Eine einzelne, männlich gelesene Person sitzt im Abendrot auf einer Erhebung vor einer Stadt.

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Psyche und Gesundheit

Liebe ist für mich lebensgefährlich

Kaum eine meiner letzten Beziehungen hielt länger als drei Monate. Bei jeder zweiten landete ich in der Psychiatrie.

Profilbild von Martin Gommel
Reporter für psychische Gesundheit

Ich liege in einem Krankenhausbett und starre an die Decke, als ich ein lautes Klopfen höre. „Ja?“ Ich drehe mich zur Tür und herein tritt eine Frau mit braunen, neugierigen Augen und schneeweißen Sneakers. Sie lächelt und setzt sich auf den klapprigen Krankenhausstuhl neben meinem Bett. Sie öffnet eine schwarze Mappe, doppelklickt ihren Kugelschreiber und schaut mich erwartungsvoll an. „Guten Morgen, Herr Gommel! Wie geht es ihnen?“

Auf ihre gute Laune habe ich überhaupt keine Lust – aber ich weiß sofort, wer sie ist. Ob sie sich auch noch an mich erinnert? Denn ich bin nicht zum ersten Mal hier, auf dieser psychiatrischen Station, auf die mich meine Depressionen gebracht haben. Und ich spreche nicht zum ersten Mal mit dieser Frau, der Stationspsychologin, die mich auch bei meinem letzten mehrwöchigen Klinikaufenthalt betreut hatte. Müde erzähle ich ihr von meinem Nervenzusammenbruch, dem tagelangen Weinen und dem Notarzt, der mich schließlich in die Klinik brachte. Und ich berichte ihr von meiner neuen Partnerin, in die ich mich zwei Monate zuvor unsterblich verliebt habe.

Sie denkt nach, das sehe ich, denn sie spricht nicht, sondern kritzelt irgendwas in ihre Mappe. Dann blickt sie auf.
„Herr Gommel, kann es sein, dass sie sich in neuen Beziehungen immer extrem verlieben?“
Was für eine unangenehme Frage.
„Fällt es ihnen schwer, sich von ihren neuen Partnerinnen abzugrenzen?“
Ich würde mich jetzt gerne unter der Bettdecke verkriechen. Aber die Psychologin lässt nicht locker.
„Und kann es sein, dass sie sich so lange nicht abgrenzen, bis sie es nicht mehr aushalten und die maximale Abgrenzung brauchen – nämlich die Wände dieser Psychiatrie?“

Mein Herz schlägt auf einmal so laut, wie es immer schlägt, wenn mir jemand etwas sagt, das mein Innerstes trifft. Noch bevor ich denken kann, reagiert mein Körper: Mein Puls steigt, meine Wangen erröten. Sie hat einen wunden Punkt getroffen. Doch ich bekomme den Mund nicht auf, weil ich in meinem Kopf alle bisherigen Liebesbeziehungen im Schnelldurchlauf miteinander abgleiche. Die Fragen der Psychologin arbeiten in mir.

Heute ist das Gespräch mit der Psychologin viele Jahre her. Doch die Fragen arbeiten noch immer in mir.

Mich zu verlieben, ist meine Droge

Wenn ich mich in eine Frau verliebe und sich eine Beziehung anbahnt, gerät mein Leben buchstäblich außer Kontrolle. Schon nach wenigen Tagen empfinde ich eine vertraute Verbundenheit und bald denke ich, dass ich die Person liebe und endlich die Frau gefunden habe, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen werde. Alles an ihr ist so Glitzer, so schön, so fabelhaft!

Leider bleibt es nicht lange bei den positiven Gefühlen.

Von vielen anderen Menschen kenne ich es so: Sie glauben, nicht komplett zu sein, wenn sie keine Partner:in haben. Zwar kommen sie im Alltag gut alleine klar, aber sie wünschen sich eine Liebesbeziehung, um so richtig glücklich zu sein.

Auch ich habe dieses Ideal verfolgt. Doch der Effekt scheint bei mir umgekehrt. Wenn ich eine neue Beziehung beginne, dann fühle ich mich twentyfourseven unvollständig, weil ich die Person so unsäglich vermisse. Sie ist wie eine Droge, die nach dem ersten Kuss-Konsum sofort abhängig macht. Ein Leben ohne ist von heute auf morgen unvorstellbar.

Und dann packt mich die Eifersucht. Wegen Kleinigkeiten. Objektiv gesehen. Nur ist, wenn ich verliebt bin, eben nichts mehr objektiv. In der Psychotherapie habe ich gelernt, diese Gedanken und Gefühle nicht zu verdrängen, denn das macht es nicht besser. Ich spreche mit meiner Partnerin offen darüber und schildere, was in mir vorgeht. Ich fordere nichts ein, sondern erkläre die Eifersucht von Beginn an zu meinem persönlichen, nicht unserem gemeinsamen Problem. Denn das ist sie auch.

Ich bin gut darin, über meine Gefühle zu sprechen, davor habe ich keine Angst. Allerdings öffne ich mich in den ersten Wochen der Beziehung zu schnell – und oft zu weit. Ich spreche etwa über mein Kindheitstrauma. Harter Stoff. Meist versuche ich schon, mich zu bremsen, aber wenn meine Partnerin nachhakt, poltert alles aus mir heraus. Und weil das jedes Mal alte Wunden aufreißt, muss ich dabei weinen.

Mein Therapeut sagte mir vor ein paar Monaten: „Martin, das Verlieben, das Vermissen und die Eifersucht sind normal. Das erleben andere auch. Doch du erlebst das alles zehnmal intensiver.“ Genau das ist mein Problem: Die alles vereinnahmende Intensität. Jahrelang habe ich versucht, sie loszuwerden. Zunächst mit radikaler Akzeptanz, dann mit dem Hinterfragen und Auseinandernehmen meiner Gedanken und Gefühle, mit Bauchatmung, Selbsthypnose, Meditation, darüber Schreiben – verdammt nochmal, ich habe sogar zu Gott gebetet.

Nichts half. Wie ich Liebe erlebe, kann ich nicht ändern.

Eine männlich gelesene Person steht vor der Silhoutte eines Berges

© unsplash/ Rasmus Smedstrup Mortensen

Ich schaffe es nicht, mich abzugrenzen

Die Psychologin hatte wohl recht. Ich fühle zu viel – und deshalb kann ich mich von der neuen Liebschaft nicht abgrenzen. Der Kontakt zu meinem Bruder, mit dem ich normalerweise täglich Sprachnachrichten austausche, schläft rasch ein. Ich rühre meine Gitarre nicht mehr an, lasse das Keyboard liegen, obwohl Musik aus meinem Leben nicht wegzudenken ist. Seit meiner Kindheit schreibe ich eigene Lieder.

Wenn ich verliebt bin, verliere ich ab Tag 1 Gewicht, und zwar nicht wenig. Mein Hungergefühl schrumpft auf ein Minimum. Und weil ich ohnehin ein bisschen übergewichtig bin, stört mich das auch nicht. Allerdings tut mir das überhaupt nicht gut, wenn ich so selten esse, denn ich bin schneller gekränkt, traurig und unruhig. Ein Teufelskreis.

Bei der Arbeit stehe ich an manchen Tagen komplett neben mir. Konzentrieren kann ich mich nicht. Stattdessen gucke ich tausendmal aufs Handy und warte hibbelig auf neue Nachrichten. Mit den Gedanken bin ich kaum im Hier und Jetzt, sondern nur bei meiner Partnerin.

Außerdem bringe ich es kaum über die Lippen, Nein zu sagen. Ich spüre mich selbst kaum noch. Meine Wünsche und Bedürfnisse lösen sich in Luft auf und deshalb merke ich nicht, wenn ich mal ein Wochenende alleine für mich in meiner Wohnung bräuchte, mal wieder Freund:innen treffen oder länger an einem Projekt arbeiten wollen würde.

Ich vernachlässige
meinen Körper,
meine Hobbys,
meine Freunde,
mein Zuhause,
meine Arbeit,
mein ganzes Leben.

Interessanterweise verliebe ich mich meistens in Frauen, die mir darin ähnlich sind. Wir verzehren uns vor lauter Sehnsucht nacheinander, wollen uns so schnell und oft wie möglich sehen und besprechen, wann wir zusammenziehen. Nach drei Wochen. Hellooooo?

Es ist für mich lebensgefährlich, mich zu verlieben

Nicht immer, aber immer öfter folgt der Worst Case. Meine Depressionen melden sich an – und nicht wieder ab. Ich reagiere immer dünnhäutiger; unscheinbare Bemerkungen meiner Partnerin verletzen mich zutiefst. Das Gekränktsein, meine Eifersucht und das Vermissen wachsen wie eine Lawine zu einem kolossalen Schmerz – und durchstechen mein ganzes Sein. Ich weine ununterbrochen, bekomme drückende Schuldgefühle und spüre körperlich, dass ich ans Ende meiner Kräfte komme.

Und dann geht alles sehr schnell.

Ein Nervenzusammenbruch nach dem nächsten erschüttern mich – und somit auch meine Partnerin. Es fühlt sich so an, als ob mir jemand immer wieder Messer in den Brustkorb schiebt. So lange, bis ich merke, dass ich das Stechen nicht mehr lange aushalten kann. Wenn es richtig scheiße läuft, melden sich erste Suizidgedanken. Ich muss dringend raus aus meinem Körper, hinein in die Freiheit, wo keine Schmerzen sind. Nicht, weil ich sterben will. Sondern weil ich es in mir drin nicht mehr aushalte.

Darauf folgt der sogenannte depressive Stupor. Meine Hände, Beine, mein Rücken, Kopf, Arme, meine Füße, mein Bauch und irgendwann auch meine Gefühle werden gleichzeitig taub und kalt. Der Körper schiebt dem Schmerz einen Riegel vor und verbietet mir jede noch so kleine Bewegung. Allerspätestens jetzt muss ich ins Krankenhaus.

Maximale Abgrenzung.

Es gibt nur eine Lösung: das Ende der Beziehung

Der erste Schritt aus dieser Hölle ist die Aufnahme in der Psychiatrie. Der finale Schritt ist das Ende der Beziehung. Entweder macht meine Freundin Schluss – weil sie es nicht mehr mit mir aushält (was ich verstehen kann, denn ich bin in dieser Zeit kein guter Partner) – oder ich.

Trennungen sind messy, das geht allen Menschen so. Ich bin mittlerweile gut darin, sie zu verarbeiten. Ich stelle mich der Trauer und den Erinnerungen. Sie prasseln wie feine Hagelkörner auf mich ein. Ich schreibe alles auf, bis es besser wird. Ich telefoniere jeden Tag mit meinem besten Freund und jeden zweiten mit meinem Therapeuten – bis es vorbei ist.

Die letzten sechs Beziehungen gingen innerhalb von drei Monaten in die Brüche. Nach jeder zweiten landete ich in der Psychiatrie. Verlieben ist ein Spiel mit dem Feuer, das mich das Leben kosten könnte. Mein Therapeut sagte mir einmal: „Martin, ich mache mir keine Sorgen, wenn du eine Beziehung beendest. Ich mache mir Sorgen, wenn du dich neu verliebst.“

Sobald ich Single bin, blühe ich auf

Nach meiner letzten Trennung im Januar ertappte ich mich dabei, wie ich meinem besten Freund eines Abends erzählte, dass es vielleicht nicht sinnvoll für mich ist, eine Beziehung zu führen. Nicht nur jetzt, sondern generell. Im selben Moment spürte ich, wie beruhigend dieser Gedanke für mich war. Und das spüre ich noch heute, im Sommer 2021.

Sobald ich Single bin, geht es mir besser. Ich blühe auf. Schon einen Tag nach der schlimmsten Trennung erlebe ich große Erleichterung. Nicht, weil die andere Person so schlimm für mich war, sondern weil ich selbst so schlimm für mich war.

Das macht sich auch an meinem Therapiebedarf bemerkbar. Sobald ich eine Beziehung starte, telefoniere ich zweimal pro Woche mit meinem Therapeuten. Mindestens. Ohne Partnerschaft brauche ich kaum psychotherapeutische Begleitung. Wenn ich wieder Single bin, geht es mir, nunja, ich würde sagen um gefühlt 70 Prozent besser. Ich werde aktiver, schreibe neue Lieder und vor allem: Ich freue mich auf die Arbeit!

Aber warum fühle ich so viel Schmerz und Leid in Liebesbeziehungen? In keinem anderen Lebensbereich habe ich diese Symptome. Ich rufe meinen Psychotherapeuten Johannes an, der mich seit vier Jahren begleitet.

Wir schauen uns noch einmal meine Kindheit an. Jahrelang wurde ich von einer wichtigen erwachsenen Bezugsperson geschlagen, misshandelt und emotional erpresst. Doch es gibt auch eine genetische Seite. In der Familie meiner Mutter leidet jede:r Zweite an Depressionen. Eine meiner Cousinen nahm sich das Leben.

Am Ende unseres Gesprächs äußert Johannes vorsichtig eine Vermutung: „Es kann sein, dass du zusätzlich zu deiner veranlagten Neigung zur Depression eine posttraumatische Belastungsstörung hast. Vielleicht ist es auch eine Traumafolgestörung. Aber deine Symptome und Geschichte deuten darauf hin, dass du als Kind von einer wichtigen Person so fertiggemacht wurdest, dass Liebesbeziehungen genau dieses Trauma triggern.“

Eigentlich glaube ich an die Liebe meines Lebens

Ja, es geht mir besser, wenn ich alleine bin. Aber eigentlich möchte ich das nicht. In mir ist immer noch dieser Wunsch: Ich möchte zu zweit durchs Leben gehen. Der tägliche Gedankenaustausch, die emotional-körperliche Nähe und das Miteinander – das sind mein Ideale. Ich habe schon immer von der Liebe meines Lebens geträumt. Ja, ich hoffte, dass es die Eine gibt, die ich nur finden muss.

Aber die Kosten sind mir zu hoch. Für die Liebe meines Lebens kann ich nicht mit dem Leben bezahlen, wenn doch schon auf der Suche danach meine Depression kickt. Deshalb habe ich mich dafür entschieden, Single zu bleiben. Dieses Jahr. Es ist ein Versuch. Vielleicht schaffe ich auch die nächsten Jahre. Vielleicht bleibe ich sogar für immer allein.

Denn eines ist sicher: Ich war noch nie in der Psychiatrie und gleichzeitig Single. Noch nie suizidal und gleichzeitig Single. Noch nie Single und depressiv.

Es reicht allerdings nicht, Tinder und OkCupid vom Handy zu schmeißen. Das bedeutet auch, dass ich Gelegenheiten nicht wahrnehme, die sich im Real Life ergeben. Es bedeutet, auf Möglichkeiten und klare Interessensbekundungen nicht einzugehen, Gespräche versanden zu lassen und Menschen ziehen zu lassen. Vielleicht sogar die Liebe meines Lebens. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Wichtig ist, dass es mir gut geht und dass ich meiner Krankheit keine fucking Chance mehr biete.

Ich will es mir schön machen in diesem Leben. Ich will ein guter Vater für meine Kinder sein. Ein guter Erzieher in der Kita und ein guter Reporter für psychische Gesundheit. Ich will noch viele Lieder schreiben und vielleicht nächstes Jahr eine Platte veröffentlichen.

Das alles ist genug für mich. Ich bin genug.


Bitte sprich mit anderen Menschen darüber, wenn du an Suizid denkst.
Psychiater:innen, Psychotherapeut:innen und Hausärzt:innen können dir im Notfall helfen. Eine gute Übersicht der Hilfsangebote findest du hier. Im Zweifel empfehle ich, den Notdienst (in Deutschland die 112) anzurufen. Die Telefonseelsorge erreichst du unter den Nummer 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222. Der Anruf ist kostenlos und erscheint nicht auf der Telefonrechnung. Für Kinder und Jugendliche gibt es es die Youth-Life-Line und Montag bis Samstag von 14 bis 20 Uhr die Nummer gegen Kummer: 0800 1110333 und die 116111.


Redaktion: Lisa McMinn; Bildredaktion: Till Rimmele; Schlussredaktion: Susan Mücke; Audioversion: Iris Hochberger

Liebe ist für mich lebensgefährlich

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