Was hätte dir damals am meisten geholfen? Was hättest du dir gewünscht?
„Ehrlich gesagt den Tod. Oder Lehrer, die mich fair behandeln, die eingreifen und nicht noch zusätzlich draufhauen. Oder vielleicht Therapeuten, die nicht mit Unverständnis auf eine weinende Schülerin reagieren, weil sie mit Stöcken und Vogelkot beworfen und beschimpft wurde. Nicht jemanden, der es als Fortschritt sieht, weil es ja dieses Mal keine Steine und Spucke waren.“
Das antwortet Sarah in meiner Umfrage, die ich vor drei Wochen zu Erfahrungen mit Mobbing in der Schule startete und an der 450 Menschen teilgenommen haben.
Sarah ist nicht alleine. Einer Studie zufolge gaben rund 13 Prozent der befragten Schüler:innen in Deutschland an, unmittelbare Erfahrungen mit Mobbing gemacht zu haben – und 8,3 Prozent, dass sie selbst gemobbt worden sind. Rechnet man das herunter, bedeutet das: In jeder Klasse werden durchschnittlich zwei bis drei Kinder gemobbt.
Noch einmal: Zwei bis drei Kinder pro Klasse. Ich glaube, dass Mobbing gesellschaftlich massiv unterschätzt wird. Seit Jahren bin ich als Erzieher tätig, ich habe minderjährige Geflüchtete betreut, in Kinderheimen gearbeitet und als Schulsozialarbeiter gearbeitet. Ich habe erlebt, wie Mobbing täglich Kindern und Jugendlichen zusetzt. Trotzdem war ich oft der Einzige, der das Thema in Teamsitzungen auf den Tisch brachte.
Ungefähr so habe ich diese Gespräche in Erinnerung:
Ich: „Schon wieder ein Fall unter den Jungs. Wir müssen aktiv werden. Alle. Es kann nicht sein, dass wir mit ansehen, wie Kinder, die wir begleiten, gemobbt we…“
Kolleg:innen: „Wir sehen dein Bedürfnis, Martin. Sprich dich ruhig aus, das hat seine Daseinsberechtigung.“
Ich: sage nichts. Weil ich nicht weiß, was ich auf die Aussage der Kolleg:innen erwidern soll.
Protokollierender Kollege mit Blick auf den Kalender: „Allerdings stehen nächste Woche Supervision, große Teamsitzung und die Weiterbildung zu selbstverletzendem Verhalten unter Schüler:innen an.“
Ich: sage immer noch nichts. Weil ich gerade noch viel weniger weiß, wie ich auf diese Ignoranz antworten soll.
Vorgesetzter: „Mensch, Martin, TOLL, dass du dich dafür einsetzt! Du kannst ja mal ein Konzept in Word ausarbeiten. Machst du bitte noch einen Kaffee?“
Das Chamäleon mit dem Namen Mobbing ist ein Drache
Ja, ich weiß, ich klinge möglicherweise bitter. Aber, liebe Leute, so wird das nix.
Das Thema Mobbing ist wie ein Chamäleon: Meistens wird es zu spät erkannt als das, was es eigentlich ist. Nämlich ein Riesenproblem. Mich lässt der Eindruck nicht los, dass viele meinen: „Kinder sind halt so.“ Oder: „Naja, alles nicht so wild.“ Oder: „Stimmt, wir müssen dringend was unternehmen, das geht so nicht … Oh, guck mal, so sieht das neue I-Phone aus.“
Selbst Psychotherapeut:innen scheinen hier einen blinden Fleck zu haben. Ich war in meinem Leben fünf Mal in der Psychiatrie, ich habe seit meiner Kindheit wiederholt auftretende Depressionen. In ziemlich vielen Sitzungen sprachen wir über meine Kindheit, aber in keiner einzigen Sitzung sprachen wir über mein Verhältnis zu Gleichaltrigen.
Mit diesem Text möchte ich dich, liebe Leserin und lieber Leser, einladen, mit mir genauer hinzusehen: Das Chamäleon mit dem Namen Mobbing ist ein Fucking Drache. Es hat langfristige Folgen für die menschliche Psyche. Es ist verführerisch, denn Mobbing-Täter:innen sind die Stars und Sternchen der Klasse. Aber es gibt nachhaltige (!) Strategien dagegen, die sich die Lehrer:innen, die das hier lesen, zu Herzen nehmen sollten.
In meiner Realschulzeit gab es Plakataktionen gegen mich
Wenn ich das Wort „Mobbing“ höre, denke ich auch an meine Vergangenheit. Ich wurde jahrelang in der Realschule ausgelacht, bespuckt und geschlagen. Mein Nachname galt als Schimpfwort, und nicht selten stellte mir morgens vor Unterrichtsbeginn irgendjemand ein Bein.
Weil ich weiße Haut und rote Haare habe und nicht braun werden kann, wurde ich ständig daran erinnert – auch im Handballverein. Ältere zeigten unter der Dusche auf meine Schambehaarung und lachten mich aus. HAHAHAHA, DER GOMMEL IST JA ROT! Als ich auf dem Nachhauseweg von einem Klassenkameraden von hinten angefallen und bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt wurde, stellte ich mit Schrecken im Nacken fest, dass ich nirgends sicher war.
Einmal hatten sich alle Schüler:innen der Klassen 5 bis 10 in der großen Turnhalle versammelt. Dort hörten wir einen Vortrag über die weißrussische Stadt Gomel (auch Homel), die infolge der Nuklearkatastrophe in Tschernobyl kontaminiert war. Schon während des Vortrags kicherten einige und zeigten auf mich. Zur großen Pause hing am Schuleingang ein Plakat: „HILFE FÜR GOMMEL.“
Ich war nicht der Klassendepp, sondern der Schuldepp.
Ich hatte zu Beginn keinen blassen Schimmer, was all diese Gewalt und dieser Hass mit mir zu tun hatten. War ich strunzdumm, wie alle sagten? Waren mein Körper, mein Gesicht, meine Haut grottenhässlich? Nach ein paar Monaten setzte mein Selbsthass ein. Ich hasste meinen Nachnamen, meine Person und ich hasste dieses verfickte, zerstörte Leben.
In mir trug ich das beißende, mich bis heute nachts heimsuchende Gefühl, es verbockt zu haben: selber schuld. Wenn du lange genug wie Scheiße behandelt wirst, glaubst du irgendwann, dass du Scheiße bist. Im Alter von zwölf Jahren war ich am Ende – und Suizid wurde eine Option, die ich in Erwägung zog.
Die psychischen Folgen von Mobbing sind verheerend
Als ich für diesen Artikel recherchierte, merkte ich bald, dass ich mit dieser Erfahrung nicht alleine war. Bald stieß ich auf Literatur, die belegte, wie weit die Folgen von Mobbing reichen und wie tief sie gehen. So fand ich ein Interview mit dem Kinder- und Jugendpsychiater Dieter Wolke, das mir zu denken gab. Wolke ist Wissenschaftler an der britischen University of Warwick und erforscht unter anderem die Langzeitfolgen von Mobbing. Er berichtet von zwei Studien aus den USA und Großbritannien, die zeigen, dass Opfer von Mobbing psychische Probleme wie Depressionen und Angstzustände entwickeln – und zwar häufiger, als Opfer von sexuellem Missbrauch und Misshandlung das tun.
Sexueller Missbrauch und Misshandlung sind mit das Schlimmste, das einem Kind oder Jugendlichen widerfahren kann – es zeichnet dich ein Leben lang. Der Jugendpsychiater setzt im Interview noch einen drauf:
„Eine unserer Studien zeigt zum Beispiel, dass 27 Prozent aller Depressionen auf Bullying zurückzuführen sind. Ähnliche Ergebnisse liegen für Angststörungen, gesteigertes selbstverletzendes Verhalten und Suizid sowie psychotische Symptome vor.“
Mit 6.719 Teilnehmenden handelt es sich bei dieser Studie nicht gerade um ein kleines Experimentchen. Depressionen haben unter vielen anderen ein Symptom: Suizidalität. Um wirklich sicher zu sein, stelle ich einer weiteren Forscherin die Frage: „Ist es korrekt, wenn ich sage, dass die Wahrscheinlichkeit, sich das Leben zu nehmen, steigt, wenn man in der Kindheit und Jugend gemobbt wurde?“ „Das ist korrekt.“
Die Bestätigung gibt mir Vanessa Jantzer, Psychologin am Universitätsklinikum Heidelberg. Sie forscht seit zehn Jahren über Mobbing an Schulen, hat an 30 Schulen in Deutschland ein Präventionsprogramm (nach Dan Olweus) getestet und erarbeitet gerade ein neues Programm, in der Hoffnung, mehr Schulen dafür zu gewinnen. Dan Olweus war ein norwegischer Professor an der Universität Bergen und gilt als Gründervater der Mobbingforschung, die er in den 1980er Jahren ins Leben rief.
Jantzer sagt: „Es gibt Studien, die zeigen, dass selbst zehn Jahre später das Risiko für psychische Störungen erhöht ist (Angststörungen oder Depressionen) – und auch im Alter von 40 oder 50 Jahren sind Lebensqualität und Beziehungen eingeschränkt. Partnerschaften und Freundschaften leiden darunter, weil den Betroffenen positive Erfahrungen in der Peergroup fehlen.“ Allerdings gebe es resiliente Betroffene, die keine Folgestörungen entwickeln – Mobbing mache also nicht immer krank, aber das Risiko sei erhöht.
Auf gut Deutsch: Mobbing kann dein soziales Leben jahrzehntelang zerstören.
Marie geht das ähnlich. Sie berichtet in meiner Umfrage: „Ich habe eine sehr schlechte Meinung von mir, halte mich für dumm und hässlich. Ich habe Depressionen und eine soziale Phobie entwickelt. Dadurch bin ich in der Arbeit nicht sehr belastbar. Zum Glück wurde mir eine Teilerwerbsminderungsrente bewilligt.“ Sie habe Probleme mit anderen Menschen und lebe alleine.
Wie geht es dir, liebe Leser:in jetzt? Diese Zahlen, Studien und Erlebnisberichte, sie machen mich traurig, sie treffen mich im Innern und sie machen mich wütend. Vor allem, weil Täter:innen nicht zu spüren scheinen, was sie da anrichten. Oder?
Mobbing-Täter sind die Stars und Sternchen der Klassen
Schauen wir uns die Täter:innen mal etwas genauer an. Was motiviert sie? Haben sie überhaupt kein Mitgefühl? Werden auch sie getroffen von negativen Folgen ihres Handelns?
„Täter sind überdurchschnittlich beliebt.“ Als Vanessa Jantzer diesen Satz sagt, muss ich sie bitten, den Satz zu wiederholen. Wie bitte? Täter:innen, die andere beleidigen, bespucken, Gerüchte in die Welt setzen und schlagen, die sind beliebt? Und dann auch noch überdurchschnittlich?
Ich versuche, mich zu erinnern. Wer waren nochmal meine Mobber? Als Schuldepp waren es sehr viele, deshalb beschränke ich mir hier auf drei: Es war P., zu dem in der Schule ALLE aufsahen – und obwohl er später Neonazi wurde, hatte er permanent neue Freundinnen. P. war der Coolste. Und dann gab es noch M., der zu Beginn mein Freund war, aber sich trotzdem im Klassenzimmer über mich lustig machte – und er war bester Freund des Klassensprechers. Alle mochten ihn, und niemand wagte es, ihn zu kritisieren. Es war N., in die ich über beide Ohren verknallt war, und die mir in der sechsten Klasse sagte, ich solle mich „waschen, nicht kratzen“. Mir dämmert es. Die Forscherin hat möglicherweise recht.
Benjamin, der bei meiner Umfrage mitmachte und selbst andere Schüler:innen gemobbt hatte, bestätigt das: Auf meine Frage, wen er gemobbt habe, antwortet er: „Alles und jeden, meist nie böse, nie körperlich, sondern nur mit Worten, keines unter der Gürtellinie, eher aus einer gewissen Arroganz heraus. Ich war guter Sportler, guter Schüler, beliebt bei Mädels, da hat man sich was ‚rausgenommen‘. Nicht gut, sorry, aber so war es nun mal.“
So war es nun mal. Ich kann es immer noch nicht begreifen. Wie kann es sein, dass diese Form der Gewalt mit Beliebtheit gekrönt wird? Forscherin Jantzer hat die Antwort:
„Die Täter:innen sind beliebt, sie werden durch Macht in der Gruppe belohnt – wichtig ist auch die indirekte Belohnung: Selbst die, die nichts tun oder wegschauen, billigen das Mobbingverhalten.“
Oft würde geglaubt werden, dass Täter einen niedrigen Selbstwert haben und deshalb mobben, um sich selbst über andere zu erhöhen. Das stimme so nicht. Täter:innen hätten ein großes Netzwerk in der Peergroup und deshalb seien sie ein attraktives Vorbild, so Jantzer.
Um Täter:innen noch besser zu verstehen, rufe ich Mechthild Schäfer an, die in Deutschland so etwas wie die Päpstin der Mobbingforschung ist. Schäfer ist Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. In ihrer Forschung konzentriert sie sich seit Jahren auf Mobbing in Schulklassen als Gruppenphänomen, die Stabilität von Mobbingrollen. Und sie ist jetzt auch aktiv in der Mobbingprävention. Am Telefon erklärt sie mir:
„Ein Drittel einer Population strebt nach Dominanz – deshalb ist es völlig normal, dass dies auch in der Klasse passiert. Entweder auf positive Art (das nennt man positiver Führungsstil) oder im Sinne von: ,Ich will der Coolste sein.“
Von ihr erfahre ich auch, dass Täter:innen keine unempathischen Menschen sind, aber vom Erfolg ihres Tuns lernen. Aggression sei in der Regel schnell und erfolgreich, da viele Schüler:innen bei einem Vorfall überrascht wären. „Und das wiederum zeigt den Tätern, dass sie auf diese Weise ihr Ziel – Macht und Status – problemlos erreichen können. Dazu kommt dann eine Form der moralischen Distanzierung: Die hat es verdient! Wie kann man auch nur so dumm sein!”
Wir sehen, andere zu mobben, hat viele Vorteile: Macht, Belohnung und Beliebtheit. Es fühlt sich – ich weiß, das klingt schräg – sehr gut an und macht sogar Spaß. Täter:innen sind die Stars und Sternchen in der Klasse. Herzlichen Glückwunsch.
Ein besseres Wort für Mobbing ist Psychoterror
Mobbing ist kein Pipifax. Oder um mit den falschesten Annahmen einmal aufzuräumen:
1. Mobbing ist kein Konflikt. Wir haben es hier nicht mit Meinungsverschiedenheiten oder alltäglichen Reibereien zwischen Schüler:innen zu tun.
2. Mobbing ist kein einmaliger Vorfall. Mobbing ist auch nicht nach einer Woche vorbei. Es sind viele, unterschiedlich intensive Aktionen psychischer, verbaler oder sozialer Gewalt, die Täter den Betroffenen über Monate und Jahre versetzen.
3. Mobbing passiert nicht „einfach so“. Es ist kein Zufall. Mobbing-Täter suchen sich ihr Opfer in Ruhe aus und richten dann ihre Aggression (mithilfe der Klasse) gegen eine:n Mitschüler:in.
Und um auch noch den letzten Irrtum aufzulösen: Mobbing ist keine Angelegenheit zwischen zwei Menschen – Opfer und Täter. Und dafür gibt es den Mobbing-Kreis, den Dan Olweus, einer der Gründerväter der internationalen Mobbingprävention prägte. In diesem Kreis gibt es acht (!) Rollen:
- Personen, die mobben
- Mitläufer
- Aktive Unterstützer
- Passive Unterstützer
- Unbeteiligte Zuschauer
- Mögliche Verteidiger
- Verteidiger
- Person, die gemobbt wird (Opfer)
Psychiater Wolke beschreibt den Prozess des Aussuchens so: „Ein Bullying-Täter, der zum ersten Mal in die Klasse kommt, weiß noch nicht, wer sein Opfer sein wird. Er wird es an jedem Kind ausprobieren. Und er wird seine Aufmerksamkeit auf diejenigen richten, die nicht einfach weggehen, sondern auf das Bullying erschüttert reagieren und womöglich anfangen zu weinen. Der Täter in spe prüft, ob diese Kinder Freunde haben, die ihnen helfen. Wenn nicht, sind keine Kämpfe zu erwarten und werden diese Kinder zu einfachen Zielscheiben.“ (Wolke benutzt für Mobbing das Wort Bullying.)
Wir sehen: Zwischen Täter und Opfer gibt es ein Ungleichgewicht der Kräfte, das es der betroffenen Person unmöglich macht, sich selbst aus der Situation zu lösen. Das ist ein wichtiger Punkt, denn ein verbreiteter Irrtum ist, dass Mobbing-Opfer deshalb gemobbt werden, weil sie nicht selbstbewusst genug sind. Und man die Situation dadurch verbessern kann, indem man nur mit dem Opfer arbeitet.
Am Telefon erklärt mir Mechthild Schäfer, warum Opfer die Gründe für das Mobbing nicht beim Täter, sondern bei sich selbst suchen: „Das Schlimmste ist: Es passiert etwas und die Betroffenen haben keine Ahnung, warum. In einer Talkshow habe ich ein Mädchen getroffen, das sagte: ‚Erst war ich zu dick, also habe ich abgenommen. Dann war meine Haarfarbe falsch, dann habe ich die falschen Kleider getragen.’ Das, was gesagt wird, ist von denen, die mobben, der vorgeschobene Anlass, um die eigenen Taten begründet dastehen zu lassen.“
Dieses Nicht-Verstehen ist ein Problem, das auch Luise hatte, die in meiner Umfrage schrieb: „Ich war fast jeden Tag übermüdet, da ich nachts meistens weinend wachlag, ich verstand nicht, was ich falsch gemacht hatte.“
„Fuck“, denke ich. Du hast von Anfang an überhaupt keine Chance, dich zu wehren. Und ich merke dabei, dass ich auch mit meinem zwölfjährigen Ich spreche. Wie lange habe ich mich für meine Hautfarbe geschämt, für meinen Namen und für meine scheinbare Dummheit? Bei Mobbing realisiert die betroffene Person nicht, dass sie selbst nicht schuld am Mobbing ist. Sie glaubt: Wenn so viele gegen mich sind, dann muss es an mir liegen.
„Nein, muss es nicht“, so Schäfer. „Wir haben hier eine Person, die es schafft, den Rest der Gruppe so zu manipulieren, dass sich am Ende viele gegen eine wenden.“ Es liege an der Dynamik in der Gruppe und einer Person, die einfach der oder die Coolste in der Klasse sein wolle.
Wenn ich all das, was ich bisher geschrieben habe, zusammennehme, dann suche ich nach einem neuen Wort. Bullying trifft es nicht. Aber Psychoterror. Und Mechthild Schäfer bestätigt mir das.
„Psychoterror ist dahingehend richtig, weil es die Politik der kleinen Nadelstiche ist. Du kommst morgens in die Klasse und weißt: Irgendwann wird heute irgendwas passieren, ich weiß nur nicht was. Und das ist die Logik von Terror. Sicher ist aber, dass ich mal wieder saublöd dastehen werde.“
Gegen Mobbing hilft nur der Wille zur Veränderung – der ganzen Schule
Dieser Text ist bis zu diesem Absatz eine bittere Bilanz der Mobbingforschung. Es gibt jedoch Lösungen, die funktionieren. Doch das erfordert mehr als eine schaltjährliche, gut gemeinte Anti-Mobbing-Projektwoche. Auch hier ist sich die Mobbingforschung einig: Es müssen alle an den Tisch. Die Schulleitung, die Klassen- und Fachlehrer:innen und die Schüler:innen. Und Schulen brauchen ein ein Präventionsprogramm. Und das fängt auf Erwachsenenebene an.
Mechthild Schäfer sagt: „Und deshalb ist es auch wichtig, in der Schule klarzumachen: Als Lehrer habe ich hier die Verantwortung. Das heißt, bestimmte Dinge finden in dieser Klasse nicht statt. Und das meine ich sowas von bitterernst. Um damit den Tätern, die meinen, sie müssten zu den Gewinnern gehören, den Boden sauer zu machen und zu sagen: Das läuft hier nicht. Dadurch, dass Lehrer nichts sagen, suggerieren sie sogar, dass das Mobbing in Ordnung ist. Wegen anderem ‚Scheiß‘ sind sie sehr wohl konsequent, wie zum Beispiel beim Zuspätkommen.“
Ich erinnere mich nochmal. Ein Klassenlehrer, Herr F. machte sich eine Weile für mich stark – und sprach das Thema leider nie direkt an. Das hatte zur Folge, dass ich NOCH mehr in der Missgunst meiner Mitschüler:innen stand, die das Gefühl hatten, Herr F. würde mich bevorzugen. Wahrscheinlich wusste er einfach nicht, wie er die Situation hätte lösen können.
Auf meine Frage, wie Lehrer:innen in einer konkreten Situation handeln können, spricht sich Mechthild Schäfer dafür aus, einen starken Moment zu schaffen. Und zitiert Mobbing-Wissenschaftler Erling Roland, der sagte: „Wenn wir der Idee glauben, das alle beteiligt sind, dann müssen auch alle zusammen sein.“
Ein starker Moment? Was ist das?
„Gruppendynamisch passiert etwas Schwieriges (die meisten denken, naja, die anderen könnten auch was tun) – und Schüler:innen orientieren sich automatisch aneinander. Starker Moment bedeutet: Hoppla, hier ist etwas passiert und wir machen hier mal einen Cut – und einen Klassenkreis. Die Lehrer:innen bekommen die Moderatorenrolle und stellen eine Frage: Was ist passiert? Und das funktioniert tatsächlich. Man muss ein bisschen warten und Stille aushalten – und nur noch moderieren, damit möglichst viele etwas sagen. Und damit kann man die Deutungshoheit von einigen aufbrechen, weil diese plötzlich sichtbar werden. Und das über einen relativ kurzen Zeitraum, maximal 20 Minuten.“
Wenn Mobbing in der Klasse passiert, dann sei es besser, alle Schüler zu involvieren und in die Verantwortung zu nehmen, als Konsequenzen anzudrohen. Denn dann werden die Schüler wach. HALLO! Was ist hier passiert?
Denn, wenn man nicht sofort mit der moralischen Keule austeilt, sondern die Schüler:innen erstmal reden lässt, dann, so Schäfer, kann man die Kraft der Klasse besser nutzen. Denn eigentlich sind 60 Prozent GEGEN Mobbing. Da die Täter mobben, um einen Status zu bekommen, könne man ihnen leicht den Weg abschneiden. „Wir holen die Schüler da ab, wo sie normalerweise agieren. Und die Täter sind nicht blöd, denn sie wollen die Zustimmung der Klasse – und schnell wird das, was sie sich bisher erlauben konnten, eine unpopuläre Aktion.“
Wie sehr ich mir so ein Eingreifen gewünscht hätte!
Eines ist sonnenklar: Wer nichts tut, verstärkt die Aggression. Es ist möglich, es Tätern in Schulen unbequem zu machen und den Psychoterror massiv einzuschränken. Das ist meiner Meinung nach eine der wichtigsten Aufgaben, die sich Schulen für das Jahr 2022 vornehmen sollten. Denn die Menschen, die in meiner Umfrage mitgemacht haben und von Mobbing betroffen waren, hätten auch ohne Mobbing aufwachsen können.
Allerdings müssen Schulen und Lehrer:innen hier Prioritäten setzen und sich klar positionieren. Nicht nur, um potentielle Opfer zu schützen. Sondern auch, um Schüler:innen ein Vorbild zu sein – auch dann, wenn es nicht um Bruchrechnen, Grammatik oder Pünktlichkeit geht.
Anlaufstellen für den Notfall und akut Betroffene:
Die Nummer gegen Kummer, eine kostenlose Telefonhotline, die Kinder, Jugendliche und Eltern anspricht, auch bei Mobbing in den sozialen Medien: 116111 (montags bis samstags von 14-20 Uhr), Elterntelefon: 0800/111 0 550 (montags bis freitags von 9-11 Uhr, dienstags und donnerstags zusätzlich von 17-19 Uhr).
Eine Online-Hilfe per Chat bietet die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung an. Hier können Kinder und Jugendliche sich mit Gleichaltrigen über ihre Probleme austausche und sich gegenseitig helfen, Eltern können auch Einzelchats mit Expert:innen führen.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert.