Als Reginas Sohn depressiv wurde, fühlte sie sich hilflos. Es fiel ihr schwer, damit umzugehen, dass er sich nicht helfen lassen wollte – oder konnte. Ihr Sohn saß nur noch zu Hause, über Jahre hinweg. Schule: abgebrochen. Freiwilliges soziales Jahr: abgebrochen. Ausbildung: abgebrochen. Heute lebt Reginas Sohn in einer WG und es geht ihm immer noch schlecht. Regina macht das hilflos und sauer. Sie hat das Gefühl, versagt zu haben. Bis heute hat sie Angst, dass er sich irgendwann suizidiert.
Regina schrieb mir ihre Geschichte in meiner Umfrage für Angehörige von Menschen mit Depressionen, an der 390 Menschen teilnahmen. Ihre Stimmen werden immer wieder in meinem Text auftauchen. Laut einer repräsentativen Umfrage der Deutschen Depressionshilfe entwickeln 73 Prozent der Partner von Depressiven Schuldgefühle ihnen gegenüber. Sie fühlen sich für die Erkrankung ihrer Partner verantwortlich – und für deren Genesung. 84 Prozent der Angehörigen fühlen sich von ihrem erkrankten Partner unverstanden. Knapp die Hälfte aller Befragten sagt, dass es wegen der Depression zu einer Trennung kam.
Diese Zahlen veranschaulichen präzise die Härte, mit der eine Depression auf das direkte Umfeld des Betroffenen einschlägt. Dieses Biest ist ein echter Beziehungskiller.
Was genau macht eine Depression schwierig für Familien und Partnerschaften? Welchen Irrtümern unterliegen Angehörige? Und wie können sie es schaffen, die schwere Zeit unbeschadet zu überstehen?
Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, habe ich mit der Psychologin Elisabeth Schramm gesprochen, die in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Freiburg arbeitet und viele Jahre Erfahrung in der Arbeit mit depressiven Patient:innen und deren Angehörigen hat. Und mit Rolf Fischer, dem Vorsitzenden von „Rat und Tat“ in Köln, der eine Selbsthilfegruppe für Angehörige psychisch Kranker leitet.
Was macht Depressionen so schwierig für familiäre Beziehungen und Partnerschaften?
Depressionen sind kein Ponyhof, so viel ist klar. Erkrankte leiden häufig unter Antriebslosigkeit, dem Verlust, Freude zu empfinden und Hoffnungslosigkeit. Depressionen können furchtbar traurig stimmen oder eine innere Leere bescheren, die kaum auszuhalten ist. Für viele Erkrankte ist es unmöglich, die kleinsten Aufgaben des Alltags zu erledigen, wie duschen, einkaufen oder telefonieren. Das gefährlichste Symptom ist die Suizidalität, die bei lebensmüden Gedanken beginnt und beim Suizid endet. Aber die Krankheit bleibt nicht bei den direkt Betroffenen.
Elisabeth Schramm erklärt, warum die Erkrankung zwischenmenschliche Beziehungen belastet: „Am Anfang einer Depression versuchen die meisten Angehörigen dem Betroffenen noch zu helfen, ihn oder sie aufzumuntern und zu aktivieren. Je nach Schweregrad der Depression ist das nicht immer von Erfolg oder Dankbarkeit gekrönt. Häufig passiert durch zu viel Bedrängen sogar das Gegenteil: Dass die betroffene Person sich noch mehr zurückzieht.“
Ein Teufelskreis beginnt. Denn durch den Rückzug der erkrankten Person werden Angehörige noch ungeduldiger und frustrierter. Das spürt der oder die Betroffene und fühlt sich damit unverstanden. Doch wenn sich die Situation nicht rasch verbessert, löst das bei Angehörigen Schuldgefühle oder Ermüdung aus. Das führt weiter zu Wut, Aggression und Hilflosigkeit.
In meiner Umfrage beschreibt Sophie, was ihr besonders schwerfiel, als ihr Partner depressiv wurde: „Zu sehen, wie er sich einigelt, Sachen nicht mehr macht, die ihm gut tun (Sport, frische Luft, Freunde anrufen/treffen). Keinen Körperkontakt mehr mit ihm zu haben, weil er das nicht aushält. Keine tiefen Gespräche mehr führen zu können, weil er sich sofort zurückzieht. Keine Komplimente oder liebevollen Worte mehr von ihm zu bekommen. Nicht mit ihm in die Zukunft schauen und planen zu können und damit das Gefühl zu haben, auf der Stelle zu treten.“
Welche Irrtümer und Mythen glauben viele Angehörige?
Viele Menschen haben eine vage Vorstellung davon, was es heißt, depressiv zu sein – wenn aber ein Familienmitglied daran erkrankt, tauchen jahrhundertealte, weit verbreitete Irrtümer und Mythen in ihrem Denken auf.
Ein Mythos, der heute noch in den Köpfen vieler Menschen steckt: Depressive Menschen sind faul. Aus diesem Irrtum speist sich der Satz: „Reiß dich mal zusammen.“ In bestimmten Fällen ist es auch möglich, mit dem Erkrankten zu verhandeln und etwas von ihm oder ihr zu verlangen – allerdings nicht immer. „Es ist für Angehörige kaum vorstellbar, dass es einen Zustand gibt, in dem man nicht mehr wollen kann“, erklärt mir Psychologin Schramm.
Florian, der an meiner Umfrage teilnahm und dessen Sohn depressiv war, schreibt: „Da die Depression in dem Alter zwischen 16 und 18 das erste Mal auftrat, dachte ich zunächst an alterstypische Unlust und Faulheit. Entsprechend haben wir als Eltern reagiert. Zunächst haben wir versucht, ihn zu motivieren mit Belohnungen.“ Als das nicht half, schrieben sie mit ihm To-do-Listen – als das auch nicht fruchtete, machten sie ihm Vorwürfe und drohten, Computerspiele und Netflix zu sperren. Nach vielen Streits ging Florians Sohn freiwillig in eine Klinik und bekam dort die Diagnose: mittelschwere Depression. „Im Nachhinein, mit dem Wissen um die Depression, hätten wir viele Fehler vermeiden können“, so Florian.
Ein weiterer Mythos, den viele Angehörige glauben, lässt sich unter diesem Zitat von Teresa Enke zusammenfassen, der Witwe des Fußballtorwarts Robert Enke, der sich 2009 suizidierte. Sie sagte auf einer Pressekonferenz: „Wir dachten, mit Liebe geht das.“ Dieses Zitat wurde zum Titel einer Fernsehdokumentation des WDR, der von Partnerschaften erzählt, in denen ein:e Partner:in an Depressionen erkrankt.
Viele junge Paare glauben fest daran, dass ihre Zuneigung und Gefühle füreinander genügen, um sich gegenseitig durch die schwere Situation zu tragen. Allerdings scheitert jede zweite Beziehung an der Krankheit. Liebe genügt leider nicht immer.
Was können Angehörige für sich selbst tun, um gut durch die schwierige Zeit zu kommen?
Auf den ersten Blick scheint die Depression eine Abwärtsspirale nach der nächsten zu verursachen, in der sich Angehörige verfangen können. Ist es möglich, aus all den Sorgen, Nöten und Irrtümern herauszufinden und die Zeit der Krankheit gut zu überstehen? Das ist es.
Rolf Fischer sagt: „Wir ermutigen Angehörige, etwas für sich zu tun und sich konkret zu distanzieren. Viele Angehörige verlassen vor lauter Sorge nur noch das Haus, wenn sie berufstätig sind oder um einzukaufen. Sie erlauben sich nicht mehr, etwas für sich zu tun, zum Beispiel ins Kino zu gehen oder zum Fußball.“
Elisabeth Schramm rät, eigene Hobbys nicht aufzugeben. „Und wenn die andere Person daran nicht mehr teilnehmen kann oder will, kann man sagen: Dann mache ich es alleine.“ Hier passt der Vergleich, dass sich Passagiere bei einem Notfall im Flugzeug zuerst selbst die Maske aufsetzen, um dann anderen zu helfen.
Und in diesem Sinne ist es wichtig, sich Hilfe von außen zu holen. Die können Angehörige im Freundes- und Familienkreis bekommen, oder sie können eine Beratungsstelle aufsuchen. Wenn der Leidensdruck extrem wird und man Gefahr läuft, selbst zu erkranken, ist eine Therapie ratsam. Denn es gibt viele Angehörige, die glauben: Naja, eine:r muss ja die Fahne hochhalten. „Und denen empfehle ich, etwas für sich selbst zu tun, weil sonst die Gefahr besteht, dass sie zusammen mit dem Angehörigen untergehen“, so Elisabeth Schramm.
Elisabeth Schramm rät auch, depressive Partner – je nach Schweregrad der Erkrankung – nicht zu sehr zu schonen. Man laufe sonst Gefahr, Betroffene in Watte zu packen und nach einiger Zeit frustriert oder wütend zu werden. Schramm sagt: „Eine Frau hat mal in einer Selbsthilfegruppe erzählt: Normalerweise geht gar nichts bei meinem Mann, aber wenn Fußball kommt, dann geht auf einmal sehr vieles. Dann kauft er sich sogar selbst Bier und bringt einen Freund mit nach Hause. Aber sonst geht noch nicht mal, unserem Sohn bei den Hausaufgaben zu helfen.“
Angehörigen rät Schramm, einen Mittelweg zu finden, auch, um für sich selbst zu sorgen: „Man kann sagen: ,Bitte räume die Spülmaschine aus – und ich decke den Tisch. Wenn wir fertig sind, können wir gerne zusammen Abendessen.“
Das setzt voraus, dass Angehörige einschätzen können, wozu Erkrankte in der Lage sind, um sich gegen ihr Gefühl aufzuraffen. Nach Schramm ist Wissen das Zauberwort. Man müsse über die Krankheit und den Schweregrad Bescheid wissen und könne dafür den Betroffenen zum Arzt oder zur Therapie begleiten, um sich dort aufklären zu lassen.
Jetzt sind wir an einer schwierigen Stelle im Text angekommen. Ich weiß, wie sich eine Depression anfühlt: Depressive bleiben in der Regel nicht im Bett liegen, um ihren Partner zu ärgern. Elisabeth Schramm sagt: „Je schwerer die Depression, desto weniger kann man von den Betroffenen verlangen.“ Das heißt aber auch: Je leichter die Depression, desto größer die Chance, die Betroffenen zu erreichen. Schramm rät dazu zu beobachten, was die Person im Alltag könne. Und darauf kann man aufbauen. Es wird an dieser Stelle zu Konflikten kommen, das lässt sich nicht vermeiden. Dazu braucht es ehrliche und einfühlsame Kommunikation.
Die Suche nach einer Angehörigengruppe: Was zeichnet eine gute Gruppe aus?
Eine große Stütze können Selbsthilfegruppen für Angehörige sein. Ich weiß, die erste Assoziation bei diesem Wort wird bei vielen nicht gerade Freudensprünge auslösen. Da muss man vor anderen über Probleme reden! Dennoch haben diese Gruppen einen gewaltigen Vorteil:
Angehörige von psychisch kranken Menschen verfügen über Erfahrungsschätze mit Erkrankten, die sie (meistens) sehr gerne weitergeben. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass man davon profitieren kann – gerade dann, wenn die Krankheit beim geliebten Mitmenschen gerade ausgebrochen ist und man Fragen über Fragen mit sich herumträgt. Man kann Halt, Trost und Unterstützung erfahren – und davon kann man in einer solchen Situation eher mehr als weniger gebrauchen.
Zudem sind nicht alle Gruppen gleich. Manche folgen einem strukturierten Ablauf und führen Protokoll, andere lassen sich von Fachleuten zum Krankheitsbild informieren, und wieder andere legen Wert auf gemeinsame Freizeitaktivitäten.
Für zweifelnde Menschen hat Rolf Fischer einen guten Rat: „Angehörige, die beim ersten Treffen verunsichert sind, können, wenn sie wollen, direkt zu Beginn sagen, was sie zur Gruppe geführt hat, und was sie sich erhoffen.“ Man könne aber auch erst zuhören und am Schluss etwas dazu sagen – oder beim nächsten Treffen.
Um eine Selbsthilfegruppe in der eigenen Wohngegend zu finden, gibt es viele Wege:
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In jeder größeren Stadt gibt es eine Selbsthilfekontaktstelle, die Auskunft gibt, welche Gruppen in der Nähe sind. Manche bieten Räume an, wo sich Angehörige treffen können.
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Auf der Webseite der NAKOS (der Nationalen Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen) finden Angehörige umfangreiches Wissen zum Thema Selbsthilfe. Dort erfährt man auch, wie man selbst eine Gruppe gründen kann.
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Der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen hat eine eigene Suchmaschine. Hier kann man nach Region und Diagnose filtern.
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Sozialpsychiatrische Dienste oder Zentren gibt es in vielen Städten. Sie bieten Beratung und Unterstützung für psychisch Kranke an – und für deren Angehörige.
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Viele psychiatrische Kliniken bieten ebenfalls Selbsthilfegruppen für Betroffene und Angehörige an – meist krankheitsübergreifend.
Aktuell treffen sich coronabedingt viele Gruppen online.
Für die erfolgreiche Suche kann es sinnvoll sein, nicht spezifisch nach Gruppen für Angehörige von Menschen mit Depressionen zu suchen, sondern nach Gruppen für Angehörige von Menschen mit psychischen Erkrankungen – denn von diesen gibt es wesentlich mehr als von den krankheitsspezifischen.
Fischer sieht darin kein Problem: „In unseren acht Gruppen ist der Anteil der vertretenen Krankheiten 40 Prozent Depressionen, 40 Prozent Schizophrenie und 20 Prozent sonstige. Menschen, die in Gruppen gehen, die nicht explizit Depressionen als Krankheitsbild haben, finden fast immer jemanden, mit dem sie sprechen können.“
Wann ist eine Trennung ratsam?
Ich habe mir die folgenden Zeilen für den Schluss aufgehoben. Einerseits, weil es für mich als Depressiven schmerzhaft ist, sie zu schreiben – und andererseits, weil es die letzte Option sein kann, sich als Angehörige:r zu schützen: die Trennung.
Psychologin Schramm rät dazu, diesen Schritt nicht zu schnell zu gehen: „Ich sage Paaren immer, sie sollen sich die Depression zum gemeinsamen Feind machen und nicht sich gegenseitig; und dann zu schauen, wie jede:r einen Beitrag erbringen kann, um die Depression so schnell wie möglich zu überwinden.“
Ja, Paare können sich dazu entscheiden zu sagen: WIR denken, mit Liebe geht das. Denn wenn jede zweite Beziehung an der Krankheit scheitert, dann heißt das auch, dass jede zweite Beziehung nicht an der Krankheit scheitert.
Elisabeth Schramm gibt zu bedenken, dass die Depression eine Erkrankung ist, bei der der Betroffene – wie bei anderen Erkrankungen auch – dazu verpflichtet ist, alles zu tun, was zur Genesung beiträgt: zum Arzt oder zur Psychotherapie zu gehen, vielleicht Medikamente einzunehmen und eine Tagesstruktur einzuhalten – auch wenn es schwerfällt. „Es geht nicht dauerhaft gut, wenn man dem Angehörigen alles aufbürdet, weil man sagt: ,Ich bin ja krank und jetzt musst du halt gucken, wie du alles regelst und die Beziehung pflegst.“
Wenn man zu lange wartet, sich Hilfe zu holen, dann steigt die Gefahr, dass die emotionale Basis verloren geht. Schramm sagt: „Dann ist ein Partner meistens schon innerlich getrennt.“ So geht es auch Sophie, die an meiner Umfrage teilnahm. Sie schreibt: „Wir sind noch zusammen. Er ist noch depressiv. Wenn er sich keine Hilfe holt, werde ich mich irgendwann trennen müssen, um mich selbst zu schützen.“
Eine Trennung ist selten eine leichte Entscheidung – und sie wird nicht leichter, wenn eine von zwei Personen depressiv ist. Wenn Angehörige schon in einer Beziehung Schuldgefühle in sich tragen, werden sie auch bei einer Trennung damit zu kämpfen haben.
Es gibt jedoch Momente, in denen es schlicht und ergreifend schädigend ist, sich nicht zu trennen. Dieser Zeitpunkt ist gekommen, wenn sich beide Partner:innen bei jedem Kontakt in Streitereien verstricken, Beleidigungen und Vorwürfe an der Tagesordnung sind und die Gefühle füreinander komplett erloschen sind. Psychologin Schramm rät Paaren, die sich trennen wollen oft, erst einmal eine zeitliche Trennung zu vollziehen oder auseinanderzuziehen, aber nicht voreilig einen Schlussstrich zu ziehen.
Ich habe es schon einmal geschrieben und ich schreibe es heute wieder: Es kann furchtbar sein, in eine Depression zu rutschen. Es kann aber genauso schlimm sein, machtlos und verunsichert mitanzusehen, wie es der Person immer schlechter geht, die man liebt. Es ist nicht einfach, krank zu sein. Es ist aber manchmal auch nicht einfach, gesund zu sein.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert.