Heike Steinebach ist noch da. Die Sonne auch, aber eine dunkle Gewitterwand zieht über die Ostsee. Wir haben uns am Timmendorfer Strand zum Spazieren verabredet. Steinebach geht dort, wo die Wellen den Sand glatt gezogen haben und ihre Stiefel nicht nass werden. Bergauf und tiefer Sand strengen sie an. Nur zwölf Jahre hätte sie alt werden sollen. Doch die Herzklappe eines Schweins hat ihr das Leben gerettet.
Heike Steinebach kam mit einem Herzfehler auf die Welt. 1972, da war Steinebach gerade fünf, flogen ihre Eltern mit ihr in die Vereinigten Staaten, wo sie bei einer Operation am offenen Herzen die Klappe eines toten Schweins eingesetzt bekam – sieben Jahre nachdem in Frankreich die erste Schweineherzklappe erfolgreich in einen Menschen transplantiert transplantiert worden war. Seit 1972 also besitzt Steinebach diese Klappe, die sich mit jedem Herzschlag öffnet und schließt und sicherstellt, dass das Blut im Kreis fließt.
Das ist bei Tausenden Menschen in Deutschland so. Allein 2019 wurden mehr als 8.000 Aortenklappen durch eine tierische Prothese ersetzt. Für die Operierten ist es die Lebensrettung. Aber auch heute, ein halbes Jahrhundert nach der ersten Transplantation, ist das Leben mit einer Schweineherzklappe schwierig. Denn der Körper beginnt, das fremde Material langsam abzustoßen. Nach wenigen Jahren muss neu operiert werden. Viele Betroffene müssen immer wieder Antibiotika nehmen. Schwangerschaften sind oft kompliziert.
Doch jetzt gibt es für all diese Menschen Hoffnung. In Hannover arbeiten Forscher:innen an neuartigen Klappen, die Operierten das Leben erleichtern sollen. Die Herzklappen der Zukunft können mitwachsen und ein Leben lang halten, für Operierte könnte sich das Leben anfühlen wie für jemanden ohne fremdes Stück im Herzen. Und die Pläne der Forscher:innen gehen weiter: Hornhaut für die leidenden Home-Office-Augen, gentechnisch veränderte Tiere, ganze Schweineherzen. In naher Zukunft könnten Schweine zum perfekten Ersatzteillager des Menschen werden.
Mensch, Schwein oder Plastik?
Wer heute eine neue Herzklappe braucht, steht vor keiner einfachen Entscheidung. Wer in Onlineforen und Facebookgruppen recherchiert, merkt, wie viel Sorgen sich Betroffene machen: „Neue Aortenklappe. Angst vor dem Klicken. Wen stört es? Vor- und Nachteile.“ „Überfordert mit der Diagnose“. „Aufklärung: Neue Herzklappe & Schwangerschaft“. Es geht bei der Frage los, welche Herzklappe in Frage kommt: Die mechanische Klappe aus Metall und Kunststoff? Die eines verstorbenen Menschen? Oder die eines Tieres?
Neun von zehn Menschen entscheiden sich laut Deutschem Herzbericht gegen eine mechanische Klappe. Im Forum von die-Herzklappe kann man lesen, warum. Dort erzählt eine Nutzerin namens Sally, dass sie zuerst vorgehabt habe, sich eine solche Klappe einsetzen zu lassen, da sie lebenslange Haltbarkeit verspricht. „Dann dachte ich doch an das Marcumar und auch daran, dass vielleicht auch mal noch ein Kinderwunsch kommen könnte.“ Marcumar ist ein Mittel, das die Blutgerinnung hemmt und das Menschen mit einer Plastikklappe einnehmen müssen, damit sich keine Gerinnsel bilden. Marcumar macht aber auch jede Zahnbehandlung, jede Verletzung und jede Entbindung zu einer blutigen und gefährlichen Angelegenheit.
Also doch lieber biologischer Ersatz. Die Klappen von menschlichen Spender:innen wären ideal: Empfänger:innen müssen nicht ihr Leben lang Medikamente nehmen. Außerdem ist mittlerweile ein Verfahren zugelassen, das die Klappen so aufbereitet, dass sie mitwachsen und wohl ein Leben lang halten können.
Das Problem: Es gibt nicht genug. Von den mehr als 900.000 Menschen, die in Deutschland jährlich sterben, spendet nur ein Bruchteil Organe und Gewebe. 2019 konnte die Deutsche Gesellschaft für Gewebetransplantation nur 171 menschliche Spender:innenklappen vermitteln.
Deshalb müssen Tiere herhalten, am besten: Schweine. Denn ihr Herz ist dem der Menschen sehr ähnlich, sie vermehren sich schnell und etwa 53 Millionen von ihnen werden allein in Deutschland jährlich für den Fleischkonsum geschlachtet. Aus ihnen werden die besten Herzklappen für sogenannte Xenografts – fremde Transplantate – ausgesucht.
Schwein gehabt
Am Timmendorfer Strand macht Heike Steinebach Pausen beim Sprechen. Ihre Klappe hat von Anfang an nicht richtig geschlossen, inzwischen kriegt sie deshalb schwer Luft. Man hätte sie nach wenigen Jahren in einer zweiten OP austauschen müssen.
Das ist ein grundsätzliches Problem: Schweineherzklappen wachsen nicht mit und drohen zu reißen, wenn die Kinder größer werden. Außerdem enthalten die Klappen einen bestimmten Zucker, der bei Menschen nicht vorkommt. Der menschliche Körper erkennt ihn als fremd und beginnt, die Klappe abzustoßen. Bei älteren Menschen dauert das bis zu 15 Jahre, junge Menschen, wie Steinebach damals, brauchen häufig schon nach wenigen Jahren eine neue Klappe. Doch in ihrem Fall war eine zweite OP zu riskant. Hätte sich ein Stück Kalk von der Klappe gelöst, wäre sie auf der Stelle tot gewesen.
Der fünfjährigen Heike gab man noch ein paar gute Jahre.
Doch die Klappe hielt. „Ein Wunder“, sagt Steinebach.
Auf ein Wunder können sich andere Patient:innen aber nicht verlassen. Ein Nutzer namens Michael kommentiert auf der Webseite der Deutschen Herzstiftung, dass er nach der Operation zwar wieder voll als Familienvater da sein und seine Firma leiten konnte. „Trotzdem weiß ich, dass ich in ein paar Jahren wieder ‚fällig‘ bin.“
Heike Steinebach lebt das Leben eines Menschen, dem es doppelt geschenkt wurde. Manchmal arbeitet sie neun Stunden am Tag. Als Krankenpflegerin in der Reha-Klinik für Herz-Kreislauf-Patient:innen direkt hier am Strand. Sie zeigt auf das hohe braune Gebäude. Vor der Schicht stellt sie sich, wie wir jetzt, vor das Meer, legt die Hände auf die Brust und schaut in die Weite. „Ich kann alles machen, aber in meinem Tempo.“
Steinebachs Eltern haben immer noch Angst um sie, die Kolleg:innen und ihr Mann sorgen sich um die dunklen Ringe um ihre Augen. Bei jedem Fieber, jeder OP, jeder blutenden Zahnbehandlung muss sie Antibiotika nehmen, weil sonst Keime auf der Klappe siedeln könnten. Davon berichtet auch Aloha im Forum die-Herzklappe. Sie habe so viele Antibiotika genommen, bei jeder Erkältung, dass mittlerweile ihre Darmflora so geschädigt sei, dass sie allerlei Intoleranzen entwickelt habe. „Ich kann mittlerweile 15 Lebensmittel essen.“
Am Strand beginnt es zu hageln. Steinebach muss die Düne hinauf. Der Wind treibt ihr die weißen Kristalle ins Gesicht. Die Kapuze der Daunenjacke zieht sie trotzdem nicht auf.
Das Einzige, das sie in ihrem Leben vermisst, ist Fahrradfahren. Das geht wegen des Defekts der Klappe nicht mehr. Mit dem Auto fährt sie in den Nachbarort, wo sie mit ihrem Mann lebt. Die Kinder sind ausgezogen. Sie zeigt Fotos auf ihrem Handy. Die Tochter, der Sohn, ein Familienfoto beim Abiball, die Hochzeit. In weißem Kleid sitzt sie mit ihrem Mann im Gras. Eine Schwangerschaft hätte Steinebachs Herz zu sehr gefährdet. Stattdessen haben ihr Mann und sie adoptiert. Das erste Kind starb früh. An einem Herzfehler. Ein Buch hat sie darüber geschrieben. Am zweiten schreibt sie. Der Titel: Gott hält die Klappe.
Im Forum von die-Herzklappe laufen mehrere Diskussionen darüber, wie man mit einem Herzklappenersatz schwanger werden kann. „Wuppy“ will sich erstmal eine tierische Klappe einbauen lassen. „Damit wäre die Gefahr einer möglichen Fehlgeburt durch Blutverdünnung gebannt.“ Allerdings habe sie Bedenken, dass ihr die nächste Operation früher bevorsteht. Denn durch die Schwangerschaft verkürzt sich die Haltbarkeit der Klappe. „parkwurm“ antwortet ihr und erzählt, wie sie sich aus den gleichen Gründen für eine biologische Klappe entschieden habe. Die Schwangerschaft war problemlos. Als ihr Sohn drei Jahr alt war, musste sie aber bereits wieder operiert werden, weil die Klappe durch die Schwangerschaft schneller verkalkt war. „Vom erneuten Kinderwunsch musste ich schweren Herzens Abschied nehmen, zu groß ist mir das Risiko mein Bübchen alleine lassen zu müssen.“
Auch wenn es immer wieder Geschichten gibt, die gut ausgegangen sind, den perfekten Klappenersatz gibt es derzeit nicht. „Maja86“ schreibt über ein Gefühl, das viele Betroffene haben: „Mein Kopf ist ein Wirrwarr, ich finde diese Schwere der Entscheidung unglaublich belastend. Als müsste man sich für das geringste Übel entscheiden…“
Den Klappen die Schweinezellen austreiben
Andres Hilfiker will das ändern. Er sitzt in seinem Büro in der Medizinischen Hochschule in Hannover am Schreibtisch. „Come to where adventure is a new way of life“ steht auf dem T-Shirt des Biologen. Er ist Teil der deutschen Forschungsgruppe zu Xenotransplantationen, also Transplantationen von einer Spezies zur anderen.
„Wir treiben den Schweineherzklappen den Beelzebub aus“, sagt er. Er möchte Schweineherzklappen so verändern, dass sie von menschlichen Körpern nicht mehr abgestoßen werden: Hilfiker möchte Schweineherzklappen für Kinder, die wachsen, Frauen, die sorglos schwanger und alle anderen, die weder mit Marcumar noch der Sorge vor der nächsten OP leben wollen. Genau das, was mit den Klappen von menschlichen Spender:innen schon möglich ist, aber von denen es viel zu wenige gibt.
Vor mir liegt ein dicker, braunroter Klumpen und suppt auf das hellblaue OP-Tuch. Ein Schweineherz. Von gestern, vom Schlachter. Ich schlüpfe in einen weißen Kittel, ziehe Gummihandschuhe über und greife nach einer der sterilen Scheren. Das Herz wiegt schwer wie ein großer Rettich in meiner Hand. Robert Ramm, ein Mann mit Blutsprenkeln auf dem Kittel, Post-Doc in Hilfikers Labor, zeigt mir, wo ich schneiden muss.
Dann drücke ich die Scherenklingen in das Fleisch.
Nach letzten Schnitten durch Gelee aus geronnenem Blut habe ich die Pulmonalklappe herausgeschnippelt. Die Klappe der Lungenschlagader, die das Blut zur Lunge transportiert. Ramm dreht sie wie einen Pulli auf links und dann sehe ich sie: drei hauchdünne Flügelchen. Das ist sie, eine der Klappen, die den Blutfluss im Herzen regeln. Eine von ihnen hat Heike Steinebachs Leben gerettet. Ich ziehe sie mit der Pinzette lang, ich piekse ausgiebig mit dem spitzen Metall hinein – sie halten.
Herzklappen, die Ramm am Vortag aus anderen Schweineherzen geschnitten hat, stehen in quadratischen Gläschen auf einem Tablett, das rhythmisch durchgerüttelt wird. „Der Schüttler“, nennt der Post-Doc das Gerät. Die Flüssigkeit wäscht die Zellen wie eine Art Seife vom Klappengewebe herunter.
Ramm öffnet einen Kühlschrank, 4 Grad, beschriftete Röhrchen und Gläser stehen darin. „Gewebe – unterschiedlicher Herkunft“, heißt es auf einem Zettel, auf einem anderen „Herzklappen. Größe: Medium“. An den Klappen ist kein tiefrotes Fleisch mehr, sie sind weiß gewaschen und wabern in der Flüssigkeit wie misslungene pochierte Eier. Die könne man in diesem Zustand einsetzen, erklärt Ramm. Ihre Zellen sind im Seifenbad kaputt gegangen. Im Körper eines Menschen würde das zellfreie Gewebe mit neuen menschlichen Zellen besiedelt werden. Es würde dadurch körpereigen gemacht und mitwachsen.
Das einzige Problem, das bleibt: der Zucker, durch den ein menschlicher Körper die Klappe als fremd erkennt und sie deshalb abstößt. Er kann nicht wie die Zellen herausgewaschen werden. Hilfiker, Ramm und die anderen Forscher:innen arbeiten deshalb daran, ihn zu maskieren. Dafür müssen sie die Schweine genetisch verändern. Der Zucker und andere schweinetypischen Moleküle werden in den sogenannten Knock-Out-Schweinen ausgeschaltet.
Ob das funktioniert, testen sie inzwischen an bis zu vier Pavianen im Jahr, die im Deutschen Primatenzentrum in Göttingen wohnen. Doch selbst wenn die Paviane keine Abstoßreaktionen gegen die Klappen entwickeln, heißt es nicht, dass das Verfahren an ersten Menschen angewendet werden darf. „Der Affe ist ein Modell für den Menschen, aber er ist kein Mensch“, sagt Andres Hilfiker und klingt zum ersten Mal ratlos. Menschenversuche sind verboten, es bräuchte die einzigartige Gelegenheit eines Heilversuchs. Ein Mensch, dem nicht mehr geholfen werden kann und an dem man es deshalb mit dem neuen Verfahren versuchen könnte.
Knock-Out-Schweine als Ersatzteillager
Laut der Deutschen Gesellschaft für Gewebespenden wird der Bedarf an Herzklappen mit der alternden Bevölkerung weiter steigen. Und nicht nur der an Herzklappen. Die Forschungsgruppe für Xenotransplantationen erforscht, wie Schweine in Zukunft ein ergiebiges Ersatzteillager für den Menschen werden. Ganze Schweineherzen. Hornhäute für die Augen. Gefäße. Insulinproduzierende Zellen für Diabetiker:innen. Erste Studien dazu laufen. Damit weitere Teile der Tiere im Körper der Menschen eines Tages noch von Nutzen sein können, dürfen die Tiere aber nicht einfach von Tönnies und Co. kommen. Sie müssen extra gezüchtet und unter Laborbedingungen gehalten werden. Für die Fleischproduktion dürfte man sie nach heutigem Gesetzesstand nicht verwenden. „Aber ein paar tausend Schweine für Herzklappen sind verglichen mit 53 Millionen Schweinen für den Fleischkonsum vernachlässigbar“, sagt Hilfiker.
In ihrem Haus in Norddeutschland lässt Heike Steinebach ihre zwei weißen Katzen zur Balkontür herein und holt ein großes Blech Pizza aus dem Ofen. Paprika, viel Mais, kein Fleisch. Schweinefleisch isst sie nicht – wegen ihrer Herzklappe. Die ganze Familie nicht. Das wäre komisch, sagt sie.
Viele Patient:innen haben nach einer Herzklappenoperation ein ambivalentes Verhältnis zu Schweinen entwickelt. „Medikent“ aus dem Forum die-Herzklappe fragt sich, ob es „kannibalisch“ gewesen wäre, sein „Spenderschwein“ zu essen. Ein anderer User hofft, dass die Tiere, die „es zum unfreiwilligen Herzklappen-Spender gebracht haben“ wenigstens „glückliche Schweinchen“ waren. Er habe bereits einen ganzen Bauernhof in seinem Herzen und sei seinem Schwein ewig dankbar.
Vielleicht werden die Schweine uns Menschen in Zukunft näher sein, weil sie ein regelrechter Teil von uns werden. So ein bisschen wie der entfernte Verwandte, der mit seiner Nierenspende oder der einen besonderen Blutgruppe ein Leben rettet und mit dem man deshalb für immer verbunden bleibt.
Steinebach nennt ihre Klappe „ihren inneren Schweinehund“, aber verbundener mit Schweinen fühlt sie sich trotzdem nicht. Ob sie ein ganzes neues Schweineherz nehmen würde? Oder Hornhaut? „Brauche ich ja nicht“, sagt sie. Aber ein Problem wäre das nicht. Schweine würden so oder so getötet.
Steinebachs Organspendeausweis steckt mit anderen Karten in ihrer Handyhülle. Sie würde alles spenden. Auch wenn sie nicht wisse, was man von ihr noch gebrauchen könne mit den OP-Narben, der Lunge und dem Herzen, sagt sie.
„Aber hallo, ich lebe.“
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Tarek Barkouni; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger