1791 kämpften die Bürger:innen Europas um Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – während die Apotheker des Kontinents ihren ganz eigenen Kampf ausfechten mussten. Auch ihnen ging es ums Prinzip: das Patentprinzip. Auch sie stritten mit den Herrschern. Denn sie wollten eine einfache Sache: ein Patentverbot für Medikamente.
Was die Pharmazeuten von damals wohl nicht ahnten, genauso wenig wie die Revolutionäre und Revolutionärinnen in den Straßen: Dass andere ihre Kämpfe heute wieder ausfechten würden, nicht auf Flugschriften oder in der Bastille, sondern auf Twitter und in den Meinungsspalten. Es geht in diesen Diskussionen polemischerweise auch immer um das „Ende der Aufklärung“ – und um die Frage, ob überlebenswichtige Medikamente überhaupt patentiert werden dürfen.
Indien stellt zur Zeit fast täglich einen neuen Rekord auf: Immer mehr Corona-Infizierte, 200.000 pro Tag, 300.000, 400.000. Und das sind nur die offiziellen Zahlen. Zur gleichen Zeit ringt Brasilien mit einer anderen Variante des Corona-Virus. In beiden Ländern laufen die Impfkampagnen nur schleppend. Während jeder dritte Mensch in Deutschland mindestens eine Spritze bekommen hat, ist es in Indien nur jeder Fünfzigste. Es mangelt, genauso wie in fast allen anderen Ländern des globalen Südens, an Impfstoff.
Ein breites Bündnis aus Politikerinnen, Nobelpreisträgern und Aktivistinnen fordert deswegen, sofort die Patente auf die Corona-Impfstoffe aufzuheben – sodass nicht nur westliche Pharmafirmen sie produzieren können, sondern jede Firma, die dafür Anlagen hat. Südafrika und Indien hatten deswegen schon vor Monaten die Welthandelsorganisation (WTO) eingeschaltet; sie wollten eine spezielle Vertragsklausel nutzen, mit der ihre Pharmaproduzenten Corona-Impfstoffe herstellen hätten können. Dagegen wehrten sich aber die reichen, westlichen Länder. Aber nun, nach zähen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, haben sie ihr Ziel erreicht: Die USA stimmen einer Aussetzung der Patente zu. Die Europäische Union ist nun bereit, den Vorschlag zu diskutieren.
Damit wird vielleicht Wirklichkeit, was der französische Präsident Emmanuel Macron, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und selbst die Pharmaindustrie vor einem Jahr noch versprochen hatten: Jeder Mensch solle Zugang zum Impfstoff zu fairen Preisen bekommen. Parallel zu diesem Versprechen arbeitete die internationale Wissenschaftsgemeinde in einem rasenden Tempo, und ohne auf Patente oder ähnliches zu achten, daran, dieses neue Virus besser zu verstehen. Ein Team aus Oxford wollte die Lizenzen für den Impfstoff, den es gerade entwickelt, sogar verschenken.
„In meinen Augen ist es völlig klar, dass die Regierungen der Länder mit großer Pharmaindustrie beschlossen hatten, dass der Schutz dieser Industrie für sie am wichtigsten ist.“ Das sagt Jörg Schaaber, der seit Jahrzehnten bei der NGO Bukopharma für gerechte und freie Medizin kämpft. „Dieses System“, er meint das jetzige Patentsystem, „schließt zwei Drittel der Weltbevölkerung aus. Es ist ein System für Reiche.“
Das ist die eine Seite der Debatte. Die andere, bestehend aus den Pharmafirmen selbst und Menschen, die von sich behaupten, dieses Wirtschaftssystem besser zu kennen, argumentieren, dass Patente dringend nötig seien, um überhaupt Impfstoffe und Medikamente herzustellen. Deren Entwicklung sei teuer. Ohne Patente hätten die Firmen keinen Anreiz, Milliarden in die Forschung zu stecken, die oft genug ja auch scheitere.
Wer hat nun recht? Sind Patente wirklich daran Schuld, dass es im globalen Süden zu wenig Impfstoff gibt? Und könnte eine Aussetzung der Patente helfen, dass mehr Menschen geimpft werden?
Die Diskussion über diese Fragen werden sehr oft ideologisch und emotional geführt. Dabei sind die Antworten nicht simpel; man muss Widersprüche aushalten. In diesem Text versuche ich, mich der Frage sachlich zu nähern – und zeige am Ende auch, wie Lösungen aussehen könnten, die nicht an den absoluten Extrempunkten liegen. Niemand muss das globale Patentsystem einreißen, um den globalen Süden mit Impfstoffen zu versorgen.
Das ist der Witz an der Patentdebatte: Patente sind aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet nur Nebensache.
Was die Impfstoffmenge im Moment wirklich noch begrenzt
Die Idee hinter den ersten Patenten war einfach: Erfinder:innen sollten, sobald sie eine Entdeckung machten, der Welt davon erzählen. In der Patentschrift mussten sie ihre Erfindung so beschreiben, dass theoretisch alle Fachleute die Erfindung nachbauen könnten. Im Gegenzug für ihre Offenheit bekamen die Patentinhaber:innen das Recht, ihre Erfindung für eine gewisse Zeit exklusiv zu vermarkten. Sie bekamen ein Monopol.
Diese einfache Idee hat sich heute zu einem kaum zu durchblickenden Dickicht aus Amtsvorgaben, Gesetzen und internationalen Verträgen entwickelt. Für uns Laien bleibt oft nur eine moralische Beobachtung: Es ist falsch, Dinge künstlich zu verknappen und zu monopolisieren, mit denen Menschenleben gerettet werden können. Die Apotheker, die sich vor 200 Jahren gegen Patente aussprachen, taten das mit dieser Begründung. Außerdem wollten sie ihr Wissen zirkulieren lassen, statt es wegzusperren.
Allerdings sind Patente und die damit verbundenen moralischen Fragen nicht unbedingt entscheidend. Patente sind ein Mittel zum Zweck, oder wie es der Direktor des Max-Planck-Instituts für Innovation und Wettbewerb, Reto Hilty, sagt: Sie sind nur ein „Mechanismus, um Investitionen abzusichern.“ Soll heißen: Wer mit seinem eigenen Geld ins Risiko geht, soll die Gewissheit haben, am Ergebnis auch etwas zu verdienen – und nicht die Kopisten in der Konkurrenzfirma. Mehr bezwecken Patente nicht. „Insgesamt wird das Patentsystem überschätzt“, sagt Hilty, also jemand, der seine Karriere auf Patenten aufgebaut hat und ein Interesse daran hätte, die Bedeutung des Patentrechts hochzuspielen.
Beim Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (VfA) pflichten sie Hilty bei. „Es gibt viele prinzipielle Überlegungen“, sagt Rolf Hömke. „Aber relativ wenig wird gefragt, was denn wirklich im Moment die Menge an Impfstoff begrenzt, die monatlich geliefert werden kann?“ Die niederländische Anwältin Ellen t’ Hoen arbeitet unter anderem bei der pharmakritischen NGO Medicines Law & Policy und war einmal Direktorin eines UN-Patentepools. Sie setzt sich wie Jörg Schaaber seit Jahren dafür ein, dass sich die Industrie öffnet und ihr Wissen teilt. Aber selbst sie sagt: „Wenn sie einfach die Patente aussetzen, reicht das nicht.“
Wenn sich so unterschiedliche Menschen, man könnte fast sagen, Gegner in der Debatte einig sind, dass Patente nicht (allein) entscheidend sind, stimmt das mit ziemlich großer Sicherheit. Die eigentliche Frage lautet nicht: Patente ja oder nein? Sondern: Wie bekommt jeder kranke Mensch das Medikament, das gebraucht wird? Daran angeschlossen: Wie entdecken wir neue Medikamente?
Das ist die größere Frage, die gerade in der Öffentlichkeit mitverhandelt wird, nicht direkt vielleicht, aber doch gut sichtbar. Corona-Impfstoffe sind nur wieder ein neuer Anlass.
Der Fall des sogenannten Astrazeneca-Impfstoffes ist für beide Fragen interessant: Denn er wurde nicht von Angestellten eines Konzerns entwickelt, sondern von einem Team an der Universität Oxford, finanziert mit staatlicher Hilfe. Die Universität hätte allerdings weder die Produktionsanlagen für diesen Impfstoff gehabt, noch die Mittel, um ihn auszuliefern. Deswegen machte das Team das Angebot, den Impfstoff zu verschenken, an eine Firma, die sich dafür interessiert. Auch die Kooperation zwischen dem Noch-Pharmazwerg Biontech aus Mainz und dem Riesen Pfizer aus den USA entstand nur, weil die Biontech-Gründer wussten, dass sie allein nicht in der Lage gewesen wären, schnell genug Impfstoff zu produzieren.
Impfstoffe unterscheiden sich dabei von anderen Medikamenten. Weil hier mit lebenden Kulturen gearbeitet werden muss, ist deren Produktion deutlich komplexer als bei herkömmlichen Medikamenten wie etwa einer Tablette Aspirin. Nochmal schwieriger ist die mRNA-Technologie, die bis vor einem Jahr eigentlich vor allem für die Krebsforschung gedacht war. Milliarden Dosen mRNA-basierter Impfstoffe zu produzieren, abzufüllen und zu kühlen – diese Aufgabe musste bisher noch niemand erledigen, entsprechend gering waren die Erfahrungswerte. Selbst Biontech und Pfizer brauchten Monate, um die Produktion aufzubauen. Wobei das schon schnell war, denn das Developing Countries Vaccine Manufacturers Network (DCVMN) geht davon aus, dass es normalerweise bis zu fünf Jahre dauert, so eine Produktion hochzuziehen.
Weltweit gibt es bisher nur vergleichsweise wenig Standorte, an denen mRNA-basierte Impfstoffe hergestellt werden können. Vektorbasierte Impfstoffe (wie jener aus Oxford) hingegen können von deutlich mehr Fabriken produziert werden, darunter auch Anlagen im globalen Süden. Johnson & Johnson etwa lässt in Südafrika produzieren, Astrazeneca hat die Oxford-Lizenz unter anderem an das Serum-Institut in Indien weitergegeben.
Hinzu kommt, dass noch immer Rohstoffe und Vorprodukte fehlen. Um die Dimensionen der globalen Impfstoff-Produktion besser zu verstehen, hilft ein einfacher Fakt: Jedes fünfte weltweit hergestellte Abfüllgläschen wird derzeit für Corona-Impfstoffe verbraucht. Die Pharma-Unternehmen produzieren allerdings weiterhin auch andere Medikamente. Außerdem knapp: Wegwerf-Zellkulturbeutel, Filteranlagen, bestimmte Spezialchemie sowie zum Beispiel auch Lipide; ein Rohstoff, der es sogar auf die Titelseiten schaffte, als sich Deutschland im Winter wunderte, warum das mit den Impfstoffen so lange dauert. Inzwischen haben die deutsche Merck in Darmstadt und Evonik in Hanau neue Anlagen aufgebaut, um diesen Rohstoff zu liefern.
Der Impfstoff ist also dann nicht mehr knapp, wenn es genug Anlagen und Rohstoffe gibt, um ihn zu produzieren. Diese Frage ist völlig unabhängig von Patenten. Deswegen sind sich alle Expert:innen einig, dass es zu kurz greift, nur über Patente zu sprechen.
Medikamente dort produzieren, wo sie gebraucht werden
Nun aber wird es kontroverser. Wir müssen genau zuhören, etwa dem Pharmalobbyisten Thomas Cueni: „Die Forderung, Patentinformationen zu den Impfstoffen freizugeben, würde das Angebot kurzfristig um keine einzige Dose erhöhen, weil sie die Komplexität der Impfstoff-Herstellung unterschätzt.“ Kurzfristig.
Jörg Schaaber von Buko-Pharma hält das für ein „typisches Verteidigungsinstrument der Pharmaindustrie und der Bundesregierung“. Es gäbe Anlagen im Süden, die die Produktion zumindest teilweise stemmen könnten. Das Wall Street Journal berichtet von der Firma Incepta Pharmaceuticals in Bangladesch, die pro Jahr bis zu 350 Millionen Dosen des Novavax-Impfstoffes herstellen könnte. Aber auch in Kanada stehen noch ungenutzte Anlagen. Dort will die Firma Biolyse bei der kanadischen Regierung eine Zwangslizenz für den Impfstoff von Johnson & Johnson beantragen, um ihn dann in die ärmeren Länder zu exportieren.
„Drehen wir das Kapazitätsargument doch mal um“, sagt Schaaber. „Da es den reichen Länder offenbar wichtiger ist, für sich zu produzieren, ist es doch umso wichtiger, dass die armen Länder ihre eigenen Produktionsstätten bekommen.“
Das ist der Schlüssel dieser Debatte: Wo stehen die Produktionsanlagen und wer hat das Know-How, sie zu bedienen? Zum Kleingedruckten jeder ordentlichen Patentdiskussion im Pharmabereich gehört mehr als die reine Patentschrift. Und wie immer ist das Kleingedruckte besonders wichtig. Die Webseite Medicines Law and Policy nennt das den „intellectual property stack“. Würden die Pharmafirmen heute das Patent aushändigen, stünden morgen erstmal Menschen in sterilen Produktionsräumen und müssten herumprobieren, wie genau dieser Impfstoff herzustellen ist. Sie müssten all die Kinderkrankheiten, die mit so einer Produktion einhergehen, nochmal selbst diagnostizieren und dann abstellen. Sie müssten sogar für ihren Impfstoff nochmal eine Zulassung beantragen. Dazu bräuchten sie nach jetzigem Recht noch mehrere Phasen klinischer Studien und die dazugehörigen Testdaten.
Deswegen sagt Ellen t’ Hoen, die niederländische Aktivistin: „Sie brauchen den Wissenstransfer, ohne geht es nicht.“ Allerdings können auch mit internationalem Recht Pfizer, Biontech und die anderen Firmen nicht dazu gezwungen werden, ihre Angestellten für Trainings in alle Welt zu schicken. Wenn, müssten sie das freiwillig tun.
Genau das erkannte die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie richtete deswegen auf Vorschlag von Costa Rica schon früh in der Pandemie den COVID-19 Technology Access Pool (C-TAP) ein. Er soll helfen, dieses Wissen zu transferieren, Tipps auszutauschen oder gemeinsam Lieferketten für die wichtigen Rohstoffe aufzubauen. Aktuell aber ist keine einzige westliche Pharmafirma Mitglied in diesem Pool – auch Astrazeneca nicht, die ihren Impfstoff geschenkt bekommen haben.
Vor 20 Jahren, als eine ähnliche Diskussion um HIV-Medikamente geführt wurde (Kosten vor Beitritt in den Pool: bis zu 20.000 Dollar, Kosten nach Beitritt in den Pool: 75 Dollar), gaben die Pharmafirmen und ihre Regierungen schließlich nach immensem öffentlichen Druck und einem Alleingang Indiens, das einfach anfing, die entsprechenden Medikamente ohne Lizenz zu produzieren, nach. Seitdem ist im internationalen Handelsrecht festgehalten, dass es Ländern nicht im Weg stehen darf, wenn sie ihre Bevölkerung schützen müssen. Eine Reform dieses Systems ist allerdings ein langwieriger Prozess, der aber Schwung bekommen könnte, wenn Angela Merkel und andere Regierungschefs wirklich einen internationalen Pandemievertrag auf den Weg bringen.
Eine langfristige Lösung muss her
Schnell Abhilfe können eigentlich nur die Regierungen des Nordens schaffen, nicht die Pharmafirmen. Allein die Europäische Union hat inzwischen 1,8 Milliarden Impstoffdosen bestellt, damit könnten alle EU-Bürger zehnmal vollständig geimpft werden. Die EU-Kommission hat so viele Impfstoffdosen eingekauft, weil sie nach dem Debakel vom Januar, als viel zu wenig Impfstoff da war, auf Nummer sicher gehen wollte. Aber auch, um ihre traditionelle Stärke auszuspielen: Außenpolitik ohne Waffen, „soft power“. Die New York Times hat dafür ein Wort gefunden: Impstoffdiplomatie. Und tatsächlich tut sich hier etwas. Die US-Regierung hat schon angekündigt, Impfstoffdosen mit dem Ausland zu teilen, die EU kann das Gleiche tun.
Aber eine wirklich langfristige Lösung ist auch das nicht. Ein kranker Mensch in einem armen Land kann sich nicht immer darauf verlassen, dass die Regierungen der reichen Länder gerade genug Medikamente auf Lager haben, um ihn zu versorgen. Noch dazu nicht, wenn dieser Mensch vielleicht an einer Krankheit leidet, die selten ist und für die es nur wenige Medikamente gibt.
Das nämlich ist die letzte und vielleicht wichtigste Dimension dieser Patentdebatte: Corona hat gezeigt, dass es genug pharmazeutisches Wissen in der Welt gibt, um auch zunächst unwahrscheinliche Aufgaben zu lösen. Etwa einen Impfstoff in sechs Monaten zur Marktreife zu bringen, anstatt wie üblich in mehreren Jahren. Wenn die heute armen Länder selbst solches Wissen hätten und die dazugehörigen Labore und Produktionsstraßen, wäre das ein immenser Fortschritt. Schon allein, weil sie dann vielleicht nicht das x-te Medikament gegen Krebs entwickeln würden, sondern bessere zum Beispiel gegen Dengue-Fieber, eine Krankheit, die eigentlich nur in den Tropen vorkommt.
„Vom Patentrecht geht kein Anreiz aus. Der Anreiz geht vom Markt aus“, sagt Reto Hilty, der Patentexperte. Gerade weil die Entwicklung von Medikamenten so teuer ist, müssen private Firmen auch einen Bedarf dafür sehen. „Das kann man ankreiden, aber das sind eben gewinnorientierte Unternehmen. Warum sollten sie da investieren?“
Die kleinen Stellschrauben: Was helfen kann
Um auch in zukünftigen Pandemien Impfstoffe zu haben, um auch Krankheiten heilen zu können, die selten sind, oder um die drohende Antibiotika-Apokalypse abzuwenden, brauchen wir andere Modelle, um Medikamenten-Forschung zu finanzieren. Ideen gibt es viele, manche davon sind auch schon erprobt.
- Innovationspreise: Eine Regierung oder eine Non-Profit-Organisation schreibt ein Preisgeld für die Entwicklung eines Medikamentes aus.
- Kooperationen zwischen Universitäten, Staaten und Pharmafirmen: Der Staat bringt das Geld mit, die Pharmafirmen Know-How und den nötigen Maschinenpark. Gemeinsam entwickeln sie ein Medikament, das anschließend gemeinfrei ist und von jedem produziert werden kann. Ein Beispiel ist ASAQ, ein patentfreies Medikament gegen Malaria.
- Der Staat könnte härtere Bedingungen an seine Forschungsförderung stellen: Förderung nur dann, wenn das Medikament etwa zum Selbstkostenpreis abgegeben wird. Diesen Hebel haben die Regierungen beim Corona-Impfstoff nicht genutzt.
- Direkte Förderung von Laboren, Universitäten und vor allem Produktionsstätten. Die US-Regierung denkt gerade darüber nach, genau das mit einer Milliarde US-Dollar zu tun.
- Zuletzt Investitionen der öffentlichen Hand für Forschung zu Krankheiten, für die es keinen Markt mehr gibt, die als „ausgeforscht“ gelten. Hier braucht es Grundlagenforschung, die eventuell zu Durchbrüchen ähnlich der mRNA-Technologie führen kann.
Und dann gibt es noch eine Idee. Sie ist radikal, aber hat genau das richtige Maß an Utopie, das so ein verfahrenes Thema wie das Patentrecht in der Pharmabranche gebrauchen könnte. Denn die Idee setzt am Geschäftsmodell an. Sie stammt von Jan Wildeboer, einem Programmierer bei der Open-Source-Software-Firma Red Hat. Wildeboer war einer der federführenden Aktivisten gegen Softwarepatente. Er sagt: „mRNA ist deswegen so cool, weil es so mechanistisch funktioniert.“ Wer die Produktionsanlage habe, könne prinzipiell alle Medikamente selbst herstellen. Für neue Medikamente müsste nur der zugrundeliegende Code geändert werden, der Rest der Produktion bliebe gleich.
Wildeboer stellt sich vor, dass der Staat solche Produktionsstraßen wie Infrastruktur behandelt, also wie Wasserleitungen, Stromnetze oder Telefonanschlüsse, wie Dinge, die jeder gegen eine Gebühr nutzen kann. Wer eine Idee für ein Medikament hat, kann diese Infrastruktur dann nutzen. „mRNA ist eine Plattform beziehungsweise ein industrieller Prozess, kein spezielles Medikament. Alle Schritte sind für alle mRNA-Medikamente prinzipiell gleich“, sagt er.
Mit dieser Idee wäre das bisherige Geschäftsmodell der großen Pharmafirmen gefährdet. Sie bieten meist alles aus einer Hand an: von der Entwicklung zur Produktion zur Auslieferung. Wären mRNA-Produktionsstraßen öffentliches Gemeingut, könnte potentiell jeder, der möchte, in die Erforschung neuer Medikamente einsteigen, so wie auch freie Software von Millionen Menschen freiwillig und ohne Bezahlung entwickelt wurde. Und das Beste an dieser utopischen Idee: Die grundlegenden Patente für die Produktionsanlagen sind laut Wildeboer schon frei.
Vermutlich realistischer ist allerdings zunächst etwas anderes. Ellen ’t Hoen sagt: „Es wird Reformen geben. In der internationalen Gemeinschaft wächst das Bewusstsein, dass sich etwas ändern muss.“ Dass die USA nun zustimmen, die Patente auf die Corona-Impfstoffe auszusetzen, ist nur ein erster Schritt, eine ad-hoc-Lösung. Die jahrhundertealte Frage bleibt: Warum sollten ein paar wenige blockieren können, was Milliarden Menschen langfristig helfen kann?
Redaktion: Esther Göbel; Schlussredaktion: Tarek Barkouni; Fotoredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert