Im Alltag vermessen viele von uns ihren Körper längst: Wie viele Schritte habe ich heute zurückgelegt? Wie viele Kalorien verbraucht? Wie viele Kilo zu- oder abgenommen? Auch in der Wissenschaft wird das Sammeln von Daten über den menschlichen Körper immer populärer. Wissenschaftler:innen sind dabei, den Menschen bis auf die kleinste Einheit genau zu vermessen.
Wie das in Zukunft nicht nur unseren Begriff von Gesundheit, sondern auch das Verständnis von moderner Medizin verändern kann, beschreibt der Biologe und Wissenschaftsautor Peter Spork in seinem Buch „Die Vermessung des Lebens“. Spork plädiert darin für eine neue Art von Medizin, die sich anders als die heutige nicht in reiner Symptombekämpfung erschöpft und Krankheiten nicht erst dann behandelt, wenn sie bereits aufgetreten sind. Er fordert, viel früher anzusetzen – und viel umfassender zu denken. Sporks These: Durch die genaue Vermessung des Körpers und die daraus entstehenden Datenmengen wird die Medizin der Zukunft nicht nur eine viel stärker personalisierte sein als heute, sondern eine interdisziplinäre, die Krankheiten in „nichtlinear geregelten, biologischen, psychologischen und soziologischen Systemen” versteht.
Der folgende Text ist ein Auszug aus Sporks Buch, der sich um die Frage dreht, wie die neue Rechenleistung von Computern und Künstliche Intelligenz unseren Gesundheitsbegriff revolutionieren könnten.
Auf den ersten Blick ist die Torre Girona eine hübsche, etwas unscheinbare, aber top renovierte Kirche. Sie liegt im Westen Barcelonas, unweit der polytechnischen Universität, besitzt an der Front zwei harmonische, nicht zu hohe Türme, dazwischen eine typisch katalanische Fassade. Wäre da nur nicht dieser eigenartige moderne Vorbau, der sich geradezu ins Blickfeld drängt.
Das Entree der Kapelle ist keine gewöhnliche Kirchentür, sondern eine selbstbewusst hervorragende Stahl-Glas-Konstruktion, die eher an ein im Bauhaus-Stil gestaltetes Museum für moderne Kunst erinnert als an ein Gotteshaus. Dieser Eindruck ist erwünscht, und er passt perfekt. Dringen wir nämlich erst einmal ins Innere der Kirche vor, raubt uns ein spektakulär moderner Anblick den Atem. Wir stehen im schönsten Rechenzentrum der Welt.
Eingebettet in das Gemäuer der Kapelle ist ein riesiger, durchsichtiger, in dunkle Stahlträger gefasster, fünf Meter hoher Glasquader. In ihm – als wären es Reliquien aus der Zukunft oder seltsame Botschaften einer fernen außerirdischen Kultur – sind zahlreiche gleichförmig in Reih und Glied angeordnete dunkle Quader zu sehen. Die Fronten der vordersten dieser Schränke zeigen teils grün, teils rot blinkende LED-Muster.
Während die Kapelle in dunkles, warmes Licht gehüllt und die hohe Decke mit dunkelroten Platten verziert ist, strahlt im Glaskasten Neonlicht auf die schwarzen Computerschränke und den Boden herab. Hier ist jedes Eckchen ausgeleuchtet. Staubkörner sind tabu. Der Kontrast zu der Kirche könnte kaum größer sein.
Die Wissenschaft betet keinen Gott an, sondern riesige Datenmengen
Im Glasquader steckt MareNostrum – unser Meer, aber auch der römische Name für das Mittelmeer –, ein Hochleistungsrechner der neuesten Generation. In dieser eigenartigen Kirche huldigt man nicht mehr dem 2.000 Jahre alten Christentum. Man ist voll und ganz im Hier und Jetzt, vielleicht sogar ein Stück seiner Zeit voraus. Denn an diesem Ort wird unsere Zukunft simuliert. In Torre Girona werden Daten angebetet, hier wird Rechenleistung gepredigt, über Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen mithilfe künstlicher neuronaler Netzwerke meditiert. Hier werden das Klima, die Umwelt, neue Medikamente oder die Gesundheit der nächsten Jahre und Jahrzehnte kalkuliert.
Der Spanier Alfonso Valencia ist Leiter der Abteilung für Bioinformatik des Supercomputing Center in Barcelona, dem der spektakuläre Großrechner gehört. Schon länger arbeiten er und einige der 120 Wissenschaftler*innen seines Instituts daran, mithilfe von Algorithmen aus möglichst vielen biomedizinischen Daten ein virtuelles Abbild des Menschen nachzubauen. Demnächst soll hier die fünfte MareNostrum-Generation hochfahren.
Die Kosten für Bau und Betrieb werden auf 223 Millionen Euro geschätzt. Dafür erhalten die Informatiker*innen fünf Jahre lang eine Rechenleistung von 200 Petaflops. Das sind zweihundert mal zehn hoch fünfzehn Rechenoperationen pro Sekunde. Oder anders ausgedrückt: Es ist unfassbar viel.
Ihren Rechner benutzen die Spanier für die neuesten Techniken der Informatik: Deep Learning etwa, eine Methode des maschinellen Lernens, bei der der Computer ähnlich vorgeht wie die Nervenzellen eines Gehirns. Ein Algorithmus bildet neuronale Netze nach, die wie das Vorbild aus der Natur in der Lage sind, ihre eigenen Resultate zu kontrollieren und sich dadurch permanent zu verbessern. Die Rechner analysieren also gigantische Datenmengen, werten diese aber nicht einfach nur aus, sondern spüren darin nach Gesetzmäßigkeiten. Damit helfen sie, unbekannte Zusammenhänge zu entdecken und nach und nach das systembiologische Lebensnetzwerk ganzer Organismen zusammenzubauen. So zumindest die Zukunftsvision, von der Valencia träumt: „Egal wie lange es noch dauert, egal wie viel oder wenig wir davon bisher erreicht haben: Eines Tages wird er kommen, der digitale Zwilling des Menschen, der uns in eine Medizin der Zukunft führt.“
Was kann der Supercomputer für die Medizin der Zukunft leisten?
Der Bioinformatiker Valencia baut dabei aber nicht nur auf immer größere Computer. „Entscheidend ist die Balance aus guten Daten und leistungsfähigen Rechnern“, sagt er, „wir müssen immer auch die Qualität der Daten verbessern, damit wir den Resultaten der Rechner besser vertrauen können.“ Die Daten, nach denen er sich sehnt, sind möglichst konkret. Sie geben entweder wieder, was einen Knotenpunkt im systemischen Netzwerk eines Organismus ausmacht. Oder sie beschreiben, wie dieses Element zu einem anderen Element in Beziehung steht.
Letztlich geht es darum, möglichst viele, am besten alle Informationen zu Bau und Funktion von Zellen und Organen aufzuzeichnen, die irgendwie aufzutreiben sind. Und es geht darum, diese Daten mithilfe der Computertechnik mit den Handlungen und Zuständen von Lebewesen zu verknüpfen. Welches Gen hat in welchem Kontext welche Funktion? Wie interagieren bestimmte Proteine mit bestimmten Genen? Wie werden Gene an- und ausgeschaltet? Wie hängen verschiedene Symptome einer Krankheit miteinander zusammen? Wie reagieren Zellen auf Stoffwechselsignale? Wie spielen Umwelt und Gene zusammen? Und, und, und? Der Spanier könnte endlos fortfahren. Doch die Botschaft ist längst angekommen: „Es geht um Datenintegration. Und die ist sehr komplex.”
Aber egal wie lange es noch dauert, bis diese Vermessung Resultate bringt. Egal wie komplex es ist, die Messwerte zu integrieren und die zugrunde liegenden biologischen Gesetze und Mechanismen zu verstehen. Egal wie viele noch schnellere, noch größere, noch teurere Generationen von Supercomputern wir abwarten müssen und welche Fortschritte die Biotechnik noch machen muss, um vernünftige Daten in ausreichender Menge zu liefern: Der Anfang ist gemacht.
Eines Tages werden Leute wie Alfonso Valencia darangehen, die vielen Zellen, systemisch mithilfe der Bioinformatik beschrieben, virtuell wieder zusammenzufügen. Damit wird es ihnen gelingen, all die Informationen über einzelne Zellen und Organe als das Geschehen eines komplexen Netzwerks darzustellen und Prognosen zu berechnen. Wenn es darüber hinaus sogar gelingt, diese Netzwerke an individuelle Menschen anzupassen, sie mit den Daten einzelner Menschen zu füttern, dann ist der digitale Zwilling Realität.
Wie KI und Netzwerk-Denken der Gesundheit des Menschen dienen werden
Schon heute versuchen Wissenschaftler:innen diesen Ansatz zu verfolgen. Sheraz Gul vom Fraunhofer Institut für Translational Medicine and Pharmacology ITMP sagt zum Beispiel: „Wir arbeiten bereits mit dem digitalen Zwilling.“ Damit ist aber vorerst nur eine Methode gemeint, all die vielen allgemeinen biomedizinischen Informationen aus den globalen Datenbanken mit persönlichen Daten eines Menschen abzugleichen und daraus ein möglichst individualisiertes Pendant zu schaffen. Den ganzen Menschen zu simulieren, indem man auch die Interaktion des systemischen Lebensnetzwerks berechnet, das die Daten permanent erzeugt – bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Anders als viele Bioinformatiker:innen und andere Vertreter der sogenannten Datenmedizin derzeit hoffen, wird es allerdings niemals genügen, einfach immer mehr und immer bessere Daten zu sammeln. Das zweite große Feld der Vermessung des Lebens ist die Erforschung von Biologie, Psychologie und Soziologie. „Der aktuelle Hype, der die beachtlichen ersten Erfolge der Künstlichen Intelligenz einfach auf komplexere Felder der Medizin übertragen möchte, wird scheitern“, sagt der Psychologe Gunther Meinlschmidt von der Basler Universitätsklinik. Man dürfe „den Fehler der Medizingeschichte des frühen 20. Jahrhunderts nicht wiederholen, als man alle Krankheiten wie monokausale betrachtete, nur weil das bei Infektionen gerade so erfolgreich war.“
Was Meinlschmidt stattdessen fordert, ist genau der Ansatz der modernen Systembiologie: die Kombination aus einem wachsenden Grundverständnis des Lebens, einer steigenden Qualität und Menge der verschiedensten Arten von Daten und einer immer ausgeklügelteren Künstlichen Intelligenz. Erst diese Kombination versetzt die Wissenschaft theoretisch in die Lage, die Mechanismen des persönlichen Lebens eines einzelnen hochkomplex organisierten vielzelligen Lebewesens – eines individuellen Menschen wie du und ich – mathematisch zu beschreiben. Damit wäre man auch in der Lage, Prognosen zu berechnen, was mit diesem digitalen Zwilling unter bestimmten Umständen geschieht. Oder anders ausgedrückt: den Prozess der Gesundheit virtuell fortzuschreiben.
Dein digitaler Zwilling sagt dir, was du essen und wann du Sport treiben sollst
Der Zürcher Systembiologe Ernst Hafen kann sich beispielsweise Algorithmen vorstellen, die uns eines Tages bei einfachen Gesundheitsentscheidungen unterstützen: „Ein digitaler Zwilling ist etwas, mit dem ich wirklich simulieren kann, was passieren wird. Wie sich zum Beispiel mein Körper verändert, wenn ich die Magnesiumkonzentration in eine bestimmte Richtung verändere. Ist das dann gut, oder ist es schlecht für mich?“
Ab diesem Moment könnte theoretisch jeder Mensch einen eigenen digitalen Zwilling haben. Der wird nicht aussehen wie ein Mensch. Er wird ihn auch nicht ersetzen, ihn schon gar nicht bevormunden wollen. Er wird einfach das Produkt sehr vieler, sehr cleverer Algorithmen sein, die mithilfe einer ausgeklügelten Software Prognosen erstellen, wie unser Leben weitergeht und wie es sich wahrscheinlich verändert, wenn wir auf eine bestimmte Art handeln. Versteckt in irgendeinem technischen Hilfsgerät, das wir bei uns tragen, vielleicht sogar implantiert unter unserer Haut, wird dieser digitale Zwilling uns dabei unterstützen, gesund zu bleiben.
Das heißt nicht, dass wir ihm sklavisch gehorchen müssen. Im Gegenteil: Wir werden völlig frei sein, können seinen Hinweisen mal folgen, mal nicht. Wir werden selbst entscheiden, ob wir anders essen, als der individualisierte Algorithmus es vorschlägt, oder ob wir uns mehr oder weniger bewegen, mehr oder weniger schlafen. Genauso wenig wird der digitale Zwilling uns daran hindern, eine Tüte Kartoffelchips zu verputzen und den Abend faul vor dem Fernsehgerät zu verbringen. Er wird uns vermutlich tags darauf lediglich empfehlen, ein paar Schritte mehr zu tun, und vorschlagen, statt Pommes Frites etwa gedämpftes Gemüse zu uns zu nehmen. Er wird uns dienen, nicht umgekehrt.
So werden wir eine der größten Schwächen der jetzigen Medizin überwinden
Er wird uns befreien – von den vielen einengenden, stressenden, überehrgeizigen Anweisungen der Gesundheits-Gurus und ihrer Ratgeberliteratur. Und er wird dazu beitragen, eine der größten Schwächen des derzeitigen Medizinbetriebs zu überwinden. Sie besteht in einer Medizin, die nicht individualisiert genug ist, oftmals weder zwischen Frauen und Männern noch zwischen Kindern und Erwachsenen unterscheidet. So behandelt sie uns zwangsläufig wie Durchschnittsmenschen, weshalb sie viele unnötige oder sogar falsche Empfehlungen gibt. Vor allem aber wird uns der digitale Zwilling dabei helfen, ein besonders unangenehmes Gefühl loszuwerden: Wir werden nicht mehr so oft ein schlechtes Gewissen haben, weil wir uns vermeintlich nicht gesund genug verhalten.
So, wie uns das Navigationssystem eines Autos schon heute den Weg zum Ziel immer wieder neu berechnet, wenn wir – warum auch immer – einen Umweg machen, so wird auch der digitale Zwilling seine Ratschläge immer wieder neu an unseren Lebensstil und die äußeren Umstände anpassen. Wichtig wird dabei vor allem sein, dass unsere Daten immer nur uns gehören, und dass wir unsere Ziele frei und eigenverantwortlich definieren dürfen.
Die Systembiologie möchte also all die Regelprozesse, die in einem Menschen ablaufen, möglichst gleichzeitig und möglichst nah an der Realität mithilfe der Mathematik und Informatik abbilden und simulieren. Und das nicht nur für einen Moment, sondern fortlaufend über lange Zeiträume hinweg. Letztlich möchte sie von jedem von uns ein virtuelles Ebenbild erschaffen. Dazu benötigt sie zumindest heute und auf absehbare Zeit die ganz großen Rechenzentren wie das MareNostrum in Barcelona.
Wie weit ist die Idee – und was brauchen wir, um sie sicher zu machen?
Selbstverständlich geht es nicht darum, sämtliche in uns ablaufenden Prozesse nachzubilden. Das ist unmöglich. Entscheidend wird sein, die wichtigen von den weniger wichtigen Prozessen zu trennen und sich auf das Wesentliche zu beschränken. Das wird schwierig genug. Systembiolog:innen werden dafür alle biomedizinischen Daten nutzen, die sie sammeln können. Sie werden ihre Computer damit speisen und die modernsten Bioinformatik-Techniken weiterentwickeln, um letztlich das Geflecht möglichst aller relevanten, ineinander verwobenen Regelsysteme eines Körpers über einen möglichst langen Zeitraum hinweg nachzubilden.
Noch ist dieses Vorgehen eine Utopie. Es gelingt bislang allenfalls bei einzelligen Lebensformen oder sehr simplen Pflanzen. Aber dank des rasenden technischen Fortschritts rückt die Vision mittlerweile so nah an uns Menschen heran, dass es höchste Zeit wird, das Konzept dahinter genauer kennenzulernen und die derzeit sicher nicht unbegründete Angst vor der vermeintlichen Macht von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz zu verlieren.
Das wird indes nur gelingen, wenn wir die Wissenschaft hinter den Daten besser verstehen – und die vielen heute bereits existierenden guten Ideen zum Schutz und sinnvollen Einsatz der sensiblen Informationen kennenlernen und diskutieren. In der Zukunft, die mir vorschwebt, werden wir mit der Unterstützung von Datenberater:innen selbst bestimmen können, was mit unseren Daten geschieht. Und wir werden selbst entscheiden, welche Ziele wir für unsere eigenen Gesundheit definieren. Weder Großkonzerne, noch Krankenversicherungen oder Staaten sollten dabei mitreden dürfen.
Weltweit forschen Wissenschaftler mit Hochdruck daran, den menschlichen Körper ganzheitlich zu verstehen, von der kleinsten Zelle bis zum gesamten Organismus, von der Psyche bis zum Umwelteinfluss. In seinem neuen Buch „Die Vermessung des Lebens“ zeigt Peter Spork, welche Chancen diese zukunftsweisende Wissenschaft birgt. Den Auszug veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Verlags-Anstalt (München 2021).
Redaktion: Esther Göbel; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert