn verursacht hat, dazu geführt, dass ich einen Großteil meines Alltags auf Trinkgelegenheiten hin ausrichtete. Ich ging schön essen, um Wein trinken zu können. Ich lernte für eine Prüfung, um danach feiern zu können. Machte Party, um mich abschießen zu können. Ein Leben ohne Alkohol konnte ich mir schon lange nicht mehr vorstellen. Wenn Menschen mir sagten, dass sie nicht trinken, war mir das unbegreiflich. Freude, Belohnung ohne Alkohol? Gabs für mich nicht mehr.
Mit Ende Zwanzig steckte ich so tief drin, dass Alkohol trinken für mich die einzige Möglichkeit war, um überhaupt noch abzuschalten – von der Arbeit und vom Affenzirkus in meinem Kopf. Ich stand so krass unter Druck, dass ich mich heute noch frage, wie ich das überhaupt ausgehalten habe. Ich war dauergestresst, dauerunsicher, dauerunzufrieden, dauerverliebt in irgendwelche Männer und süchtig.
Vor allem das letzte Jahr meiner Abhängigkeit verbrachte ich in einem permanenten Zustand von Bedrohung. Ich spürte, dass ich kurz davor war, alles vor die Wand zu fahren. Spürte, dass es bald knallen würde. Aber ich war unfähig, einzugreifen. Und ich glaube – ohne mir jetzt anmaßen zu wollen, das mit so grausamen Erfahrungen wie Krieg oder Misshandlung gleichzusetzen –, ich glaube, meine Alkoholabhängigkeit war für mich traumatisch.
Wenn Trauma bedeutet, dass mich ein Ohnmachtsgefühl erschüttert, wie ich auf mich selbst und auf die Welt blicke, dann war ich traumatisiert. Traumatisiert von einer Sucht, die mich zu einem emotionalen Wrack gemacht hatte.
Und hier schließt sich der Kreis. Denn schlussendlich ist es egal, ob wir reingeraten sind, weil wir so geboren wurden, weil die Droge unser Hirn manipuliert hat oder weil wir es uns angewöhnt haben. Und schlussendlich ist es auch egal, ob wir trinken, weil wir Probleme hatten. Oder ob wir Probleme haben, weil wir trinken: Wenn wir aufhören, stehen wir vor einem Schlachtfeld.
Dann geht es für alle Betroffenen darum, Dinge aufzuarbeiten, aufzuräumen und zu heilen. Dann geht es darum, der Sucht etwas entgegenzusetzen, eine Verbindung zu uns selbst zu finden und unseren Blick auf die Welt zu korrigieren.
Dies ist ein Auszug aus dem Buch „Ohne Alkohol: Die beste Entscheidung meines Lebens“ von Nathalie Stüben. Es ist im Oktober 2021 bei Kailash erschienen. Nathalie Stüben, geboren 1985, Journalistin, schrieb und fotografierte unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, die DPA und verschiedene Frauenzeitschriften. Zuletzt arbeitete sie als Radio- und Fernsehjournalistin für den Bayerischen Rundfunk. Im Jahr 2019 startete sie ihren Podcast „Ohne Alkohol mit Nathalie“.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele; Illustration: Sebastian König; Audioversion: Iris Hochberger