Müllsäcke, zu Plastikschürzchen zurechtgeschnitten, statt professioneller Schutzkittel. FFP-2-Masken, die eine ganz Woche lang halten müssen. Vom Abdruck der Masken gezeichnete Gesichter. Diese Bilder der Pandemie haben sich eingebrannt: Pflegefachkräfte, die sich fast schutzlos um kranke Menschen kümmern, obwohl sie selbst schon lange nicht mehr können.
Vor einem Jahr, als die Pandemie Deutschland erreichte, haben uns diese Bilder erschreckt und beschämt. Sie zeigten Menschen, die bereit waren zu helfen, die täglich dem Tod begegneten und die dabei ihr eigenes Leben riskierten. Fast wie Soldat:innen, die ihr Land in den Krieg schickt.
Vor einem Jahr stellten sich viele auf ihre Balkons, um Pfleger:innen Applaus zu spenden. Die Öffentlichkeit hatte schnell ein Wort für sie: Held:innen.
Viele, die in der Medizin arbeiten, sind mit dieser Art der Anerkennung vertraut – nicht erst seit Corona. Trotzdem freuen sich die wenigsten darüber. Warum nicht?
Monja Schünemann hat lange in der Pflege gearbeitet und ihren Beruf vor neun Jahren verlassen. Sie sagt: „Pflegefachleute wollen keine Helden sein. Helden handeln bewusst heldenhaft. Aber Pflegende werden doch in diese Situation hineingetrieben.“
Pflegefachkräfte sind doppelt so lange krankgeschrieben wie andere Berufsgruppen. Sie beziehen doppelt so häufig Erwerbsminderungsrente.
Nach durchschnittlich siebeneinhalb Jahren geben sie auf und suchen sich einen anderen Beruf.
Die Pfleger:innen nennen das #Pflexit. Die Pandemie treibt die Flucht an. 2020 haben 9.000 Menschen den Pflegeberuf verlassen und laut einer Umfrage des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe unter 3.600 Pflegefachkräften denken 30 Prozent der Befragten gerade darüber nach.
Es gibt eine oberflächliche Erklärung für die Flucht: Die Bezahlung ist zu schlecht, die Arbeitsbedingungen zu hart. Zweifellos ruiniert Schichtdienst die Gesundheit und das Sozialleben. Die Entschädigung dafür ist viel zu gering.
Ich habe diese Erklärung lange geglaubt, ich kannte keine bessere. Aber trotzdem dachte ich immer: Ein Puzzleteil fehlt. Denn auch andere Berufe sind hart und schlecht bezahlt, trotzdem verlassen wesentlich mehr Menschen die Pflege. Jetzt bin ich auf etwas gestoßen, das erklärt, warum das Arbeiten im Gesundheitswesen so anstrengend ist. Es berührt eigentlich alle Berufe, die Gefahr bergen und Opfer fordern. Dabei geht es auch um den Blick der Gesellschaft, die aus Menschen Held:innen machen möchte. Die Erklärung geht davon aus, dass die Situation der Pfleger:innen tatsächlich viel mit der von Soldat:innen gemein hat. Und sie hat mir einen Begriff gegeben, der genauer erklärt, warum so viele in der Pflege ihren Beruf zu hassen beginnen: moralische Verletzung.
Monja Schünemann sagt: „Das System hat eine Menge davon beschnitten, was ich beruflich wollte.“ Vor neun Jahren gab sie ihren Beruf auf, studierte Medizingeschichte und promovierte. In ihrem Blog findet sich auch ein Text, der den Anstoß zu diesem hier gab. Monja Schünemann beschreibt darin, was moralische Verletzungen sind. Sie sagt: „Ich war erleichtert, als ich endlich einen Namen dafür hatte, was mir passiert ist. Ich bin 30 Jahre lang stets und ständig und sehr konkret in meinem Wertesystem verletzt worden.“
Ich begann zu recherchieren und alles, was ich seitdem darüber gelernt habe, bringt mich zu dieser These: Moralische Verletzungen sind der Hauptgrund für die Flucht aus dem Pflegeberuf.
Gute Medizin ist ohne einen moralischen Kompass undenkbar
Was aber sind moralische Verletzungen? Jeder Mensch hat Wertvorstellungen, die ihn durchs Leben begleiten. Das können ideelle Werte sein: Eigenschaften, die jemand als wichtig empfindet, wie zum Beispiel Mut, Empathie oder Zuverlässigkeit. Oder aber materielle Werte wie Statussymbole. In sozialen und medizinischen Berufen tummeln sich Menschen, denen ideelle Werte wichtiger sind als materielle: Ihnen ist wichtig, ehrlich zu sein, großzügig zu sein, mitzufühlen, zugewandt zu sein, zu helfen.
Zu diesen individuellen Werten kommen die ethischen Grundsätze der medizinischen Berufe hinzu. Der medizinischen Ethik liegt ein Leitsatz aus der Antike zugrunde: Primum non nocere. Zuerst einmal nicht schaden! Er wurde zuerst im Hippokratischen Eid formuliert. Inzwischen ist dieser Eid durch die Genfer Deklaration abgelöst worden. Für Mediziner:innen gelten diese vier grundlegenden Prinzipien als eine Art Taschenkompass:
- Respekt der Autonomie (und daraus abgeleitet die informierte Entscheidung der Patient:innen, also die Zustimmung zur Behandlung nach ordentlicher Aufklärung)
- Keinen Schaden zufügen
- Fürsorge
- Gerechtigkeit
Auch in der Pflege gibt es einen ethischen Kodex. Er geht auf die britische Krankenschwester Florence Nightingale zurück, die als Erste ethische Grundsätze für Pflegeberufe formulierte. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) hat die international gültigen Grundsätze in einem Positionspapier zusammengefasst. Sie decken sich mit den vier Prinzipien der Genfer Deklaration.
Menschen, die in der Medizin arbeiten, fühlen sich also sowohl durch ihr eigenes Wertesystem als auch durch das ihres Berufsstandes moralisch stark verpflichtet, Gutes und Richtiges zu tun und Schaden abzuwenden. Dieses Wertesystem trifft nun in der deutschen Realität auf ein Gesundheitssystem, in dem zum Teil ganz andere Werte im Vordergrund stehen, nämlich materielle. Jede medizinische Leistung wird durch eine Abrechnungsziffer codiert. Nur wenn Krankenhäuser und Praxen diese Codes an Krankenkassen schicken, bekommen sie Geld überwiesen. Das heißt auch: Je mehr Leistungen sie codieren, desto mehr Geld fließt.
Krankenhäuser finanzieren sich nicht nur durch diese Codes, aber zu einem bedeutenden Teil. Deutschland hat im europäischen Vergleich rechnerisch zu viele Betten in zu vielen Krankenhäusern. Das heißt: Jedes Krankenhaus muss seine Existenz rechtfertigen. Dazu muss es erfolgreich wirtschaften. Alle Menschen, die zur Führungsriege eines Krankenhauses gehören, haben diesen Rechtfertigungsdruck verinnerlicht. Es ist zu ihrer persönlichen Aufgabe geworden, Kosten zu sparen und alle zu einem möglichst effizienten Arbeiten anzuhalten. Ihr Erfolg bemisst sich an ökonomischen Kennzahlen und nicht daran, ob die medizinischen Berufe ihre ethischen Grundsätze besonders gut leben oder ob es Patient:innen nach der Behandlung besser geht als vorher.
Was auf dem Bildschirm recht harmlos dasteht, hat in der Praxis brutale Auswirkungen.
Was sind moralische Verletzungen?
Thorben Müller* ist Lehrrettungsassistent, Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger und arbeitet aktuell als Stationsleitung. Noch. Denn er will das Gesundheitswesen verlassen. Auf meine Frage, warum er vor sieben Jahren Pfleger geworden ist, antwortet er: „Ich finde es reizvoll, das Richtige zu tun.“
Jetzt will er kein Pfleger mehr sein, weil das System ihn jeden Tag dazu zwingt, falsch zu handeln: weniger zu tun, als nötig wäre oder etwas nur deswegen zu tun, weil die Klinik es abrechnen kann. Oft muss er dafür seinen Patient:innen und den Kolleg:innen Dinge zumuten, hinter denen er nicht steht.
Thorben Müller hat Situationen erlebt, die er nicht vergessen kann. „Wegen mir hat einmal ein Kind das falsche Blutpräparat bekommen“, erzählt er. „Wir waren unterbesetzt und hatten viele kranke Kinder zu versorgen.“ Als er die Situation näher beschreibt, verstehe ich erst, dass nicht ihm selbst der Fehler passierte, sondern seiner Kollegin, die allerdings das Kind nicht kannte. Sie arbeitete auf seinen Zuruf, er kontrollierte nicht nach. Das Kind hätte sterben können. „Wir hatten Glück“, sagt Thorben Müller. In seinem Kopf bleibt dieses Erlebnis als sein eigener Fehler haften. Das ist typisch für moralische Verletzungen: Betroffene geben sich selbst die Schuld.
Thorben Müller konnte seinen eigenen Anspruch, das Richtige zu tun, nicht erfüllen. Der Zeitdruck durch Unterbesetzung machte es ihm zu schwer.
Der Präventionsforscher Neil Greenberg vom King’s College in London schreibt: „Moralische Verletzungen, ein Begriff, der ursprünglich aus dem Militär stammt, kann als psychische Belastung definiert werden, die aus Handlungen oder dem Fehlen von Handlungen resultiert, die den moralischen oder ethischen Kodex einer Person verletzen.“ Anders als Depressionen oder Traumata sind moralische Verletzungen keine psychische Krankheit. Doch diejenigen, die darunter leiden, machen sich oft Vorwürfe: „Ich bin eine furchtbare Person“. Oder klagen ihr Umfeld an: „Mein Chef schert sich nicht um Menschenleben.“ Das führt zu Scham oder Schuldgefühlen – und oft zu psychischen Schwierigkeiten.
Monja Schünemann greift in ihrem oben verlinkten Blogartikel den Beitrag von Neil Greenberg aus dem British Medical Journal auf. Der Artikel war schon zu Beginn der Pandemie erschienen. Darin beschreibt Greenberg fünf Faktoren, die zu einer moralischen Verletzung beitragen.
1. Das Gefühl, im Stich gelassen zu werden
Zu Beginn der Pandemie fehlte überall auf der Welt ordentliche Schutzkleidung. Pflegende waren gezwungen, entweder ihren eigenen Gesundheitsschutz hintenanzustellen oder ihren ethischen Kodex zu verletzen und Patient:innen nicht genug zu schützen. Der Druck durch die Gesellschaft war enorm. Sie sollten dem Patientenansturm und dem Virus standhalten. Zuerst fehlte es an der grundlegenden Ausstattung, später kamen große Personalengpässe dazu – auch weil sich viele mit dem Coronavirus infizierten. In Deutschland starben 252 Pfleger:innen an Covid-19. Das ist bis heute keine Meldung in der Tagesschau wert. Auch das verletzt.
2. Eine:n Patient:in bevorzugen zu müssen
Personalengpässe führen außerdem dazu, dass nicht alle schwer kranken Patient:innen so versorgt werden können, wie es der medizinische Standard vorsieht. Das ist schon lange so, in der Pandemie wurde der Verrat an den eigenen Standards jedoch für viele zur Regel. Schon vor Corona musste sich eine Pflegefachkraft in Deutschland im Schnitt um 13 Patient:innen kümmern. In Deutschland ist der Personalschlüssel im Vergleich zu anderen Ländern sehr schlecht.
In der Krise wurden die gesetzlich festgelegten Pflegepersonaluntergrenzen ausgesetzt, sodass auf vielen Stationen noch weniger fertig ausgebildete Fachkräfte arbeiten als vor Corona – bei durchschnittlich höherem Aufwand durch Corona (jede:r neue Patient:in muss getestet werden und positiv Getestete müssen isoliert werden, was einen Rattenschwanz an Mehraufwand nach sich zieht).
3. Unvorbereitet zu sein
Medizinische Teams waren durch Corona mit einer neuen Situation konfrontiert: unbekannte Krankheit, unerforschte Behandlung, keine Best-Practice-Leitplanken. Viele Pflegefachkräfte mussten in einer völlig unbekannten Situation versuchen, die medizinischen und ethischen Standards hochzuhalten. Zwar ist inzwischen Einiges einfacher geworden, weil es Behandlungserfahrung gibt, aber es sind neue Belastungen dazu gekommen: Die Dauerwelle seit dem Herbst bringt zu viele Menschen mit schweren Covid-Verläufen in die Krankenhäuser. Die Mitarbeiter:innen auf den Covid-Stationen wechseln sich ab, weil die Belastung zu groß ist für einen Dauereinsatz. Das heißt, sie arbeiten oft nicht als Team zusammen. Die unerfahrenen, nicht eingearbeiteten Leute versuchen das Beste aus dieser Situation zu machen, aber meist passieren an diesen herausfordernden Arbeitsplätzen mehr (Beinahe-)Fehler als in Routinezeiten. Den daraus entstehenden Stress beschreibt auch die Krankenpflegerin Veronica Malić in diesem Gesprächsprotokoll.
4. (Schlechte) Entscheidungen anderer vertreten zu müssen
In dieser immer noch vergleichsweise neuen und kräftezehrenden Pandemielage treffen viele Menschen Entscheidungen, ohne genau zu wissen, was sie da letztendlich tun. So entstehen auch mehr Spannungen im Team, denn es gibt oft unterschiedliche Einschätzungen, was in einer neuen Situation das Beste ist. Wenn (vermeintlich) weniger kompetente Menschen Entscheidungen treffen, hinter denen man selbst nicht stehen kann, führt das nicht nur zu Spannungen und Streit. Es können auch moralische Verletzungen entstehen, wenn jemand Dinge tun soll, die den Patient:innen direkt oder indirekt schaden.
Thorben Müller ist Stationsleiter und damit eine Führungskraft auf der mittleren Managementebene. In dieser Position ist es besonders schwierig, eigene Werte zu verteidigen. Seinen Mitarbeiter:innen muss er das schmackhaft machen, was weiter oben entschieden wird – auch, wenn er nicht dahinter steht. „Die Pflegedirektorin hat wahrscheinlich schon vergessen, wie sie sich als Pflegefachkraft mal gefühlt hat“, sagt er. „Auch sie argumentiert hauptsächlich mit Zahlen.“
5. Keine Regeneration zu haben
Hinzu kommt, dass es schwer ist, abzuschalten. Selbst die Freizeit ist von Corona bestimmt. Ständig gehen die Gedanken zurück zur Station: zu den Patient:innen und den Kolleg:innen. So fällt es schwer, abzuschalten. Wer auf Covid-Stationen arbeitet, entkommt seiner Arbeit nicht mehr.
Mit all diesen Situationen und Erlebnissen fühlen sich die Menschen im Gesundheitswesen gerade allein gelassen. Umso mehr, da sich die Politik gegen eine Niedriginzidenzstrategie entschieden hat. Hohe Ansteckungszahlen führen zu hohen Patient:innenzahlen, immer mehr Covid-Stationen müssen aufmachen, die Standards weichen mehr und mehr auf, die Belastungen werden zu Überlastungen. Auch, weil die Patient:innen mit einem schweren Covid-Verlauf im Schnitt immer jünger werden.
All das verursacht nach den Erkenntnissen von Neil Greenberg moralische Verletzungen.
Moralische Verletzungen machen krank
Pflegende, die Schuldgefühle haben, ändern daraufhin den Ton des inneren Dialogs. Aus: „Ich glaube daran, dass ich das Gute vermehren kann“, und: „Ich tue das Richtige“, wird ein anklagendes: „Ich habe falsch gehandelt“, oder: „Ich bin ein schlechter Mensch.“ Aus diesem Schuldgefühl finden die Betroffenen meist nicht alleine heraus. Denn dazu müssten sie Gelegenheit haben, es mit einer gewissen Distanz zu reflektieren, zum Beispiel, indem sie darüber sprechen. Am besten unter Anleitung eines geschulten Therapeuten oder einer Therapeutin. Zumindest aber mit Kolleg:innen, die vielleicht etwas Ähnliches erlebt haben und das Schuldgefühl kennen – und die Scham, die meist darauf folgt. Doch dazu kommt es nicht oft, nicht zuletzt, weil meist keine Zeit dafür ist (erst recht nicht seit Corona).
Peter Tonn leitet das Neuropsychiatrische Zentrum in Hamburg. In seinem Unternehmen forscht er zu psychischen Belastungen in der Pflege und bietet zusammen mit seinem Team Fortbildungen für Pflegefachkräfte an. Er sagt: „Moralische Verletzungen sind ein Übergangsphänomen. Entweder sind sie der Einstieg in den Ausstieg aus dem Beruf. Oder sie sind der Einstieg in Krankheit.“
„Alle im Gesundheitswesen sind irgendwann an einem Punkt, an dem sie verstehen, dass es so nicht mehr weitergehen kann, auch die Mediziner:innen“, sagt Thorben Müller. „Man spürt, dass man sich entscheiden muss: für sich selbst oder für den Beruf. Beides zusammen geht nicht.“ Peter Tonn bestätigt das. „Es ist im Gesundheitswesen nicht möglich, moralische Verletzungen zu vermeiden. Fast alle erleben Situationen, die die eigenen Werte in Frage stellen.“
Viele entscheiden sich, den Beruf zu verlassen, um nicht krank zu werden. Diejenigen, die bleiben, werden nicht selten zynisch, sehen keinen Sinn mehr darin, sich anzustrengen und lassen ihren Frust an Auszubildenden oder Hilfspfleger:innen aus. Nurses eat their Young, heißt das Phänomen. Die Alten fressen ihre Jungen. Seit Jahrzehnten ein großes Problem in den Pflegeberufen. Die Verletzungen passieren schon ganz früh im Berufsleben und werden ständig weitergegeben.
Der Heldenmythos macht alles schlimmer
Das Bild von den selbstlosen Held:innen, die so mutig sind, dahin zu gehen, wo die meisten nicht sein wollen („Ich könnte das nicht!“), hilft in dieser Situation nicht – im Gegenteil. Der Heldenmythos kommt aus einer Tradition, die versucht, Menschen zu motivieren, über eigene Grenzen zu gehen – und das Leben anderer über ihr eigenes zu stellen.
„Der Heldenmythos zieht eine Wand hoch“, sagt Adelheid von Spee. Sie ist Krankenschwester und im deutschen Berufsverband für Pflegeberufe zuständig für das Thema Ethik. „Die Gesellschaft tut das, um sich von unangenehmen Wahrheiten zu distanzieren.“
Forschungsergebnisse bestätigen ihre Analyse. Eine aktuelle Studie hat untersucht, wie Medienbeiträge den Heldenbegriff im Zusammenhang mit Pflege einsetzen. Die Forscher:innen fanden heraus, dass die Darstellung von Pflegefachkräften als Helden vor allem drei Wirkungen hat:
- Das Risiko, das Pflegefachleute für sich selbst eingehen, erscheint mithilfe des Heldenbilds gerechtfertigt. Das beruhigt die Gesellschaft. So kann sie annehmen, dass Kranke schnell und angemessen Hilfe bekommen.
- Politiker:innen und andere Entscheider:innen wollen durch das Heldenbild demonstrieren, dass sie Pflegende unterstützen. Sie lenken so auch davon ab, dass sie im Grunde nichts an kritikwürdigen Verhältnissen ändern, wie zum Beispiel am Pflegenotstand und an der Unterbezahlung.
- Das Bild der heldenhaften Pfleger:innen hält alle anderen dazu an, sich ähnlich selbstlos zu verhalten.
Nicht zuletzt soll es auch dafür sorgen, dass die Pflegenden selbst bei der Stange bleiben und nicht mitten in einer Notsituation aufgeben.
Heldentum hat immer auch einen Bezug zu Krieg und Kampf. Davon zeugt auch die Sprache, die in vielen Reden von Politiker:innen auftaucht. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagte in einer Regierungserklärung am 4. März 2020: „Alle, die für unsere Gesundheit im Einsatz sind, stehen im Kampf gegen Corona an vorderster Front.“ Die Rhetorik ist kein Zufall. Auch Soldat:innen sind mit ähnlichen Mechanismen aus Werteverrat und moralischen Verletzungen belastet. Auch sie erleben Situationen, die sie in Konflikt bringen mit ihrem Selbstbild und ihren Werten. Situationen, in denen sie zum Beispiel Kamerad:innen im Stich lassen müssen, um sich selbst zu retten, sind in Krisengebieten zwar nicht an der Tagesordnung – aber sie kommen oft genug vor.
Die Militärmedizin kennt moralische Verletzungen schon lange als Vorstufe von schwereren psychischen Erkrankungen wie Burnout und posttraumatische Belastungsstörungen. Das Bundeswehrkrankenhaus in Berlin hat 2019 ein Manual für werteorientierte Psychotherapie veröffentlicht. Das ist ein Leitfaden für Therapeut:innen, die Soldat:innen helfen wollen, sich moralische Verletzungen bewusst zu machen, sie zu reflektieren und damit umzugehen.
Peter Tonn kennt diese Konzepte. Er sagt: „Die Aufgabe für Krankenhäuser und Stationen ist es, eine Kultur zu entwickeln, mit der moralische Verletzungen ertragbar werden.“ Das Problem dabei: Vielen Pflegefachkräften ist nicht bewusst, dass sie eine moralische Verletzung erleiden. Sie nennen es Stress oder Burnout oder kriegen erstmal Rückenschmerzen (Rückenschmerzen haben oft auch psychische Ursachen).
Auch ihren Arbeitgebern sind die zerstörerischen Mechanismen meistens nicht präsent und erst recht nicht, wie man ihnen vorbeugt. Neil Greenberg weist in seinem Artikel darauf hin, dass es wichtig ist, die medizinischen Teams darauf vorzubereiten, dass sie moralische Dilemmata erleben werden. Erst dann lassen sich Strategien entwickeln, damit umzugehen.
Dazu gehört vor allem, offen im Team darüber zu sprechen, damit Pfleger:innen nicht glauben, sie hätten persönlich versagt, seien zu schwach für den Beruf oder schlechte Menschen. Außerdem braucht es eine bessere Fehlerkultur. Wenn etwas schiefgeht, so wie bei Thorben Müller die Sache mit dem Blutpräparat, hilft es nicht zu fragen: „Wer hat Schuld?“, so als ginge es darum, ein:e schlechte Mitarbeiter:in zu finden und zu entfernen. Oft entsteht die moralische Verletzung erst durch so eine „Schuldkultur“. Besser für die einzelne Person und das ganze Team ist es zu fragen: „Warum ist das passiert?“ So kommt das Problem in die Mitte des Teams und alle können mithelfen, es loszuwerden. Niemand ist alleine damit.
Peter Tonn und sein Team bieten Seminare an, in denen Pflegefachleute lernen sollen, innere und äußere Stressoren besser zu erkennen. Das ist der erste Schritt: Sehen, woher das Stressgefühl kommt und woraus es besteht. Krankenhäuser und Pflegeheime können diese Seminare buchen und bekommen einen Teil der Kosten von den Krankenkassen zurück. Betriebliche Gesundheitsförderung nennt sich das Prinzip. Aber viele Arbeitgeber denken dabei nur an die körperliche Gesundheit. Seminare, die die psychische Gesundheit fördern, haben es schwer. Sie finden nur statt, wenn die Führungsriege verstanden hat, dass sich der Aufwand lohnt. Den Seminaranbietern ist wichtig, dass klar ist: Hier soll niemand üben, noch mehr Stress auszuhalten.
Eigentlich – und darauf weist Monja Schünemann in ihrem Blogbeitrag eindringlich hin – hätte zu Anfang der Pandemie ganz viel unternommen werden müssen, um Pfleger:innen auf die kommenden Belastungen vorzubereiten. Und während der Pandemie, hätte es mehr gezielte Unterstützung gebraucht. Stattdessen wurde vor allem der Heldenmythos ausgepackt. Die Folgen werden spürbar sein.
Eine Chance, die Massenflucht aus dem Pflegeberuf zu verhindern, hätte die Gesellschaft vielleicht noch. Sie könnte versuchen, den Teams in den Krankenhäusern, Praxen und Heimen zu signalisieren, dass sie ein Gesundheitswesen nicht akzeptiert, das nur durch die Ausbeutung der eigenen Mitarbeiter:innen funktioniert. Dass sie kein System will, das es unmöglich macht, ethische und medizinische Standards einzuhalten.
Monja Schünemann sagt: „Wenn wir über das Gesundheitssystem reden, stehen immer die Patient:innen im Fokus. Das ist meiner Meinung nach falsch.“ Sie ist überzeugt, dass es Patient:innen nur dann gut gehen kann, wenn es zuerst denjenigen gut geht, die sich um sie kümmern.
Der richtige Name von Thorben Müller ist der Autorin bekannt.
Für diesen Text habe ich mit vielen Menschen gesprochen. Allen, die mir bei der Recherche geholfen haben, möchte ich ausdrücklich danken, vor allem Ludwig und Laura.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Fotos: Günter Valda; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger.