Aus der Sicht derjenigen, die in Deutschland Verantwortung für uns Bürger:innen tragen, gibt es einen relativ sicheren, relativ unkomplizierten Weg raus aus der Pandemie: alle impfen. Also alle, die wollen und können, um genau zu sein. Ganz praktisch sieht das dann so aus, wie wir es seit Dezember erleben. Es muss genug Impfstoff für alle da sein und alle müssen leicht drankommen. Leicht drankommen heißt nicht nur, schnell einen Termin zu bekommen. Es heißt auch, mit Infos versorgt zu sein, wie gut die Impfstoffe wirken und welche Nebenwirkungen sie haben. Damit es möglich ist, abzuwägen zwischen den Risiken, die durch das Virus entstehen und denen, die der Impfstoff mit sich bringt.
Wie du diese Risiken für dich selbst gut abwägen kannst, dazu gleich mehr. Aber zuerst möchte ich mir ein paar Meldungen anschauen, die die Impfentscheidung beeinflussen können. Damit es nicht so abstrakt ist, wenn es gleich um die unterschiedlichen Risiken geht.
Das ist ein Newsletter von Silke Jäger. Parallel zu unseren langen Magazin-Texten verschicken unsere Reporter:innen immer wieder kurze Analysen, Lesetipps und Rechercheskizzen, die einen Blick in ihre Arbeit hinter den langen Stücken ermöglichen sollen. Manche der Newsletter sind Kickstarter für anschließende, tiefere Recherchen. Und manche halten wir für interessant auch für Leser:innen, die die einzelnen Newsletter gar nicht abonnieren. Deswegen holen wir sie ab und an auf die Seite.
Wie viele müssten geimpft sein, um die Pandemie zu beenden?
Von Anfang der Pandemie an haben Wissenschaftler:innen versucht herauszufinden, wie viele Menschen eines Landes geimpft sein müssen, um von Herdenimmunität ausgehen zu können. Ich mag das Wort nicht besonders, besser finde ich den Ausdruck Gemeinschaftsschutz. Er drückt besser aus, worum es beim Impfen auch immer geht: um die anderen. Vor allem um die, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht impfen lassen können. Das sorgt dafür, dass die Entscheidung für oder gegen die eigene Impfung nicht nur eine individuelle Konsequenz hat – im besten Fall: den Schutz vor einer Krankheit. Dadurch, dass es beim Impfen auch um die anderen geht, verlaufen die Diskussionen übers Impfen oft sehr emotional.
Wenn klar ist, wie viele Menschen sich impfen lassen müssten, um einen optimalen Gemeinschaftsschutz zu erreichen, können Medizinprofis und Behörden besser entscheiden, wem noch Informationen fehlen. Die Hoffnung dabei ist, dass diese Personen sich nach einer sachlichen Aufklärung über Nutzen und Risiken doch noch fürs Impfen entscheiden. Leider macht die Impfkamapagne aber auf viele einen anderen Eindruck. Einige fühlen sich gedrängt, andere überredet statt überzeugt, manche sogar gezwungen, weil Politiker:innen entscheiden, dass Geimpfte im Alltag weniger eingeschränkt werden.
Wie viele Menschen gegen das Coronavirus immun sein müssen, damit Ungeimpfte sicher mitgeschützt sind, ist noch nicht klar. Das Virus verändert sich. Menschen, die sich mit der Delta-Variante angesteckt haben, geben das Virus viel leichter weiter. Sie sind länger ansteckend und haben noch dazu mehr Viren im oberen Rachenraum. Je leichter ansteckend ein Virus ist, desto mehr Menschen müssten immun sein, damit es nicht zu lokalen Ausbrüchen (Cluster) oder gar einem diffusen, dynamischen Ansteckungeschehen kommt, wie wir es im Herbst und Winter erlebt haben. Um ein Virus auszurotten, müsste die Rate nahezu 100 Prozent sein. Das ist beim Coronavirus derzeit ausgeschlossen und wird auch noch lange so bleiben.
Laut RKI müssten sich 85 Prozent der 12- bis 59-Jährigen und 90 Prozent der über 60-Jährigen impfen lassen. Problem: Die Ständige Impfkommission im RKI, die Stiko, empfiehlt derzeit die Impfung der 12- bis 17-Jährigen nicht. Das RKI rechnet sie aber fest ein. Das ist verwirrend. Nicht nur für Eltern und Jugendliche. Die Stiko hat bisher nur Daten aus Zulassungsstudien berücksichtigt und praktische Gründe angeführt, wie die, dass der Impfstoff noch knapp sei und für diejenigen mit einem höheren Risiko für schwere Verläufe und Tod aufgespart werden soll.
Doch die Lage hat sich seit der Entscheidung verändert. Es ist genug Impfstoff da. Und auch zu den Risiken der Impfung kommen immer mehr Daten dazu, sodass Public-Health-Institute verschiedener Länder die Impfung für Jugendliche empfehlen, zum Beispiel das der USA.
Welche Risiken sind über die Impfungen bekannt und wo gibt es noch Fragen?
Eine Liste der bekannten Nebenwirkungen finden sich in den Aufklärungsbögen zu den verschiedenen Impfstoffen beim RKI: lokale Beschwerden, Übelkeit, Lymphknotenschwellungen, Schlaflosigkeit, allergische Reaktionen sind da aufgeführt.
Bei den Zulassungsstudien zu den Corona-Impfstoffen wurden sehr viele Menschen geimpft – mehr als bei den meisten anderen Impfstoff-Zulassungsstudien. Man konnte also zum Start der Impfkampagne schon relativ sicher sagen, welche Nebenwirkungen zu erwarten sind. Trotzdem gab es bei den verschiedenen Impfstoffen viel Aufregung um Nebenwirkungen, die erst später gefunden wurden: seltene Hirnvenenthrombosen (nicht zu verwechseln mit anderen, häufigeren Thrombosen) bei allen (!) Vektorimpfstoffen (nicht nur bei Astrazeneca) und bei den mRNA-Impfstoffen von Biontech und Moderna wird über Herzbeutelentzündungen berichtet, vor allem bei Jungen und jungen Männern.
Das sorgt für Unsicherheit. Aber immerhin gibt es dazu inzwischen ganz gute Einschätzungen aus der Wissenschaft, gut zusammengefasst beim Spiegel.
Aber es gibt auch Meldungen, die sehr viel schwerer einzuordnen sind. Viele Frauen berichten von Veränderungen bei ihrer Regelblutung: stärkere Blutungen und Krämpfe, zu frühe oder zu späte Blutungen. Ob das wirklich alles auf den Impfwirkstoff zurückzuführen ist, lässt sich nicht so leicht rauskriegen. Unter anderem, weil es dazu allgemeingültige Aussagen darüber geben müsste, welche Änderungen besorgniserregend sind und welche noch als normale Schwankungen gelten können. Ein guter Text dazu ist bei der BBC erschienen.
Berichte über nachlassende Impfwirkungen bei Delta verunsichern zusätzlich. Eine Studie aus Israel zeigt, dass doppelt Geimpfte statt eines 95-prozentigen Schutzes nur noch zu circa 65 Prozent vor einem schweren Covid-Verlauf geschützt sind. Allerdings gibt es fünf andere Studien, die dem Biontech-Impfstoff auch bei Delta eine Wirksamkeit von 80 Prozent oder mehr bescheinigen. Warum Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, erklärt dieser Text aus der New York Times. In kurz: Es kommt drauf an, wen man untersucht und unter welchen Bedingungen. Die Studie aus Israel hat da einige Schwächen und die Wahrscheinlichkeit, dass du trotz doppelter Impfung vor Delta nicht mehr gut geschützt bist, ist sehr gering.
Daneben gibt es noch unzählige Berichte von vermeintlichen Impfschäden, die zum Teil völlig unrealistisch sind, wie zum Beispiel, dass die Impfung unfruchtbar machen soll. Alle Berichte von Nebenwirkungen machen Menschen unsicher. Sie wissen plötzlich nicht mehr, ob es wirklich eine gute Idee ist, sich impfen zu lassen. Da hilft es auch nicht, wenn Politiker:innen laut darüber nachdenken, Impfwillige mit Gutscheinen oder weniger Einschränkungen zu belohnen. Im Gegenteil.
https://twitter.com/Markus_Soeder/status/1414522620851232772?s=20
Das Misstrauen über die guten Absichten von Politiker:innen sitzt tief. Wen wundert es? Doch bei der Impfentscheidung sollte man sich auch nicht vom politischen Klangteppich verwirren lassen, genauso wenig wie von abwegigen Theorien über Bill Gates’ Absichten, weil er viel Geld in Impfstoffe steckt.
Impfen oder nicht? Auf den richtigen Vergleich kommt es an
Es geht bei der individuellen Impfentscheidung darum, Nutzen und Risiken abzuwägen. Und zwar so, dass das Ergebnis zu dir und deinem Leben passt. Dazu hilft es, Risiken miteinander zu vergleichen.
Dabei gibt es Grundrisiken: Wie groß ist das Risiko einer Ansteckung mit Sars-CoV-2? Wie wahrscheinlich ist eine unerwünschte Reaktion auf Impfungen?
Es gibt auch speziellere Risiken: Wie hoch ist das Risiko für mich, schwer zu erkranken? Wie hoch ist es, an Sars-CoV-2 zu sterben? Wie hoch ist das Risiko, lang unter Symptomen zu leiden? Und wie hoch ist es, nach überstandener Infektion lebensverändernden Einschränkungen ausgesetzt zu sein? Diese Risiken stehen denen der Impfung gegenüber: Wie hoch ist das Risiko, durch die Impfung schwer zu erkranken, dauerhaft eingeschränkt zu sein oder zu sterben?
Demgegenüber steht der Nutzen: Wie gut schützt mich eine überstandene Infektion mit dem Coronavirus vor einer weiteren Ansteckung? Wie gut schützt mich im Vergleich dazu die Impfung? Wie gut verhindert eine Impfung, dass ich schwer krank werde? Wie gut verhindert sie, dass ich angesteckt werde? Wie gut schützt sie die anderen in meiner Umgebung vor Ansteckung?
Das sind viele Fragen und die Infos dazu sind nicht immer ganz leicht zu recherchieren. Deshalb zum Schluss ein paar Lesetipps. Diese Infos berücksichtigen alle Erkenntnisse aus der Wissenschaft und stellen sie neutral vor, sodass du sie gut für eine fundierte Entscheidung nutzen kannst.
- Am übersichtlichsten stellt das Harding-Zentrum für Risikokompetenz Nutzen und Risiken der mRNA-Impfungen dar. Gut an den Faktenboxen ist, dass sie auch Unsicherheiten abbilden.
- Bei Medizin transparent gibt es eine ganze Reihe von Artikeln zu allen zugelassenen Impfstoffen, auch zur Impfung für Jugendliche ab 12 und zu vielen Gerüchten über vermeintliche Nebenwirkungen.
- Gute Impfstoffporträts gibt es auch auf der Website gesundheitsinformation.de und bei der Stiftung Gesundheitswissen.
Viele Infos! Aber die allein nehmen dir die Entscheidung noch nicht ab. Wenn du dich schwer tust mit dem Abwägen, kannst du dich auf dieser Webseite durch den Prozess führen lassen. Am Ende steht dann eine Bilanz, die alles, was für dich wichtig ist, berücksichtigt. Wenn du es etwas spielerischer magst, ist dieser Entscheidungs-Würfel vielleicht was für dich (wichtige Infos zum Würfel).
Egal, ob du dich für oder gegen eine Impfung entscheidest, wichtig bleibt erst mal, weiterhin andere vor Ansteckungen zu schützen. Die Regeln zum Maskentragen, Abstandhalten und Lüften gelten auch für schon Geimpfte. Sagt die Wissenschaft (was Politiker:innen sagen, ist auch da im Zweifel nicht entscheidend).
Damit endet meine kleine Newsletter-Reihe „Sicher raus aus der Pandemie“. Damit ich besser einschätzen kann, ob sie dir etwas gebracht hat, bitte ich dich, diese kleine Umfrage zur Serie auszufüllen. Dauert nur 30 Sekunden.
Das war der letzte Teil meiner vierteiligen Newsletter-Serie über das, was uns hilft, aus der Pandemie rauszukommen. Den 1. Teil (übers Testen) kannst du hier nachlesen, den 2. (über die Corona-Warn-App) hier, den 3. (darüber, wie die Pandemie besser gemessen werden kann, wenn immer mehr Menschen geimpft sind) hier.
Schlussredaktion: Deborah Hohmann; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger