Corona macht den Blick eng. Auch unseren. Lange Zeit haben wir auf lokale Infektionszahlen geschaut, Ministerpräsident:innenrunden analysiert und deutsche Coronaverschwörungsanhänger:innen zu verstehen versucht.
Manchmal gelang es uns, unseren Blick zu weiten: Warum kam Südkorea so gut durch die erste Welle? Was haben Vietnam, die Mongolei und Ruanda so erstaunlich gut gemacht? Und was passiert mit ärmeren Ländern, wenn sich Industrienation fast alle Chargen des ersten Impfstoffs sichern?
Wie ungleich die medizinischen Voraussetzungen in einer ungleichen Welt sind, darauf macht dieser Text aufmerksam. Er stammt von Mark Shrime, einem Medizinprofessor in Dublin. Shrime beschreibt, wie seit Jahren Ärzt:innen aus armen Ländern in den Westen migrieren und stark geschwächte Gesundheitssysteme zurücklassen. Ein Trend, der sich in der Pandemie noch verstärkt hat. Wir haben den Text übersetzt und mit Anmerkungen versehen (das sind die kleinen „i“ am Ende der Absätze).
Dr. John Baptist Mukasa, oder JB Neuro, wie ihn seine Kollegen nannten, „war immer für alle da, die neurochirurgische Hilfe brauchten“, so beschrieb es seine Kollegin Dr. Sabrina Kitaka. Mukasa starb am 29. Juni an Covid-19, inmitten der bisher tödlichsten Welle in Uganda. Sein Tod beraubte die medizinische Gemeinschaft des Landes eines Freundes und Mentoren.
Außerdem verringerte sich die Gesamtzahl der Neurochirurgen in Uganda um genau 25 Prozent.
https://twitter.com/SabrinaKitaka/status/1409883071038566401
In Uganda, einem Land mit 44 Millionen Einwohner:innen, gibt es nur noch drei Neurochirurgen (manche Schätzungen gehen auch von bis zu zehn aus). Ein Vergleich: In Kanada (35 Millionen Einwohner:innen) gibt es über 150. Das Columbia Presbyterian Hospital in New York City, an dem ich meine Facharztausbildung absolvierte, hat allein in einer Abteilung 15 Neurochirurg:innen.
Für dieses Missverhältnis gibt es viele Gründe: in Ländern wie Uganda gibt es zu wenige Ausbildungseinrichtungen und zu wenige Kliniken für komplexe chirurgische Behandlungen.
Und da ist dann noch der Braindrain – die Abwanderung von Fachkräften aus einem Land in andere, meist wohlhabendere Länder.
Migration von Ärzten aus Herkunftsländern (orange) in Zielländer (grün). © Saluja, Rudolfson, Massenburg, Meara, Shrime/BMJ Global Health, CC BY-NC
Eine-Multi-Milliarden-Dollar-Industrie
Es gibt viele Gründe, warum Ärzt:innen auswandern: ein höheres Gehalt, Zugang zu Bildung, stabilere politische Verhältnisse, ein besserer Lebensstandard, eine höhere Lebensqualität und mehr Sicherheit – all das lockt sie aus ihrer Heimat weg und oft in Länder, die sie in früheren Zeiten kolonisiert haben.
Es handelt sich um eine Multi-Milliarden-Dollar-Industrie. Kürzlich haben meine Kollegen und ich eine Schätzung veröffentlicht, wie groß die wirtschaftlichen Auswirkungen der Abwanderung von Ärzt:innen sind (wir hatten nicht genügend Informationen, um die Abwanderung von Krankenpfleger:innen oder anderen medizinischen Fachkräften zu untersuchen). Wir kamen zu dem Ergebnis, dass den Ländern dadurch jährlich zwischen 3,4 und 38 Milliarden US-Dollar verloren gehen. Die meisten Ärzt:innen, die abwandern, stammen aus Indien, Nigeria, Pakistan und Südafrika.
Mit anderen Worten: Die Ankunftsländer profitieren nicht nur von gut ausgebildeten, erfahrenen Fachkräften – sie erlegen den Volkswirtschaften der Herkunftsländer auch eine Art Steuer auf. Und das alles für das Privileg, ihr klinisches Personal abwerben zu dürfen.
Im Jahr 2010 vereinbarte die Weltgesundheitsorganisation den Globalen Verhaltenskodex für die internationale Anwerbung von Gesundheitspersonal. Diese Vereinbarung ermutigte die Herkunftsländer, ihr Gesundheitspersonal zu halten, indem sie Ausbildungsqualität, Lebensstandard und Arbeitsbedingungen verbesserten (die Vereinbarung ging leider nicht darauf ein, wie dies angesichts der begrenzten Ressourcen erreicht werden könnte). Das Abkommen ermutigte die Zielländer außerdem, keine Arbeitskräfte aus Ländern anzuwerben, in denen ein Mangel an medizinischen Fachkräften herrscht.
Das ist jedoch nie geschehen. Vielmehr wurden zu Beginn der Coronapandemie verstärkt Ärzt:innen aus diesen Herkunftsländern angeworben, als das Ausmaß der Krise deutlich wurde.
Zuerst verschonte die Pandemie die ärmeren Länder
Die Pandemie traf zuerst die reicheren Länder in Europa und Nordamerika hart: Italien, Spanien und New York City wurden von ihr heimgesucht, während die afrikanischen Länder relativ unbeschadet blieben. Das wirkte fast wie ein Wunder.
Rufe nach medizinischem Fachpersonal aus ärmeren Regionen wurden schnell lauter, um die Last der Pandemie in diesen wohlhabenderen Ländern zu schultern – unter Missachtung des WHO-Kodexes. Diese Aufrufe gingen über eine einfache Anwerbung hinaus. Einige boten zusätzliche Anreize, um Ärzt:innen zum Bleiben zu bewegen: Das Vereinigte Königreich beispielsweise beschleunigte die Registrierung von geflüchteten Ärzt:innen, die außerhalb des Landes ausgebildet wurden.
Jetzt, da die Pandemie wieder in Afrika, Indien und anderen Teilen der Welt wütet, haben die wohlhabenderen Länder diesen Gefallen nicht erwidert.
Seit ich an diesem Artikel arbeite, hat Uganda auch einen 36-jährigen HNO-Chirurgen, Dr. Ian Bwete Apuuli, verloren. Während der Pandemie führte er Tracheotomien, also Luftröhrenschnitte, bei Covid-Patienten durch, damit diese ohne künstliche Beatmung Luft bekommen.
Doch bei Tracheotomien entstehen Aerosole, und Aerosole übertragen Infektionen. Apuuli erlag der Krankheit. Uganda hat jetzt nur noch einen Chirurgen, der in der Lage ist, Tumore im Kopf und am Hals zu entfernen.
Die Abwanderung von medizinischen Fachkräften aus denjenigen Ländern, die sich so einen Verlust kaum leisten können, ist keine nüchterne ökonomische Diskussion. Wenn wir reichen westlichen Gesellschaften Ärzt:innen aktiv dazu bewegen, nicht nur zu kommen und zu helfen, sondern zu kommen und zu bleiben, hat das eine bleibende Wirkung. Es geht um mehr als Geld. Wir untergraben die Gesundheitssysteme der Länder, die diese Ärzt:innen zurücklassen.
Mark Shrime hält den Lehrstuhl für „Global Surgery“ am Royal College of Surgeons in Dublin, Irland. Transparenzhinweis: Shrime erhält Förderung von der Iris O’Brien-Stiftung und hat einen Sitz im Aufsichtsrat von Pharos Global Health Advisors.
Dieser Artikel ist zuerst auf Englisch bei The Conversation erschienen. Hier könnt ihr den Originalartikel lesen.
Übersetzung und Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Theresa Bäuerlein; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert