Oft fängt es recht unspektakulär an, etwa so: Eine junge Frau, nennen wir sie Hanna, wird von ihrem Freund verlassen. Ihr Liebeskummer nimmt ihr den Appetit, sie schläft schlecht, kann sich zu nichts aufraffen. Einfach zu Hause bleiben, mit einer Freundin zusammen weinen und hoffen, dass es bald besser wird, wäre für sie vielleicht erst mal das Richtige. Aber für ihren Arbeitgeber braucht sie einen gelben Schein, eine Krankschreibung. Also schleppt sie sich zu ihrem Hausarzt. Der schreibt sie einige Tage krank.
Doch der Hausarzt hat ein Problem: Liebeskummer ist keine anerkannte Krankheit. Der Arzt sieht zwar, dass Hanna in diesem Zustand nicht arbeitsfähig ist, aber er muss auch eine medizinische Diagnose finden, die Hannas Beschwerden möglichst nahe kommt. Er entscheidet sich für die Diagnose „Akute Belastungsreaktion“, also eine vorübergehende Störung, die sich durch eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung entwickeln kann und meistens nach einigen Tagen wieder abklingt. Auf der Krankmeldung notiert er den entsprechenden Code für die Krankenkasse: F43.
Der Hausarzt hofft, dass Hanna die kurze Auszeit für die Bewältigung des Trennungsschmerzes reicht. Aber er ist skeptisch. Denn er kennt Hanna schon seit ihrer Kindheit und weiß, dass sie durch ihre Familiensituation schon immer sehr belastet war. Und richtig: Wenig später sitzt Hanna wieder vor ihm und bittet um eine weitere Krankschreibung. Wäre es jetzt nicht an der Zeit, Hanna zur Psychotherapie zu schicken?
Weil Psychotherapieplätze fehlen und qualifizierte Behandlungen durch Ärzt:innen regional ungleich verteilt sind, haben Menschen in psychischen Krisen zwei große Probleme. Sie treffen erstens auch auf Ärzt:innen, die für eine psychische Behandlung nicht ausreichend ausgebildet sind und werden zweitens häufiger krankgeschrieben, als es nötig wäre, weil Hausarztpraxen auch oft die Zeit für eine angemessene Behandlung fehlt. Das hat Folgen für die Betroffenen – aber auch für das Bild, das wir uns von psychischen Krankheiten machen.
Erste Anlaufstelle bei psychischen Problemen sind Hausärzt:innen – und oft auch die einzige
Hannas Arzt sieht, dass es seiner Patientin schlecht geht. Der Liebeskummer hat sie in eine Krise gestürzt. Der Arzt schreibt sie deshalb weiterhin krank und diagnostiziert eine depressive Episode (wird durch die Abrechnungsziffer F32 codiert).
Hanna hat Glück: Ihr Hausarzt kennt sich mit psychischen Störungen gut aus, weil er eine entsprechende Weiterbildung gemacht hat. Er versucht, Hanna durch eine Behandlung direkt in seiner Praxis zu stabilisieren – mit Gesprächen. Damit das klappt, muss der Hausarzt dafür aber auch Zeit haben. Zwei von drei Hausärzt:innen, mit denen ich für diesen Text gesprochen habe, sagten: „Utopisch. Meine Praxis ist so voll, dass ich diesen Patient:innen keine 50-Minuten-Termine anbieten kann.“
Das doppelte Dilemma der Hausärzt:innen
Hannas fiktiver Fall kommt in Deutschland tagtäglich hundertfach vor. Was, wenn in Hannas Hausarztpraxis die spezielle Qualifikation fehlt oder die Zeit für Gespräche? Dann könnte Hanna theoretisch zu eine:r Psychotherapeut:in gehen. Doch in der Realität ist es oft anders. Hanna lebt auf dem Land. Dort gibt es nur wenige Psychotherapiepraxen und alle sind überlaufen.
Hannas Hausarzt hat erkannt, dass sie eine depressive Episode durchmacht. Doch psychische Belastungen richtig einzuschätzen, ist nicht immer einfach. Hausärzt:innen kennen ihre Patient:innen oft sehr lange und können auch gut einschätzen, ob ihr Umfeld sie unterstützt – oder belastet. Trotzdem können sie bei selteneren psychischen Störungen auch mit ihrer Diagnose mal daneben liegen.
Psychotherapeut:innen können sich für die Diagnostik bis zu fünf Sitzungen Zeit nehmen und selbst danach können sie noch einige weitere Sprechstunden anberaumen. Erst dann müssen sie eine Diagnose stellen und die Patient:innen einen Antrag auf Therapie bei ihrer Krankenkasse einreichen.
So viel Zeit haben Hausärzt:innen oft nicht. 15 Minuten planen sie durchschnittlich für einen Patientenbesuch ein und für die Krankschreibung müssen sie sich direkt festlegen.
Eine Anfrage der Grünen an den rheinland-pfälzischen Landtag ergab, dass mehr als 80 Prozent der depressiven Episoden im Jahr 2018 nicht von Psychotherapeut:innen oder Psychiater:innen gestellt wurden, sondern von Ärzt:innen anderer Fachrichtungen.
Ein Report der Psychotherapeutenvereinigung zitiert Studien, die über einen längeren Zeitraum untersuchen, wie häufig einzelne psychische Krankheiten in der Bevölkerung vorkommen. Diese Studien zeigen, dass psychische Krankheiten in Deutschland nicht zunehmen: 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung leiden unter psychischen Störungen, und das seit Jahren ziemlich konstant.
Geht man allerdings nach der Statistik der Krankenkassen, könnte man etwas anderes denken. 2020 fehlten laut PsychReport der Krankenkasse DAK wegen psychischer Diagnosen insbesondere Frauen häufiger und länger am Arbeitsplatz. Das Jahr ist wegen Corona vermutlich ein Ausreißer, setzt aber einen allgemeinen Trend fort: Seit 1997 haben sich die Fehltage wegen psychischer Störungen insgesamt verdreifacht.
Das heißt: Psychische Krankheiten nehmen nicht zu, aber immer mehr Menschen können wegen psychischer Probleme nicht zur Arbeit gehen, so wie Hanna.
Psychische Krankheiten sind kein Tabu mehr
„Auf dem Dorf hieß es früher immer ,Die hat es an den Drüsen‘, wenn jemand psychische Probleme hatte“, sagt Sabine Maur, Psychotherapeutin und Mitglied im Vorstand der Psychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz. „Kein Mensch weiß genau, was das heißen soll. Aber so ließen sich psychische Symptome zu körperlichen umdeuten und das bewahrte die Menschen vor Stigmatisierung.“
Die Stigmatisierung psychischer Störungen lässt inzwischen nach, auch auf dem Land. Das ist erfreulich, denn psychische Erkrankungen erfordern ja genauso eine Behandlung wie Diabetes oder Rückenschmerzen. Doch die Entstigmatisierung hat den Nebeneffekt, dass Menschen heute öfter eine ernsthafte psychische Störung bei sich selbst vermuten. Expert:innen, mit denen ich für diesen Text gesprochen habe, berichten, dass sie immer wieder Menschen erleben, die mehr Ressourcen haben, als sie bei sich selbst wahrnehmen.
Hausärzt:innen haben oft die schwierige Aufgabe zu unterscheiden, wo tatsächlich eine psychische Erkrankung vorliegt und wo es sich eher um eine vorübergehende kleine Krise handelt, mit der die Patient:innen auch alleine oder mit Hilfe ihres sozialen Umfelds zurechtkommen.
Eine psychische Diagnose kann auch Folgen haben, die weit über die medizinische Behandlung hinausgehen.
Das Diagnose-Dilemma hat negative Folgen
So wie bei Hanna: Deren Mutter sitzt einige Monate später wütend im Sprechzimmer des Hausarztes. Hanna wollte eine Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen. Aber die Versicherung nimmt sie nicht an. Zu hoch sei das Risiko für psychische Erkrankungen in der Zukunft, lautete die Begründung. Hannas Mutter wirft dem Arzt nun vor, mit seiner Diagnose übertrieben zu haben.
Für eine Verbeamtung etwa oder den Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung können länger andauernde psychische Störungen in der Krankenakte tatsächlich ein Grund für Ablehnungen sein. Versicherungen fordern die Antragsteller:innen daher immer auf, ihre Ärzt:innen von der Schweigepflicht zu entbinden, um einzuschätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass jemand wegen Krankheit berufsunfähig wird. Wer das ablehnt, kann sich nicht gegen Berufsunfähigkeit versichern lassen.
Sabine Maur, die Psychotherapeutin, sagt: „Viele Psychotherapeut:innen entscheiden sich auch aus diesem Grund erst mal für eine leichtere psychische Diagnose, wenn sie die Wahl haben. Fachfremde Ärzt:innen diagnostizieren hingegen schneller schwerere Störungen.“ Ein Grund dafür könnte sein, dass Hausärzt:innen unter Zeitdruck sind. Oder dass sie das Umfeld ihrer Patient:innen immer auch mit einbeziehen und die Ressourcen der Menschen besser einschätzen können.
Auch Hannas Hausarzt weiß, wie ihr im Beruf, in der Familie und im Freundeskreis geht und kann einschätzen, ob sie genügend Unterstützung hat, um sich mit seiner Hilfe und der ihres Umfeldes selbst zu stabilisieren. Der Arzt kennt auch alle anderen Krankheiten, die Hanna hat und weiß, wie sehr sie dadurch psychisch belastet ist und ob es einen psychosomatischen Zusammenhang zu ihrer aktuellen Krise geben könnte. Kurz: Der Arzt kann einschätzen, ob eine Krankschreibung (plus ein Schlafmittel) Aussicht auf Erfolg hat oder nicht.
Problematisch wird es immer dann, wenn Hanna keine Psychotherapie machen kann, obwohl sowohl sie selbst als auch der Arzt das für nötig halten.
Dass die Fehltage wegen psychischer Probleme zunehmen, hat auch Gründe, die im Gesundheitswesen selbst liegen. Wenn Menschen keinen Psychotherapieplatz finden, führt das dazu, dass sie häufiger krankgeschrieben werden. Eine:n Psychotherapeut:in zu finden, ist zwar eine Art Heldenreise, wie dieser Text bei Krautreporter beschreibt. Doch hat man erst einmal einen Platz ergattert, kann das dazu führen, das Leben aus einer ganz anderen Perspektive zu sehen.
Hannas Krise ging vorbei. Mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung kann sie es in fünf Jahren wieder versuchen, denn weiter zurück forscht die Versicherung in der Regel nicht. Aber ihre familiären Verstrickungen werden sie wohl weiterhin belasten.
Redaktion: Stéphanie Souron; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger