Jetzt ist es eine Pandemie der Kinder. Klar: Weil sie sich noch nicht impfen lassen können. Deshalb stellen sich alle Eltern, Lehrer:innen und Schüler:innen dieselbe Frage: Soll die Infektion von Kindern um jeden Preis vermieden werden – oder kann man Infektionen akzeptieren, weil das Risiko, schwer zu erkranken, für Kinder geringer ist?
In meinem Newsletter geht es heute um Covid-19 bei Kindern, ihre Immunantwort, um mögliche Schulschließungen, ums Impfen und um Solidarität. Das alles kurz und knapp, abgeschlossen mit einem Arschtritt.
Ah, stopp. Bevor wir anfangen, muss ich einmal darauf hinweisen, wie absurd undifferenziert mittlerweile über die obige Frage diskutiert wird. Zwischen „Das ist die Durchseuchung aller Kinder!“ und „Alle Maßnahmen stoppen!“ ist kaum noch Platz für Zwischentöne. Die lassen sich nämlich schlecht schreien. Ich versuche es heute trotzdem.
Kinderkörper sind stärker als gedacht, zeigt eine neue Studie
Das Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken, ist bei Kindern deutlich geringer als bei Erwachsenen. Das Risiko, daran zu sterben, sogar noch geringer. Das liegt etwa bei ein bis drei pro 100.000 infizierten Kindern, sagt Berit Lange vom Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung bei einer Pressekonferenz vom Science Media Center am Montagmorgen.
Bei dieser Konferenz saß auch Jörg Dötsch. Dötsch ist Direktor der Kinderklinik an der Uniklinik Köln und hat die Verläufe bei Kindern deshalb im Blick. Er sagt: „Es gibt keinen Grund, in Panik zu verfallen.“ Er schiebt aber hinterher, dass das nur unter einer Bedingung gilt. Dazu gleich mehr.
Das ist ein Newsletter von Bent Freiwald. Parallel zu unseren langen Magazin-Texten verschicken unsere Reporter:innen immer wieder kurze Analysen, Meinungsbeiträge und Rechercheskizzen, die einen Blick in ihre Arbeit hinter den langen Stücken ermöglichen. Manche der Newsletter sind Kickstarter für anschließende, tiefere Recherchen.
Eine Erklärung, warum Kinder weniger heftige Verläufe haben, liefert er auch:
Das Immunsystem ist bei Kindern eigentlich erst ab einem Alter von 12 Jahren vollständig ausgeprägt. Allerdings greifen die Schleimhäute von Kindern früher in die Immunabwehr ein als bei Erwachsenen. Dort werden die Viren schon frühzeitig bekämpft und können deshalb im Körper weniger Schaden anrichten. Das hat auch eine neue Studie der Charité in Berlin gezeigt. Außerdem sei das Gefäßsystem bei Kindern noch intakt – und kann sich deshalb besser wehren. Das sind alles gute Nachrichten. Ein Risiko bleibt trotzdem. Womit wir bei den Schulen wären.
Keiner will geschlossene Schulen
Wir konnten uns in den letzten Monaten bei der Kultusministerkonferenz auf nicht viel verlassen, aber darauf schon: auf ihre Bekenntnisse, den Präsenzunterricht aufrecht erhalten zu wollen. Nur zu dem Wie hörte ich selten etwas. Klar ist: Das Bekenntnis steht immer noch.
„Bevor nochmal eine Schule geschlossen wird, müssen alle anderen Bereiche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens geschlossen werden“, sagt auch Jörg Dötsch.
Um Kitas und Schulen offen zu halten, gibt es neben den bekannten Hygieneregeln verschiedene Maßnahmen: Kohortenregelung in den Innenräumen, regelmäßige Tests, Quarantäne, Masken, Stoßlüften oder mobile Luftfilter. Zu jeder einzelnen dieser Maßnahmen könnte ich einen eigenen Newsletter schreiben. Ich möchte mich aber auf eine Maßnahme konzentrieren, die seit dem Ende der Sommerferien in den meisten Bundesländern zu Verwirrung und Diskussion geführt hat: Wann und wer sollte bei einem positiven Fall in Quarantäne? Und wie lange?
Wer soll noch in Quarantäne: Eine:r oder alle?
Am 31. August waren circa 30.000 Schulkinder in Quarantäne. Wenn das so weitergeht – was nutzen da noch offene Schulen? Kindern ist es egal, ob sie wegen Schulschließungen zu Hause sitzen oder wegen Quarantäne. Zwei bekannte Lösungsvorschläge gibt es.
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Bei einem positiven Fall geht gleich die ganze Klasse in Quarantäne, aber nur für fünf Tage. Dann wird freigetestet. Diesen Vorschlag machte Christian Drosten schon vor einem Jahr. Karl Lauterbach hat ihn jetzt im Deutschlandfunk wiederholt.
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Bei einem positiven Fall sollen nur noch diejenigen in Quarantäne, die positiv getestet wurden – ohne weitere Kontaktverfolgung. Das hatten Berliner Amtsärzte vorgeschlagen. Mittlerweile sind sie zurückgerudert. Auch die Stadt Köln überlegt, so zu handeln. Das Hauptargument: Es hätte sich gezeigt, dass es in der Schule kaum zu einer Weiterverbreitung des Virus kommt. Und hier wird es spannend.
Wenn sich ein Kind in der Schule infiziert, wie hoch ist das Risiko, dass sich ein anderes Kind ansteckt? Im privaten Bereich liegt diese Wahrscheinlichkeit, so Berit Lange, bei 25 bis 40 Prozent. In Schulen liegt es nur bei ein bis drei Prozent. Man würde also 50 bis 100 Kinder in Quarantäne schicken, um rechnerisch einen positiven Fall zu entdecken. Eine Treffgenauigkeit, die man durchaus hinterfragen kann, sagt Lange.
Welche von diesen beiden Ideen die richtige ist? Keine Ahnung. Für beide Vorschläge gibt es aber gute Argumente. Drosten und Lauterbach ist der Präsenzunterricht weder egal, noch wollen die Berliner Amtsärzte die Kinder durchseuchen.
Die Verantwortung liegt bei den Erwachsenen – nicht den Kindern
Bei der Pressekonferenz heute Morgen ging es eigentlich um medizinische Aspekte. Mich hat trotzdem bewegt, was der Kinderarzt Jörg Dötsch über die Verantwortung der Erwachsenen gesagt hat. Deshalb kommt hier der angekündigte Arschtritt. Denn natürlich können wir noch ganz lange über Quarantäneregeln, Masken und Luftfilter diskutieren. Und wie viele Infektionen die verhindern können. Wir können uns aber auch ehrlich machen und darüber reden, dass wir Erwachsenen Infektionen verhindern müssen – und nicht unsere Kinder. Was Dötsch dazu sagt:
„Es kann nicht sein, dass wir Erwachsene alle Freiheiten für uns beanspruchen und glauben, dass die Kinder uns wieder retten. Man denke daran, wie viele tausende Infektionen die EM-Spiele verursacht haben. Mit Ansage! Ich halte das für extrem unsolidarisch.“
Die Verantwortung dafür, wie es im Herbst und Winter in den Schulen aussieht, liegt also bei uns. Bei uns Erwachsenen in der Politik und bei uns Erwachsenen, die nicht in der Politik sind. Der sind wir bisher kaum nachgekommen.
Nur ein Beispiel: Stationäre Luftfilter werden in Amtsgebäuden seit Oktober 2020 gefördert, in Schulen und Kitas erst seit Juni 2021.
Die Langzeitfolgen
Tatsächlich ist Corona für sehr junge Menschen nach allem, was man weiß, deutlich weniger bedrohlich als für ältere. Aber harmlos ist das Virus deshalb überhaupt nicht, auch weil laut der weltweit größten Studie zu Long Covid bei Kindern (hier der Preprint) eins von sieben Kindern auch drei Monate nach der Infektion noch Symptome zeigt. Und selbst da gibt es noch viele Fragezeichen.
Sollte man jetzt panisch hochrechnen, wie viele Kinder das in Deutschland wären und diese Zahl als einziges Argument in die laute Debatte um Kinder werfen? Nein. Denn auch eineinhalb Jahre nach Start der Pandemie ist die Infektion mit dem Virus nicht das einzige Risiko, das es in dieser Pandemie gibt.
Wer sich damit ausführlicher beschäftigen will, kann das tun: Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung hat jetzt eine Übersichtsstudie zur Belastung von Kindern, Jugendlichen und Eltern veröffentlicht. Nur ein Zitat daraus: „Vor dem Lockdown, im Jahr 2018/19, hatten 10,2 Prozent der Jugendlichen klinisch relevante, depressive Symptome. […] Im Frühjahr 2020 stieg dieser Anteil auf 25,2 Prozent an.“
Redaktion: Lisa McMinn, Audioversion: Christian Melchert