Daniel Vilser (links) ist leitender Oberarzt der Kinderklinik in Jena. Mit dem Lungenarzt Micheal Lorenz (rechts) betreibt er eine der ersten Long Covid-Ambulanzen speziell für Kinder.

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Psyche und Gesundheit

Kann man Kinder mit Long Covid heilen?

In Jena suchen Ärzt:innen in der ersten Long Covid-Ambulanz für Kinder nach der richtigen Behandlung für eine Krankheit mit tausend Gesichtern.

Profilbild von Florian Bayer

Begonnen hat es mit dem Blumenkohl. „Der Geruch war im ganzen Haus, doch keiner außer mir hat ihn gerochen“, sagt Anamar H. Das war im letzten November, mitten in der zweiten Corona-Welle. Also ließ sich die ganze Familie auf das Virus testen. Und tatsächlich: Die Ergebnisse von Anamars Mann und ihren beiden Söhne waren positiv. Sie hatten sich mit Covid-19 infiziert und ihren Geruchssinn verloren.

Der ältere von ihnen, Felix, kämpft ein halbes Jahr später noch immer mit den Folgen. „An manchen Tagen bin ich aufgestanden und musste direkt nach dem Frühstück wieder ins Bett“, sagt der 15-Jährige. Er fühlte sich immer häufiger kraftlos, dazu kamen trockene Augen, Bauchschmerzen, Durchfall, zwei Kreislaufkollapse. Langlaufen konnte er plötzlich nicht mehr, weil das Halten der Skistöcke so weh tut. Beim Radfahren ist er schneller ausgepowert. „Auch längeres Schreiben geht nicht mehr“, sagt Felix. Der Geruchssinn ist mittlerweile zurück. Die anderen Beschwerden sind geblieben.

An einem sommerlichen Freitagmorgen sitzt Felix mit seiner Mutter in der Praxis von Daniel Vilser. „Wir werden jetzt einige Untersuchungen machen und sehen, ob organisch alles in Ordnung ist“, sagt der Kinderkardiologe. Vilser leitet die erste Post-Covid- und Long-Covid-Ambulanz für Kinder und Jugendliche in Deutschland, angesiedelt am Universitätsklinikum Jena.

Rechnerisch müssen wir davon ausgehen, dass Zehntausende Kinder an Long Covid erkrankt sind

Seit Start der Ambulanz im März 2021 haben Daniel Vilser und sein Team mehr als 100 Patient:innen im Alter zwischen sieben Monaten und 18 Jahren behandelt, die an Covid-19 erkrankt sind und auch Monate später noch immer mit Beschwerden kämpfen. Heute ist Felix sein erster Patient. „Wir werden einige Untersuchungen machen und sehen, ob organisch alles in Ordnung ist“, sagt Vilser.

Deutschlandweit haben sich bis heute mehr als eine halbe Million Kinder und Jugendliche mit dem Coronavirus infiziert. Auch wenn es bisher keine genauen Zahlen gibt, muss man rein rechnerisch davon ausgehen, dass Zehntausende dieser Kinder auch an Long Covid erkrankt sind. Daniel Vilser ist überzeugt, dass schwere Fälle von Long Covid bei Kindern und Jugendlichen deutlich seltener auftreten als bei Erwachsenen. Dennoch zeigt eine aktuelle britische Studie, dass rund zwei Drittel der untersuchten Elf- bis 17-Jährigen drei Monate nach ihrer Corona-Infektion noch an mindestens einem Symptom leiden. Rund 30 Prozent leiden sogar an mindestens drei Symptomen. Die Spanne der Spätfolgen reicht von leichtem Kopfweh bis hin zu neurologischen Störungen wie nach einem Schlaganfall. Das macht es Ärzt:innen schwer, die richtige Behandlung zu finden. In Jena aber soll sich das ändern. Hier versuchen Vilser und seine Kolleg:innen mit aller Kraft, das Leid der Betroffenen zu lindern.

Auf Kinder und Jugendliche spezialisierte Anlaufstellen gibt es erst wenige.
Viele Betroffene fahren deshalb in die 110.000-Einwohner-Stadt Jena, um sich behandeln zu lassen. Felix und seine Mutter sind 70 Kilometer aus ihrem Heimatort angereist, weil ihr dortiger Kinderarzt nicht viel mit ihm anzufangen wusste. Auf mehrere Wochen ohne Beschwerden folgten immer wieder Tage, an denen Felix 16 Stunden schlief und völlig kraftlos war. Die verschriebenen Medikamente halfen nicht. Weil es immer unübersichtlicher wurde, begann seine Mutter ein Krankentagebuch zu führen.

Der Arzt Daniel Vilser sitzt an einem Bildschirm in seiner Praxis.

Daniel Vilser ist leitender Oberarzt der Kinderklinik in Jena. In seiner Long-Covid-Ambulanz nutzt er ein neues Verfahren, die Dynamische Gefäßanalyse. © Florian Bayer

Daniel Vilser muss mehrmals nachfragen, wann welche Beschwerden neu dazukamen oder wieder verschwanden. „Eine so diffuse Symptomatik ist typisch für Long Covid“, sagt er. Für Felix folgt deshalb ein Untersuchungsmarathon: Er und seine Mutter füllen mehrere Fragebögen aus, es wird ein Ultraschall von Herz und Lunge gemacht und auch ein EKG. Felix muss sich an die Wand lehnen, ein Test, bei dem sich etwaige Kreislaufstörungen zeigen können. Dann spricht er mit den Fachärzt:innen für Gastroenterologie und Rheumatologie.

Bis in den Herbst 2020 hinein hatte Daniel Vilser die jungen Patient:innen in seiner Kardiologie-Sprechstunde betreut, musste sie aber ständig an andere Fachkolleg:innen überweisen, wenn beim EKG und Ultraschall trotz Symptomen nichts herauskam. Für Patient:innen wie Ärzt:innen war das langwierig und ineffizient. So kam die Idee für eine Spezialambulanz auf, mit Expert:innen aus der Kardiologie, Pneumologie, Nierenheilkunde, Neurologie, Gastroenterologie und anderen Fachgebieten. Weil allein die Anamnese schon erheblich länger dauert als bei den meisten anderen Erkrankungen, wird wöchentlich nur eine Handvoll Patient:innen behandelt. Wichtigste Voraussetzung ist ein Krankheitsnachweis aus der Vergangenheit, also ein positiver PCR-Test oder ein Nachweis über Antikörper im Blut. Die in Jena gewonnenen Erkenntnisse fließen in klinische Studien ein und könnten weiteren Erkrankten helfen.

Am frühen Nachmittag bittet Vilser Felix in einen abgedunkelten Raum zur dynamischen Gefäßanalyse an seiner Netzhaut. Diese Diagnostik ist etabliert bei Patienten mit vermuteten Gefäßschäden, etwa infolge von Diabetes oder Herzinsuffizienz. Entwickelt wurde die Netzhautkamera hier in Jena.

„Kaum mehr als eine 50:50 Chance“

„Ganz ruhig halten“, sagt Vilser, und auf dem Bildschirm vor ihm erscheint Felix’ Netzhaut in Großaufnahme. Der Arzt markiert mit der Maus eine Arterie und eine Vene, dann beginnt die Messung. Sie funktioniert wie ein Stroboskop: Rhythmische Lichtblitze treffen auf die Netzhaut. Daraufhin weiten und verengen sich die Gefäße. Anhand dieser Reaktion auf den optischen Reiz kann Vilser erkennen, ob bestimmte Krankheiten vorliegen oder nicht. „Noch experimentell“, sagt er, „aber vielversprechend.“ Vorläufig sieht alles unauffällig aus.

Am Ende aller Untersuchungen gibt es dennoch keinen klaren Befund. „Ich glaube schon, dass die Symptomatik eine Folge der Coronainfektion sein könnte“, sagt Vilser, „aber es ist kaum mehr als eine 50:50 Chance.“ Es kämen auch noch andere Erkrankungen in Frage: Dass Felix oft kaum aus dem Bett kam, kann auch an einer Depression liegen. Die schmerzenden Fingergelenke könnten eine rheumatische Erkrankung sein, andere Symptome eine Folge der langen Lockdowns und der psychischen Belastung. Und doch seien es genau diese diffuse Symptomatik und die beschwerdearmen Wochen, die typisch für Long Covid seien, sagt Vilser.

Links sitzt Felix, der Patient, auf einem weißen Hocker. Rechts sitzt seine Mutter. Sie tragen beide Masken. Im Hintergrund ist die Wand des Wartezimmers zu sehen, auf die eine Meerjungfrau aufgeklebt ist.

Felix, 15, ist an Long Covid erkrankt. Mit seiner Mutter wartet er auf die Ergebnisse seiner Untersuchung in der Long-Covid-Ambulanz in Jena. © Florian Bayer

Felix soll eine Ergotherapie beginnen. Für die Schmerzen in den Händen empfiehlt Vilser, mit Wärme zu arbeiten und mit dem Sport vorsichtig weiterzumachen. Darüber hinaus Schmerzmittel bei Bedarf, ein Medikament, das die Magenschleimhaut schützt, sowie einen weiteren Besuch bei den Experten für Magen-Darm-Erkrankungen. Felix soll wiederkommen, sollten sich die Beschwerden in drei Monaten nicht gebessert haben.

Bei Kindern und Jugendlichen ist Long Covid auch deshalb schwer zu diagnostizieren, weil diese in aller Regel symptomlos an Corona erkranken. Das Coronavirus wird bei ihnen oft zufällig entdeckt, etwa bei Testungen in der Schule oder im Sportverein. Die ansteigenden Zahlen zu Beginn des neuen Schuljahres zeigen, dass es sich bis heute rächt, dass kaum in CO2-Messgeräte, Luftreinigungsgeräte und andere präventive Maßnahmen investiert wurde. Das wird in Jena nun sichtbar: In die Ambulanz kommen viele Schulkinder, die sich bereits vor Monaten angesteckt haben.

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Keinen Termin hat heute der erst neun Monate alte Leo. Seine Mutter kam kurzfristig, geschickt aus einem anderen Krankenhaus, doch Vilser nimmt sich Zeit für eine umfassende Anamnese. Einige Wochen nach Leos Infektion hatte sich ein Hautausschlag entwickelt, erst an Händen und Füßen, dann am ganzen Körper. Das Baby fieberte hoch, bekam zweierlei Antibiotika verschrieben. Als das nichts half, kam jemand auf die Idee eines Antikörpertests – und der war positiv. „Ich war wirklich von den Socken, als mir der Kinderarzt sagte: Leo hat eine Coronainfektion hinter sich“, erzählt seine Mutter. Sie ist alleinerziehend, war Tag und Nacht bei ihm, hat „beim besten Willen keine Ahnung, wie das passiert ist.“ Öffentliche Verkehrsmittel benutze sie nicht, auch sonst habe sie immer achtgegeben, ihre Coronatests waren immer negativ.

Vilser hört Leos Herz und Lunge ab, schaut sich die Herzkranzgefäße mithilfe eines Ultraschalls an. Alles unauffällig. Augenscheinlich geht es Leo momentan besser. Doch die Laborwerte – CRP und Leukozyten – sprechen eine andere Sprache. Der Arzt gibt weitere Untersuchungen in Auftrag, es handle sich aber „sehr wahrscheinlich“ um eine Reaktion auf die Coronainfektion im Sinne eines PIMS. PIMS steht für Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome, eine kindliche Entzündungserkrankung aufgrund einer Überreaktion des Immunsystems.

Derart junge Patienten sind eigentlich die Ausnahme. Die meisten von Vilsers Patient:innen sind im Teenageralter. Viele haben einen Marathon an Arztbesuchen, Medikamenten, Hoffnung und Ernüchterung hinter sich. Sie wünschen sich Klarheit: darüber, tatsächlich an Long Covid erkrankt zu sein oder – und das ist der Regelfall –, dass organisch alles in Ordnung ist. Doch das Problem ist: Selbst Kinder, bei denen keine physiologischen Ursachen festgestellt werden, können an Long Covid erkrankt sein. Eindeutige Biomarker sind bislang nicht bekannt, wenngleich die Forschung auf Hochtouren läuft. Solange es weder klare Mittel zur Diagnose noch zuverlässige Medikamente zur Behandlung von Long Covid gibt, bleibt den Ärzt:innen nichts anderes übrig, als andere organische Ursachen auszuschließen und einzelne Symptome zu bekämpfen. Wer wissen möchte, ob er an Long Covid erkrankt ist, sollte also vor allem die Beschwerden gut lesen können.

Micheal Lorenz trägt einen weißen Arztkittel und eine schwarze Brille. Er lächelt freundlich.

Michael Lorenz ist Pneumologe, also Lungenarzt. Gemeinsam mit weiteren Fachärzt:innen sucht er nach der besten Behandlung für Kinder und Jugendliche, die an Long Covid leiden. © Florian Bayer

Besonders häufig sei bei Kindern die Atemnot, sagt Lungenarzt Michael Lorenz, ebenfalls Teil des Ambulanzteams. „Viele haben eine Belastungsluftnot, die wir nur in den seltensten Fällen in der Lungenfunktionsmessung objektivieren können. In aller Regel sind es nicht die großen Organschäden, sondern immunologische Prozesse, die wir erst beginnen zu verstehen.“ Dass es so lange dauert, die Krankheit zu verstehen, liegt auch daran, dass anders als bei Erwachsenen zu Kindern kaum Daten vorliegen. Der Grund: Sie landen nur in den seltensten Fällen auf den Intensivstationen. Deshalb arbeitet Lorenz auch viel nach dem Ausschlussprinzip. Eines hat Lorenz bereits gelernt: Inhalative Therapien helfen nicht grundsätzlich.

Kindern wird oft nicht geglaubt, dass sie sich krank fühlen

Einen Lichtblick gibt es aber, und zwar die Coronaimpfungen. Ersten Studienergebnissen zufolge reduzieren sich Fälle von Long Covid bei geimpften Erwachsenen nach einer Infektion um die Hälfte. „Ich denke, dass das bei Kindern ähnlich sein wird“, sagt Vilser. Derzeit sind die Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna für Jugendliche ab zwölf Jahren zugelassen, doch Zulassungsstudien auch für Fünf- bis Elfjährige laufen auf Hochtouren. Erste Ergebnisse sind vielversprechend, eine EU-Zulassung könnte bereits in einigen Wochen kommen.

Dass man insgesamt aber noch so wenig über die Krankheit weiß, macht sie zu einem Phantom – und das hat auch psychische Konsequenzen. Hat man etwa ein Loch im Herzen, sprechen andere ihr Mitleid aus. Bei einer schwammigen, aber ebenso quälenden Symptomatik, die keinen Namen hat und nur schwer messbar ist, nehmen viele die Kinder nicht ernst. Sie müssen erst ihren Eltern klarmachen, dass etwas nicht in Ordnung ist und dann die Ärzt:innen überzeugen, dass es ihnen trotz schlecht nachvollziehbarer Symptome wirklich nicht gut geht. „Einem 40-Jährigen, der seine Beschwerden schildert, wird eher geglaubt als einem Fünfjährigen“, sagt Vilser. Deshalb ist es ihm besonders wichtig, sich Zeit zu nehmen: „Diagnose gestellt, Tür auf, nächster Patient, das gibt es hier nicht“, sagt Vilser.

Für Vilser steht aber auch fest, dass die Angst vor Covid-19 und den Folgeerkrankungen nicht zu einer Isolation von Kindern führen darf, sollten etwa die Schulen wieder schließen. „Die dadurch entstehenden Schäden an der Gesellschaft würden mit Sicherheit höher ausfallen“, sagt der Ambulanzleiter. Wichtiger sei, dass gerade jetzt trotz der Rückkehr zur Normalität weiter Hygienemaßnahmen eingehalten und Masken getragen werden. Nur so kann man die Krankheit mit den vielen Gesichtern bekämpfen. „Der Leidensdruck bei Betroffenen ist enorm“, sagt Vilser. Denn auch, wenn die Untersuchungsergebnisse oft nicht eindeutig seien, „die Beschwerden sind sehr real.“


Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert

Kann man Kinder mit Long Covid heilen?

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