Corona scheint weit weg, der Sommer ist da, die Inzidenzen sind einstellig, die Impfkampagne läuft. Schön, wenn mein Text an dieser Stelle zu Ende wäre. Schön, wenn die Pandemie damit zu Ende wäre. Doch jetzt kommt Delta. Und die Angst ist zurück.
Wie berechtigt ist sie?
Die Delta-Variante des Coronavirus wurde zuerst in Indien entdeckt und wird bis Ende August in ganz Europa 90 Prozent der Infektionen ausmachen, schätzt die europäische Infektionsschutzbehörde ECDC. In Deutschland könnte es schon früher so weit sein, vielleicht schon Ende Juli. Denn der Anteil von Delta an allen untersuchten positiven Proben verdoppelt sich in Deutschland jede Woche. Aktuell macht Delta 15 Prozent aus, in der Woche davor waren es circa acht. In Hessen und Teilen Bayerns liegt Delta schon bei 20 Prozent.
Das ist ein Newsletter von Silke Jäger. Parallel zu unseren langen Magazin-Texten verschicken unsere Reporter:innen immer wieder kurze Analysen, Lesetipps und Rechercheskizzen, die einen Blick in ihre Arbeit hinter den langen Stücken ermöglichen sollen. Manche der Newsletter sind Kickstarter für anschließende, tiefere Recherchen. Und manche halten wir für interessant auch für Leser:innen, die die einzelnen Newsletter gar nicht abonnieren. Deswegen holen wir sie ab und an auf die Seite.
Wie schnell die Variante ganz genau zunimmt, ist schwer zu ermitteln. Genauso wie die Frage schwer zu beantworten ist, wie viele Menschen sich insgesamt mit Delta angesteckt haben und es weitergeben. Deutschland sequenziert nur einen Teil der positiven Tests. Doch das ändert sich gerade. Das Laborunternehmen, das die meisten deutschen Proben auswertet, will ab sofort alle positiven Tests genetisch analysieren. Das ist gut, um die Lage realistischer zu beurteilen. Denn es ist wichtig zu wissen: Wie schnell verbreitet sich Delta wo?
Delta ist auf dem Vormarsch – was heißt das für den Herbst?
Sicher ist aber, dass diese Variante sehr schnell ist. Der R-Wert von Delta ist etwas mehr als doppelt so groß wie der des ursprünglichen Virus, das heißt, ein:e Infizierte:r gibt das Virus im Durchschnitt nicht an zwei bis drei Leute weiter, sondern an vier bis sechs.
Vielen macht das Angst. Sie erinnern sich an die Nachrichten über das exponentielle Wachstum zu Beginn der Pandemie – und erst recht an die Folgen: volle Intensivstationen, 70.000 Tote im Winter (mehr als 90.000 insgesamt), viele Menschen mit Long Covid (wie viele es genau sind, ist unklar, man schätzt circa zehn bis 15 Prozent der Infizierten).
Die ECDC betont in ihrer aktuellen Risikoanalyse, wie wichtig die engmaschige genetische Analyse ist und wie entscheidend, dass so schnell wie möglich so viele Menschen wie möglich zweimal geimpft werden. Vollständige Impfungen schützen gut vor einem schweren Covid-Verlauf, auch bei Delta. Das macht Hoffnung.
Angst oder Hoffnung?
Trotzdem ist die Nachrichtenlage verwirrend: Einerseits sinken die Infektionszahlen seit Wochen drastisch – andererseits überschlagen sich die Warnungen vor Delta, und das, obwohl die Impfungen auch gegen diese Variante schützen. Wie also ist die Lage wirklich? Entspannt oder angespannt?
Delta zeigt uns vor allem eins: Wir sind noch nicht durch mit der Pandemie. Das werden wir spätestens im Herbst merken, wenn der saisonale Effekt wieder zuschlägt. Die Inzidenz wird wieder steigen, dank Delta kann das sehr schnell und sehr heftig passieren. Doch der kommende Herbst wird anders als der vergangene. Das Virus zirkuliert in einem immer kleiner werdenden Teil der Bevölkerung. Das bedeutet: Die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken, steigt vor allem für diejenigen, die nicht immun sind.
Das hat Folgen. Nicht nur für diese Menschen (ihr Risiko ist je nach Alter und Vorerkrankung sechs- bis 23-mal höher als bei der Grippe), auch für die Analyse des Infektionsgeschehens. Die Art und Weise, wie wir die Pandemie messen, erzeugte von Anfang an extrem viele Probleme. Die Inzidenzen hängen zu stark von der Anzahl der Tests ab. Besser wären regelmäßige Stichprobenstudien. Sobald genügend viele Menschen geimpft sind, wird die Methode aber ganz unbrauchbar. Die Inzidenz darf nicht mehr der einzige Maßstab sein.
Zur Erinnerung an dieser Stelle noch einmal kurz, wie sich der Inzidenzwert berechnet: Die Zahl aller positiv Getesteten eines Landkreises oder Stadtbezirks bezogen auf 100.000 Einwohner:innen. Wenn sich aber statt 100.000 nur noch 60.000, 40.000, 20.000 oder 10.000 in deinem Landkreis anstecken können, weil der Rest geimpft ist, verzerrt das die Wahrnehmung. In der Gruppe der Ungeimpften ist schließlich ein höherer Anteil infiziert, als der Inzidenzwert angibt.
Mir ist das Risiko für meine Kinder zu hoch
Im Herbst werden Kinder und Jugendliche die größte Gruppe unter den Ungeimpften sein. Oder anders gesagt: Die meisten Erwachsenen werden geimpft sein, aber für Kinder und Jugendliche fehlt bis jetzt die Impfempfehlung der Ständigen Impfkommission. Damit überlassen wir sie de facto dem Virus.
Ich bin selbst Mutter. Bei dem Gedanken daran, dass meine Kinder nicht immun gegen eine immer noch recht unerforschte Krankheit sind, mit der sie sich aber höchstwahrscheinlich infizieren werden, bekomme ich Schweißausbrüche. Ich weiß, das Risiko, schwer zu erkranken oder zu sterben, ist für sie ziemlich gering (wenn auch circa sechsmal höher als bei Grippe). Aber erstens zeigen Daten aus Schottland, dass Delta circa ein halbes Prozent der betroffenen Kinder und Jugendlichen ins Krankenhaus bringt und zweitens sind auch sie nach allem, was man weiß, zu circa zehn bis 15 Prozent von Long Covid betroffen.
Mir ist das Risiko für sie zu hoch.
Devi Sridhar, Professorin für Global und Public Health in Edinburgh, ist eine der wichtigsten Stimmen in der Pandemie. In diesem Podcast erzählt sie, dass in den vergangenen Monaten nur eine Sache sie regelmäßig um den Schlaf gebracht hat: die Schulen. Dabei stellte sie sich vier Fragen:
- Wie hoch ist das Risiko für die Schüler:innen selbst?
- Wie hoch ist es für ihre Familien?
- Wie hoch ist das Risiko für Lehrer:innen?
- Und was bedeutet das Infektionsgeschehen an den Schulen für das in der Region?
Wenn viele Erwachsene im Herbst geimpft sind, müssen wir über die Fragen zwei und drei nicht mehr viel nachdenken. Doch eins und vier bleiben weiter relevant. Wie messen wir diese Risiken? Welche Grenzwerte setzen wir an? Mit Inzidenzwertgrenzen von 35, 50, 100 oder 165 pro 100.000 Einwohner:innen wie bei der Bundesnotbremse kommen wir jedenfalls nicht weiter.
Wir brauchen für die Messung der Pandemie zwei Werte: Einen, an dem wir ablesen können, wie viele Kinder und Jugendliche sich angesteckt haben trotz Maskenpflicht, regelmäßigen Tests und Lüftungsanlagen in den Klassenräumen, damit wir ihr Risiko beurteilen können (lasst mich bitte träumen, dass bis Herbst alle Klassenräume … ach, Mist!). Und einen zweiten, der uns sagt, wie viele Menschen einer Region mit Covid ins Krankenhaus kommen und wie viele auf die Intensivstation. Dazu gehört auch die Altersangabe und die Info, wo sie sich angesteckt haben. Nur wenn wir beide Werte wissen, lässt sich entscheiden, ob Maske, Abstand, Lüften, regelmäßige Tests und kleine Gruppen als Maßnahmen reichen oder ob es mehr braucht – und vor allem, wo. So zu messen schlägt auch der Epidemiologe Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig vor.
Wenn wir aber weiterhin nur nach der Inzidenz pro 100.000 schielen, werden wir aller Voraussicht nach kalt erwischt werden. Umso stärker, je weniger Menschen geimpft sind. Zusätzlich sollten so viele Schutzmaßnahmen erhalten bleiben, dass Delta sich nicht sprunghaft verbreiten kann. Dann, so zeigen Berechnungen, könnte der R-Wert, also die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Delta unter 1 bleiben und damit nicht exponentiell wachsen.
Wir sollten noch diesen Herbst und Winter akzeptieren, dass die Pandemie nicht vorbei ist. Wir sollten dementsprechend vorsichtig sein. Das kann uns vor dem nächsten Lockdown bewahren. Leichtsinn und falsches Messen werden wir spätestens im Spätsommer zu bereuen beginnen.
Delta ist ernstzunehmen, übergroße Angst vor Delta aber nicht nötig (zumindest nicht in Deutschland, in Ländern ohne Impfstoff ist das anders). Schließlich haben wir schon viel gelernt über Sars-CoV-2. Bleibt zu hoffen, dass die Politik entsprechend handelt.
In einer früheren Version des Textes stand, dass circa ein Prozent der infizierten Kinder und Jugendliche ins Krankenhaus müssen. Dafür lassen sich jedoch keine Belege finden.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele