Volker Barth, ein Mann mittleren Alters, hält eine Ampulle zum dosieren hoch vor seine Augen, während er in einer häuslichen Umgebung steht

© Silke Jäger

Psyche und Gesundheit

Diese Medizin will nicht heilen – sondern Zeit schenken

Erst, als bei seiner Arbeit mit sterbenskranken Menschen die Heilung nicht mehr im Mittelpunkt stand, konnte der Arzt Volker Barth die Medizin machen, die er und viele andere sich wünschen.

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Reporterin für Kopf und Körper

Frau Braun* hat Angst. Dabei sieht die Szenerie so friedlich aus: Die Sonne scheint, eine Vase mit einem kleinen Blumenstrauß steht auf dem Platzdeckchen in der Mitte des Tisches. Frau Braun ist schmal, der viel zu weite Pullover kann das kaum verbergen. Ihr faltiges Gesicht wirkt fahl, die Augen glänzen nicht mehr. Ihr gegenüber sitzt ihre Schwester und sagt: „Mittlerweile kommen die Hustenanfälle auch abends. Meistens sind wir damit eine Stunde beschäftigt.“ Woraufhin Frau Braun mühsam ergänzt: „Ich kann das aber nicht mehr lange durchhalten.“

Frau Braun ist Anfang 60 und hat Lungenkrebs. Die Metastasen haben sich im ganzen Körper ausgebreitet. Das Krankenhaus hat sie vor drei Wochen nach Hause entlassen. Der Krebs ist nicht mehr aufzuhalten. Frau Braun weiß, dass sie sterben wird. Alles, was sie sich in diesem Stadium noch wünscht: dass es schnell geht. „Warum muss ich so lange leiden?“, fragt sie leise. Vielleicht haben Volker Barth und Julia Beumker eine Antwort für sie. Oder eine Lösung.

Volker Barth ist Arzt, Julia Beumker Pflegefachkraft. Beide haben eine Fortbildung in Palliativmedizin absolviert und gehören zum mobilen Palliativteam Waldeck-Frankenberg, das täglich Patient:innen wie Frau Braun besucht. Das Team bringt eine Form der Medizin zu den Menschen, denen die übliche Medizin nicht mehr helfen kann. Teure Apparate, kunstvolle Chirurgie, unübersichtliche Medikamentenpläne – bei Patient:innen wie Frau Braun kommen all diese Methoden an ihr Ende.

Die meisten Menschen haben Angst vor dieser Medizin

Wenn feststeht, dass eine schwer verlaufende Krankheit nicht mehr heilt und eine kranke Person nicht wieder gesundet, übernimmt die Palliativmedizin. Und die ist so, wie sich die meisten Menschen Medizin wünschen: zugewandt, wohlmeinend, ohne Zeitdruck. Sie spendet Hoffnung, wo eigentlich keine mehr ist. Trotzdem empfinden viele Menschen Palliativmedizin als ein Schreckgespenst. Eben weil sie dem üblichen Bild von Medizin nicht entspricht. Mit ihr verbindet sich nicht das Versprechen „Du wirst wieder gesund.“ Viele Menschen können sich nur schwer vorstellen, worauf sie in dieser Situation noch hoffen sollten.

Bereits seit Hippokrates gilt, dass Ärzt:innen auch unheilbare Krankheiten behandeln. Das Prinzip, schwerkranke Menschen bis zum Tod medizinisch zu begleiten, geriet mit dem Siegeszug der modernen Medizin Anfang des 20. Jahrhunderts dann in den Hintergrund. Doch bald stellte sich heraus, dass der Glaubenssatz „Viel hilft viel“ nicht immer zur Genesung, sondern auch in eine Sackgasse führen kann. Denn die Erwartung, Medizin könne alle Krankheiten besiegen, gepaart mit der Vorstellung, dass es in jeder Situation erstrebenswert ist, Lebenszeit zu retten, verlängert auch die Leidenszeit. Oft unnötig.

In den 1960er Jahren entstand in London eine Gegenbewegung, die 20 Jahre später zum ersten Hospiz in Deutschland führte: fünf Betten für Krebspatientinnen auf einer chirurgischen Station in Köln. Heute gibt es circa 300 palliative Stationen und 240 Hospize in Deutschland. Seit 2007 haben Menschen Anspruch auf eine mobile Palliativversorgung. Oft übernehmen Pflegedienste die Versorgung. Von spezialisierten mobilen Teams wie dem Palliativteam Waldeck-Frankenberg gibt es deutschlandweit etwa 300.

Die Mitglieder des Teams Waldeck-Frankenberg verbringen einen großen Teil des Tages im Auto und fahren durch den nordhessischen Landkreis. Die nächsten größeren Städte heißen Kassel im Norden und Marburg im Süden. Ohne Auto geht hier nichts. Endlose Kurven führen durch Wälder und über sanfte Hügel, rechts und links Äcker. Es geht durch die Kreisstadt Korbach, die 23.000 Einwohner:innen zählt, vorbei am Touristenmagnet Edersee, einem Stausee, dessen Mauer im Zweiten Weltkrieg zerbombt wurde und auf dem heute Menschen segeln und lachen.

Das Bild zeigt Volker Barths Gesicht im Profil beim Autofahren. Er trägt eine FFP2-Maske.

Volker Barth, Leiter des mobilen Palliativteams Waldeck-Frankenberg, fährt zu einer Patientin. © Silke Jäger

Volker Barth und Julia Beumker erreichen an diesem Dienstag um elf Uhr vormittags das Haus der Familie Braun. Es liegt etwas abseits eines kleinen Dorfes, ein Bungalow, der hinten raus einen großen Garten hat. Vom Wintergarten aus blickt man auf gepflegten Rasen, Blumenbeete und die Hecke des Nachbarn. Als Herr Braun die Tür öffnet, sagt er: „Ich habe mich krank schreiben lassen.“ Es klingt wie eine Niederlage, so als ob er eigentlich sagen will: „Ich habe die Hoffnung aufgegeben.“ Barth antwortet: „Dann können Sie ja mit Ihrer Frau heute die Sonne genießen.“ Herr Braun stutzt kurz, dann geht er vor ins Haus.

Das mobile Palliativteam ist Teil des Palliativnetzes Nordhessen der Region Kassel. Es übernimmt aber alle Patient:innen, die angemeldet werden und im Landkreis wohnen. Anmelden können Krankenhäuser, Arztpraxen und Hospize. Volker Barth ist der einzige festangestellte Arzt. Er ist verantwortlich für das Team und erster Ansprechpartner für Krankenhäuser und Ärzt:innen, die ihre Patient:innen für die Palliativversorgung anmelden. Zum Team gehören sechs Pflegefachkräfte und zwei Stellen in der Buchhaltung. Doch das reicht schon längst nicht mehr. Barth braucht dringend Verstärkung. Er sucht schon seit Längerem eine Kollegin oder einen Kollegen. „Am liebsten eine jüngere Kollegin. Als Ergänzung zu mir etwas klapprigem Mann.“

„Wir arbeiten viel mit Hausärzten vor Ort zusammen. Und die sind meistens um die 60 Jahre alt und Männer“, sagt Julia Beumker, die auch nichts gegen weibliche Unterstützung im Team hätte. Ohne diese Hausärzte könnte das Palliativteam nicht alle Patient:innen versorgen, die angemeldet sind. Diese kooptierenden Ärzt:innen, wie sie im Fachjargon heißen, machen die Palliativarbeit nebenbei. Jeden Morgen ist das Team deshalb mindestens anderthalb Stunden damit beschäftigt, die Tagestouren zu planen. „Wir müssen uns dann natürlich nach den Zeiten der Hausärzte richten. Das ist extrem aufwändig. Ich telefoniere nicht selten zwei Stunden am Tag, um Termine abzusprechen“, sagt Julia Beumker.

Sie und ihre Kolleg:innen aus der Pflege betreuen die Patient:innen zum Teil allein. Alle angemeldeten Patient:innen sollen mindestens einmal in der Woche besucht werden und haben einmal am Tag Kontakt zum Arzt oder zu einer Pflegefachkraft aus dem Team. Jeden Tag nach Feierabend ist jemand von der Pflege für den Bereitschaftsdienst eingeteilt. Damit die Patient:innen immer eine:n Ansprechpartner:in haben.

Rezepte ausstellen, Medikamentendosis erhöhen, Physiotherapie verschreiben – für diese Dinge wird aber ein Arzt gebraucht. Deshalb fährt das mobile Palliativteam zweigleisig: Volker Barth ist als Arzt der Hauptansprechpartner, die kooptierenden Ärzte unterstützen.

Das Bild zeigt Volker Barth und Julia Bäumker am Küchentisch eines Patienten. Barth hat einen aufgeklappten Laptop vor sich, Beumker einen mobilen Drucker.

Volker Barth und Julia Beumker beim Hausbesuch. Mit dem mobilen Drucker können sie Rezepte direkt vor Ort ausdrucken. © Silke Jäger

Das ist manchmal schwierig, denn damit das Team gut arbeiten kann, müssen alle immer auf dem neuesten Stand sein. Was war nachts los bei Frau Braun? Hat sich der Sohn von Herrn Müller endlich gemeldet? Kommt Herr Schmidt noch mit der Morphin-Dosis zurecht, oder muss sie erhöht werden? Diese Infos werden in eine Software eingetragen: PalliDoc. Das ist der Maschinenraum des Teams.

„Leider sind die kooptierenden Ärzte nicht immer so zuverlässig mit der Dokumentation. Da müssen wir öfter mal nachfragen oder Infos nachtragen“, sagt Julia Beumker. Man merkt ihr an, wie anstrengend sie das findet. Ihre Arbeit wird dadurch schwerer, als sie sein müsste. Verständnis hat sie trotzdem für die Situation der Hausärzte. „Sie hängen die Besuche an ihre normalen Sprechstunden an. Das kann auch schon mal abends um acht sein. Wobei wir zusehen, dass das die Ausnahme bleibt.“

Ohne starke Medikamente geht es nicht

Volker Barth klappt seinen Laptop auf, öffnet PalliDoc und schaut nach, was Frau Braun einnimmt, um die Hustenattacken zu kontrollieren. „Sie nehmen Morphin als Tablette, richtig? Und bei Bedarf können Sie drei Mal am Tag zwei Milligramm zusätzlich nehmen. Klappt das denn mitten im Hustenanfall?“ Barth erkennt das Problem von Frau Braun sofort: Wer gerade um sein Leben hustet, kann keine Tabletten schlucken. Er greift zum Hörer und ruft einen Mitarbeiter einer Firma an, die PCA-Pumpen vertreibt. Mit PCA-Pumpen können Medikamente in regelmäßigen Abständen direkt in die Blutbahn gepumpt werden. Der Mann weiß auf Anhieb, welche Pumpe bei Frau Brauns Problem infrage kommt und verspricht, am Nachmittag vorbeizuschauen, um sie zu beraten und eine Pumpe anzuschließen.

Barth fragt Frau Braun, ob sie etwas dagegen hat. „Ich bin mit allem einverstanden. Ich habe ja keine andere Chance mehr“, sagt sie leise und atmet etwas schneller. Julia Beumker beruhigt: „Sie haben dann ein sichereres Gefühl, weil der Stress durch die Angst ‚Ich kann die Tablette nicht nehmen!‘ wegfällt. Und Sie sind gut vorbereitet, wenn die Anfälle zunehmen.“ Frau Braun nickt: „Ich wünschte, es würde schneller vorbeigehen mit mir.“

Als Barth sich längst verabschiedet hat von Frau Braun und gegen zwölf Uhr Mittagszeit wieder im Auto sitzt auf dem Weg zum nächsten Patienten, sagt er: „Sie will eigentlich nur das Leid ihrer Familie schneller beenden. Schade, dass sie die Momente mit ihren Lieben nicht ein bisschen mehr genießen kann.“ Morphin lindert die Hustenanfälle und hilft zu entspannen. Frau Braun muss mit Morphin weniger leiden. Aber: Morphin lähmt auch die Atmung. Es erspart quälende Erstickungsgefühle, kann jedoch zu einem Atemstillstand führen.

„Die Patientin weiß das“, sagt Barth. „Sie hat mich schon öfter gefragt, warum man Tiere einschläfern darf, sie aber weiter leiden muss.“ Solche Sätze fielen insgesamt häufiger, seit über aktive Sterbehilfe diskutiert werde, sagt er. Dadurch hätten viele nur eine geringe Vorstellung von den Perspektiven, die es trotz schwerer und lebensbedrohender Krankheit gäbe. Die Palliativmedizin sei genau für diese Situationen da. „Wir wollen Leiden lindern und Lebensqualität zurückgeben.“

Das Bild zeigt eine schwarze Arzt-Tasche aus Leder, die auf einem Tisch steht.

Die Arzttasche hat Volker Barth nach dem Studium geschenkt bekommen. Seitdem er als Palliativarzt arbeitet, braucht er sie jeden Tag. © Silke Jäger

Was Volker Barth damit meint, wird beim nächsten Patienten klar. Herr Schulz ist Mitte 60 und wegen seiner Krebserkrankung zur Tochter gezogen. Er hat eine Chemotherapie überstanden und braucht einen Rollator, um nicht beim Gehen zu stürzen. Trotzdem erzählt er lachend, dass er in der vergangenen Woche 65. Geburtstag gefeiert hat. „Seitdem bin ich richtig gut drauf!“ Er freut sich auch noch über etwas anderes: „Tavor ist super. Das macht mich so ausgeglichen. Ich gehe jetzt bei jedem Sonnenstrahl gleich raus.“ Volker Barth sagt: „Sie machen das klasse!“

In der Palliativmedizin spielen Medikamente wie Tavor und Morphin eine bedeutende Rolle. Manche Medikamente, die Barth regelmäßig verschreibt, fallen unter das Betäubungsmittelgesetz und werden streng kontrolliert. Jedes Rezept ist nummeriert und registriert. Barth muss akribisch Buch führen, wem er welches Medikament in welcher Dosis wann gegeben hat. Alles wird zusätzlich in PalliDoc festgehalten. Er ist verantwortlich dafür, dass nichts abhanden kommt. Die Medikamente lagern in einem Tresor, zu dem nur er den Schlüssel hat.

„Wir werden oft zu spät dazu geholt“

Nach dem Besuch bei Herrn Schulz fahren Julia Beumker und er zu einem weiteren Patienten, danach trennen sich ihre Wege. Lang bleibt der Tag aber für beide; oftmals wissen sie nicht, wann Feierabend sein wird. Barth findet das nicht so schlimm. Für ihn ist es wichtiger, genügend Zeit für die Patient:innen zu haben. Auch deshalb ist die tägliche Terminplanung so aufwendig: Die Zeit, die das Team für einen Patienten oder eine Patientin braucht, lässt sich nicht immer gut abschätzen. „Die Dinge lassen sich nicht aufschieben. Wenn die Patient:innen ein Problem haben, muss es sofort gelöst werden“, sagt Barth.

Früher arbeitete er in einem Krankenhaus als Narkosearzt. Er ist froh, diese Welt hinter sich gelassen zu haben. Auch seine Kolleg:innen wollen nicht zurück. „Zu viel Stress“, meint Julia Beumker.

Was macht es mit Barth, täglich mit Leiden und der Aussicht auf den Tod konfrontiert zu sein? „In der Klinik ging es auch täglich um Leben und Tod. Und zusätzlich war da noch der Druck, wirtschaftlich sein zu müssen.“ Diesen Druck hat die Palliativmedizin nicht. Barth und die anderen empfinden ihre Arbeit wie ein Geschenk. Weil sie sich jetzt voll auf eine einzige Sache konzentrieren können: Lebenszeit lebenswerter zu machen.

Unser Gesundheitswesen kann viel – aber es kann nicht alles. Den Tod kann es hinauszögern, aber verhindern kann es ihn nicht. Das Hinauszögern des Todes hat aber immer öfter einen Preis: Statt sterben zu müssen, müssen immer mehr Menschen lernen, mit einer Krankheit zu leben, manchmal auch mit einer tödlichen. Und das heißt nicht selten: Schmerzen, Schlaflosigkeit, Todesängste, Abhängigkeit.

„Wir werden sehr oft zu spät dazu geholt“, sagt Barth. Das liegt am Unwissen der Menschen – auch derer, die es eigentlich wissen müssten, den Mediziner:innen. Wenn das Team die Patient:innen erst kurz vor dem Tod sieht, können sie ihren eigentlichen Auftrag nicht erfüllen. Dann bleibt meist nicht mehr viel anderes zu tun, als den Sterbeprozess medikamentös zu begleiten. Alle im Team fragten sich dann, wie viel als wertvoll empfundene Lebenszeit dadurch verloren gegangen sei, sagt Barth.

„Wir erleben öfter, dass todkranke Menschen nicht mehr daran geglaubt haben, jemals wieder schmerzfrei leben zu können.“ So wie Herr Schulz. Der Arzt verschreibt ihm an diesem Tag noch ein Öl, mit dem er seine kribbelnden und tauben Hände leichter massieren kann. Eine Nachwirkung der Chemotherapie. „Ich bin Ihnen so dankbar, Herr Barth!“, sagt er. „Ich dachte schon, jetzt ist alles vorbei. Aber das stimmte ja gar nicht.“


Die Namen der Patient:innen sind geändert.

Redaktion: Esther Göbel; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger.

Diese Medizin will nicht heilen – sondern Zeit schenken

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