Meine Mutter versteht nicht, was ich sage. Sie kann mich zwar reden hören, aber meinen Worten zu folgen, ist für sie nahezu unmöglich. Denn meine Mutter ist seit ihrer Geburt funktionell taub. Das bedeutet, dass ihr Sprachverständnis ungefähr so ist, als wäre sie vollkommen gehörlos. Geräusche bereiten ihr Stress. Meine Mutter fühlt sich deshalb am wohlsten, wenn es still ist. Ich muss lernen, das zu akzeptieren.
Meine Mutter erfuhr erst im Alter von 60 Jahren, dass sie diese massive Hörbehinderung hat. Bis dahin nahm sie an, ihre Schwerhörigkeit sei zugleich ihr eigenes Versagen und das der Menschen um sie herum. Sie weigerte sich, Hörgeräte zu tragen. Gleichzeitig beschuldigte sie alle, die mit ihr redeten, sich nicht genug anzustrengen. Sie forderte von ihnen, deutlicher zu sprechen und sie dabei immer direkt anzusehen, damit sie ihnen von den Lippen lesen konnte. Eine Bitte, der wir nachkommen wollten, die wir aber manchmal einfach vergaßen.
Als Baby hörte meine Mutter mich nicht schreien
Meine Mutter wuchs in einem kleinen Dorf auf, in den 1950er Jahren. Ihre Eltern hatten ein paar Kühe, ein paar Äcker und arbeiteten nebenher in einer Fabrik, um genügend Geld für den Fortschritt zu haben. Für den VW Käfer, den Fernseher, die Waschmaschine. Meine Großeltern hatten Schwierigkeiten mit ihrem Kind, weil es nicht auf sie hörte. Sie schlugen sie dann auch. Meine Mutter versteckte viele Kochlöffel, das half ein bisschen.
Ärzte waren in dieser Welt nur für lebensbedrohliche Zustände da. Dass meine Mutter so schlecht folgte und ihre Eltern manchmal ignorierte, war sicher nichts, wofür man zum Arzt ging. Sie hielten ihr Mädchen für schwer erziehbar, wenn sie trotz ihrer Warnungen einfach auf die Straße lief. Erst eine Grundschullehrerin erkannte den wahren Grund für das Verhalten meiner Mutter. Sie veranlasste einen Hörtest und sorgte dafür, dass meine Mutter Hörgeräte bekam.
Die Sache ging schief. Meine Mutter bekam panische Angst vor der Welt, die plötzlich laut war. Draußen glaubte sie, die Autos wollten sie überfahren. Drinnen hielt sie das Scheppern der Töpfe und die blechern klingenden Stimmen nicht aus. Und obwohl nun alles viel lauter war, verstand sie die Menschen viel schlechter. Der neue Klang der Worte machte es ihr fast unmöglich, deren Bedeutung zu erfassen. Sie hörte nun mehr – erschreckend mehr –, aber verstand weniger als je zuvor.
Meine Großeltern waren verzweifelt. Sie mussten mit der Schuld leben, ihre Tochter für etwas bestraft zu haben, für das sie nichts konnte. So viel hatten sie verstanden. Die Hoffnung, ihr Kind zurechtzurücken, löste sich in Luft auf. Und wieder wussten sie nicht, wohin mit ihrer Wut: auf die Lehrerin, auf das Kind, auf das Schicksal.
Da wollte meine Mutter helfen: Sie weigerte sich, die Hörgeräte zu tragen und behauptete, alles Wichtige zu hören und alles Wesentliche zu verstehen. Sie hatte sich das Lippenlesen selbst beigebracht und trotz der Schwerhörigkeit das artikulierte Sprechen gelernt. Sie gab also ihr Bestes, um in der hörenden Welt nicht aufzufallen. Wenn sie nicht verstand, versuchte sie, richtig zu raten. Es gelang ihr nicht ganz.
Sie kann die Laute der einzelnen Buchstaben nicht immer sicher unterscheiden, hört die Anfänge und Endungen der Wörter nicht richtig. Details zu verstehen, fällt ihr schwer. Das ist, als ob man sich aus Zwischenüberschriften den Inhalt eines Textes erschließen muss. Also erwartete sie, dass die Hörenden ausgleichen mögen, was sie selbst nicht schaffte.
So wie mein Vater. Mein Vater hört. Er half ihr, so gut er konnte, war meist verständnisvoll. Es fiel meiner Mutter schwer, ihre beiden gemeinsamen Kinder aufzuziehen. Sie tröstete sich damit, dass es allen Eltern so ging. Im Dorf weiß jeder viel vom anderen. Aber manchmal klangen ihre Geschichten anders, als die, die andere Eltern erzählten. Zum Beispiel kam, als ich ein Baby war, immer wieder die Nachbarin vorbei. Sie sagte Bescheid, dass das Baby weinte. Meine Mutter hörte mich nicht schreien. Ich glaube heute, es verging oft mehr Zeit, als mir guttat, bis sie endlich kam und sich um mich kümmerte.
Gab es Streit, geriet meine Mutter in Panik
Als ich älter wurde und Trost brauchte, verstand sie oft nicht, warum ich weinte. Schluchzend saß ich vor ihr und stammelte Wortfetzen, wie es Kinder tun. Angestrengt versuchte sie, mich zu verstehen. Sie war so beschäftigt damit, dass sie vergaß, mich einfach in den Arm zu nehmen. Ihr meine Gefühle zu erklären, war unmöglich. Ich war überfordert davon, in mich hineinzuhören während ich gleichzeitig sicherstellte, dass meine Mutter mich einigermaßen verstand. Ich dachte lange, niemand kann mich wirklich verstehen.
Meine Mutter geriet in Panik, wenn ich mich mit meinem Bruder stritt. Wir schrien durcheinander und sie konnte nicht herausfinden, was eigentlich los war. Also schimpfte sie und wünschte uns weg. Auch gemütliche Familienrunden an der Kaffeetafel waren für sie die Hölle. Sie konnte dem Gespräch nicht folgen, wenn alle gleichzeitig redeten. Also verstummte sie und zog sich früh zurück. Ein Schwätzchen mit dem Sitznachbarn ging nur gut, wenn es um sie herum still war. Jedes Fremdgeräusch lenkte sie so sehr ab, dass sie nichts mehr verstand.
Sie nickte dann immer besonders häufig und sagte dauernd „Ja.“ Wir Kinder erkannten sofort, dass sie schon längst nicht mehr mitkam. Meine Mutter hat sich immer bemüht, ihre Schwerhörigkeit vor uns zu verstecken. Oft wünsche ich mir, sie hätte mir und meinem Bruder, als wir klein waren, gezeigt, was es bedeutet, gesprochene Sprache nur mit großer Mühe verstehen zu können. Sie hätte uns doch nur die Ohren zuhalten müssen und sagen: „Siehst du, so höre ich. Wenn du schnell sprichst oder den Kopf wegdrehst, wenn du mich von hinten ansprichst oder mir aus dem anderen Zimmer etwas zurufst, kann ich dich nicht verstehen.“ Ich stelle mir das so einfach vor. Doch für sie war es zu schwer.
Manchmal sagte meine Mutter, ich würde das mit Absicht tun
Dass unsere Mutter schlecht hört, war für uns normal. Wir wunderten uns nur manchmal, dass das für sie selbst so ein großes Problem war. Wir hatten keine Vorstellung davon, wie sehr sie sich schämte.
Besonders hilflos fühlte sie sich, wenn sie mit Behörden zu tun hatte. Schon mit 13 musste ich sie begleiten, damit ich ihr hinterher erklären konnte, was in der Amtsstube gesprochen worden war. Dasselbe beim Arzt. Ich wurde so zu ihrem externen Ohr und auch zur Verantwortlichen. Wenn ich etwas falsch wiedergab oder wenn bei meiner Zusammenfassung etwas unklar blieb, machte sie es mir zum Vorwurf. Ich hätte es mir besser merken müssen, sagte sie. Dabei wollte sie oft Details wissen, die gar nicht besprochen worden waren.
Für all die Missverständnisse und die Sprachlosigkeit in unserem Alltag wurde ich verantwortlich gemacht. Ich sprach zu leise, zu schnell, zu undeutlich. Ich würde das mit Absicht tun, meinte meine Mutter manchmal. Ich wolle, dass sie außen vor bleibe, nichts verstehe und als Dumme dastehe. Das warf sie mir an den Kopf, wenn sie wütend und verzweifelt war. Es fällt mir bis heute schwer, ihr das zu verzeihen – obwohl ich es versucht habe. Ich weiß, eigentlich hasst sie sich selbst dafür, nicht gut hören zu können. Sie fühlt sich von allen unverstanden. Oft sagt sie, wir wüssten gar nicht, wie es ist, so schlecht hören zu können. Damit hat sie Recht.
Ich sagte fast nie Nein, wenn sie mich um Hilfe bat
Ich hatte oft Schuldgefühle. Ich glaubte ihr, wenn sie sagte, dass mein Verhalten ihr Leben schwieriger macht. Ich versuchte alles Mögliche, um keine Vorwürfe mehr hören zu müssen. Ich sagte fast nie Nein, wenn sie mich um Hilfe bat. Ich lernte, meine eigenen Bedürfnisse hintanzustellen und hielt meine Probleme für unbedeutend. Eine Zeitlang fand ich Gefallen daran zu leiden – ich kannte es auch nicht anders. Ich lebte in unglücklichen Beziehungen, beschäftigte mich gerne mit den Katastrophen der Welt, weinte viel. Das half mir, mich selbst zu spüren. Sobald es mir gut ging, dachte ich, dass ich das nicht verdiente. Irgendwann konnte ich nicht mehr und machte eine Therapie.
Meine Mutter aber ist mit ihren Gefühlen allein. Und gleichzeitig kann sie die Probleme der Menschen, die sie liebt, nicht nachvollziehen – auch meine nicht. Wir wissen nicht, wie wir über unsere Gefühle sprechen könnten.
Als wir Kinder waren, hatte meine Mutter Schwierigkeiten, unsere hohen Stimmen zu hören. Weibliche Stimmlagen machen ihr mehr Schwierigkeiten als männliche. Früher war es für meine Mutter leichter, mit jemandem zu telefonieren, als ihn in einer fremden Umgebung zu treffen. Die Frequenzverzerrung des Telefons half ihr, viele Stimmen klangen tiefer und keine fremde Umgebung störte ihre Konzentration. Sobald sie sich in einer Situation nicht auskannte, strengte sie das konzentrierte Zuhören derart an, dass sie den Sinn der Worte nicht mehr verstand.
Niemand aus ihrem Dorf kann mit den Händen sprechen, deshalb wollte sie es auch nie lernen
Je älter meine Mutter wird, desto schlechter werden ihr Hörvermögen und ihr Sprachverständnis. Meine Mutter merkt das. Sie scheut neue Situationen, fremde Menschen und Reizüberflutung. Sie hat Angst, sich zu blamieren. Das ist so stark, dass sie mittlerweile kaum noch aus dem Haus geht.
Ich habe das Ausmaß ihrer Schwierigkeiten lange nicht begriffen. Auch ich habe ihr oft Vorwürfe gemacht. Ich wollte, dass sie zu ihrer Schwerhörigkeit steht. Ich dachte, wenn sie so leidet, muss sie doch wollen, dass sie besser kommunizieren kann – egal wie.
Ich schlug ihr vor, gemeinsam die Gebärdensprache zu lernen. Doch das kommt für sie nicht infrage. Niemand aus ihrem Dorf kann mit den Händen sprechen. Sie würde erst recht zum Sonderling werden, wenn sie es täte. Sie will nicht auffallen. Jeder Versuch, unsere Verständigung zu erleichtern, wirkt auf sie wie die Botschaft, die sie ihr ganzes Leben schon hört: So wie du bist, bist du nicht richtig.
Ich wollte, dass meine Mutter über ein Cochlea-Implantat nachdenkt. Ein Gerät, das in die Schläfe eingesetzt wird und das Innenohr mit dem Hörzentrum des Gehirns verbindet. Es macht elektronisches Hören möglich, ein Wunder der modernen Medizintechnik. Ich habe immer wieder darüber gesprochen, habe meine Mutter gedrängt. Das hat unsere Beziehung weiter verschlechtert. Meine Mutter hatte große Angst davor. Sie fürchtete, dass es wieder so ausgeht wie beim letzten Mal, als der plötzliche Lärm der Außenwelt sie bis ins Mark erschütterte.
Ich bewundere sie dafür, dass sie es trotzdem gewagt hat.
Sie trägt ihr Implantat nun schon ein Jahr und ihr Hörvermögen hat sich in dieser Zeit um 30 Prozent verbessert. „Ich höre die Vögel singen und den Blinker im Auto“, sagt sie manchmal und lächelt dann.
Sie sucht die Stille – und fürchtet die Einsamkeit
Trotzdem will sie für ihr zweites Ohr kein Implantat. Es ist ihr „gutes“ Ohr, sie hört damit ungefähr so gut, wie mit dem anderen, das ein Implantat hat. Die Ärzt:innen hatten ihr von Anfang an empfohlen, das Ohr mit dem größeren Resthörvermögen technisch zu unterstützen. Durch einen stärkeren Stereo-Effekt könnte sich ihr Sprachverständnis noch weiter verbessern.
Aber meine Mutter kann sich das nicht vorstellen. Sie hat Angst, dass bei der zweiten Operation etwas schiefgeht. „Ich bin zu alt dafür“, sagt sie. Das macht mich traurig. Sie wird in zwei Jahren siebzig, aber ihr Leben mit der funktionellen Taubheit war so anstrengend, dass sie sich schon jetzt fühlt, als sei sie am Ende.
Ich habe oft Angst vor der Zukunft. Ich fürchte den Tag, an dem meine Mutter und ich in die Sprachlosigkeit abdriften. Diese Vorstellung ertrage ich nur schwer. Vor allem, weil es auch sonst niemanden geben wird, mit dem sie dann reden kann. Sie wird bald ein sehr einsamer Mensch sein. Auch sie sieht das so, aber sie kommt aus ihrer Zwickmühle nicht heraus. Geräusche stressen sie noch immer. Sie sucht die Stille. Und gleichzeitig fürchtet sie die Einsamkeit.
Auch ich fühle mich zerrissen. Ich respektiere, dass sie keine weiteren Hörhilfen wünscht, aber kann die Konsequenzen nicht gut aushalten. Doch vielleicht ist die Stille für meine Mutter ganz anders, als sie für mich wäre.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger