Die Corona-Impfungen sollen irgendwann einmal die Pandemie beenden – so die Hoffnung. Doch in Deutschland geht die Massenimpfung langsamer voran, als wir es uns vorgestellt haben. Am 17. März waren knapp sieben Millionen Deutsche einmal geimpft, gut acht Prozent der Bevölkerung. In England waren es gut 25 Millionen (37 Prozent). In den Vereinigten Staaten 74 Millionen (22 Prozent). In Israel sogar 50 Prozent (was allerdings „nur“ fünf Millionen Menschen entspricht).
Die große Frage ist: Warum dauert es bloß so lange, in die Gänge zu kommen?
Lange Zeit war Impftstoff knapp, aber das ändert sich nach und nach (Statistik). Würde es nicht insgesamt schneller gehen, wenn auch in Hausarztpraxen geimpft wird? Hausärzt:innen impfen in Deutschland seit Jahrzehnten, können Termine unkompliziert vergeben, kennen ihre Patient:innen und wissen, wer die Impfung am nötigsten hat. Sie sind Impf-Profis. Warum impfen sie noch nicht?
Anfang März hat die Bundesregierung beschlossen, dass nicht allein in Impfzentren geimpft werden soll, sondern auch in Arztpraxen. Doch bis es soweit ist, kann es Mitte April werden. Dabei wird es am Anfang zwar noch nicht genug Impfstoff geben, aber warum soll es noch Wochen dauern, bis Praxen mitimpfen? Was ist daran so kompliziert, dass es in einigen Bundesländern sogar Modellprojekte gibt?
Das alles hat im Wesentlichen zwei Gründe: Einmal geht es um Statistik, einmal um die Machtverhältnisse im Gesundheitswesen. Und, große Überraschung: Es liegt nicht an überbordender Bürokratie (jedenfalls nicht in dem Maße, wie du wahrscheinlich denkst).
Was wir glauben, woran das Impfen in Hausarztpraxen scheitert
Zu viel Papierkram hält zweifellos auf. Ein Hausarzt, mit dem ich gesprochen habe, hat zusammen mit einem mobilen Impfteam Menschen in Pflegeheimen geimpft. Er berichtet: „Wir waren zu sechst. Eigentlich brauche ich beim Impfen nur zwei Helfer:innen, eine Person, die den Impfstoff vorbereitet und eine, die beim Aufklärungsgespräch mitschreibt.“ Er macht sich Sorgen, dass er den Aufwand in der Praxis nicht leisten kann, wenn er irgendwann seine eigenen Patient:innen impfen soll. „Für diese Impfung waren allein drei Personen mit dem Scannen und Melden der Impfunterlagen beschäftigt. Sie haben für ihre Arbeit pro Tag zwei Stunden länger gebraucht als wir drei vom Impfteam. Wenn das so bleibt, legt das den Praxisbetrieb lahm.“
Impfen, egal ob gegen Masern, Tetanus oder die Grippe, war bisher immer Sache der Hausärzt:innen. Jede Praxis bestellte ihren Bedarf an Impfstoffen über die Apotheken-Lieferkette, klärte ihre Patient:innen auf (deren Krankengeschichte sie am besten kennt), setzte die Impfspritze, trug die Impfung in den gelben Impfpass ein und überwachte die Impflinge – nur für den Fall, dass unerwünschte Reaktionen auftreten sollten. Für all das brauchen zwei Personen ungefähr eine halbe Stunde.
Bei der Corona-Impfung ist es anders. Denn eine Massenimpfung in einer pandemischen Lage muss anders gehandhabt werden als Schutzimpfungen gegen Infektionskrankheiten, die schon lange zirkulieren. Es ist nicht nur wichtig zu erfassen, wer wann mit welchem Impfstoff geimpft wurde, sondern auch sicherzustellen, dass Impfreaktionen rechtzeitig auffallen. Das nennt sich Impfsurveillance, also Überwachung der Impfkampagne. Wie wichtig diese Überwachung ist, zeigt das Beispiel der seltenen Hirnvenenthrombosen, die möglicherweise im Zusammenhang mit dem Impfstoff von Astrazeneca stehen. Ohne entsprechende Daten kann so ein Zusammenhang weder gefunden, noch untersucht werden.
Deshalb müssen Impfzentren die dafür nötigen Daten an das Robert Koch-Institut (RKI) schicken. Einige der Daten dienen allein der Statistik, um zu sehen, wie viele Menschen einmal oder zweimal geimpft wurden. Diese Statistik zeigt auch das Impfdashboard der Bundesregierung an. Andere Daten dienen der Impfsurveillance. Dabei werden unter anderem Wohnort des Impflings und Chargenangaben zum Impfstoff erfasst. Welche Daten genau dazugehören, ist in der aktuellen Impfverordnung des Bundesgesundheitsministeriums beschrieben.
Bei der Erzählung von der überbordenden Bürokratie gibt es Ungereimtheiten
Es stimmt also, der bürokratische Aufwand bei der Corona-Impfung ist größer. Aber erklärt das wirklich schon die Schwierigkeiten, die es offenbar beim Einbinden der Hausarztpraxen in die Impfkampagne gibt? In jeder Praxis gibt es Verwaltungssoftware, die hilft, mit Datenmengen umzugehen. Diese Software ließe sich schnell anpassen. Ein Anbieter, mit dem ich gesprochen habe, schätzt, dass man dafür circa zwei Programmiertage brauche. Eine Mitarbeiterin der Firma erklärte mir, dass bisher die rechtliche Grundlage dafür gefehlt habe. Aber die ist mit der neuen Impfverordnung offenbar da. Leider kommt diese Klärung recht spät und die Kommunikation zwischen den Beteiligten (Bund, Länder, RKI, Abrechnungsstellen und Industrie) verlief eher konfus.
Und es gibt immer noch einen Haken. „Praxen sind nicht dazu verpflichtet, eine Schnittstelle zur Übermittlung der Daten ans RKI vorzuhalten“, sagt der Softwarehersteller. Das heißt, es ist nicht vorgesehen, dass in allen Hausarztpraxen geimpft wird. Nur Praxen, die von den Impfzentren beauftragt werden, sollen mitimpfen. Eine Voraussetzung für diesen Auftrag ist, dass sie technisch in der Lage sind, die Daten zu übermitteln.
Das macht mich stutzig. Denn mit der Schnittstelle ist die Datenübermittlung kein Problem. Sie kann schnell bereitgestellt werden, und der bürokratische Aufwand für die Impfsurveillance ließe sich so auch reduzieren. Außerdem wären damit die gesetzlichen Vorgaben zur Impfsurveillance erfüllt. Warum gilt das immer noch nicht für alle Praxen?
Aber noch etwas kommt mir in diesem Zusammenhang komisch vor. Ausgerechnet eine mächtige Institution im Gesundheitswesen fordert besonders vehement, die Verantwortung für die Impfkampagne in die Hand der Hausärzt:innen zu legen: die Kassenärztliche Bundesvereinigung, kurz KBV. Sie vertritt die Interessen der meisten niedergelassenen Ärzt:innen in Deutschland.
Ihr Vorsitzender ist oft zu Gast in Talkshows, um sich medienwirksam für mehr Impftempo und eine Stärkung der Arztpraxen einzusetzen. Die Botschaft: Die Impfzentren sind zu langsam, die Hausärzt:innen könnten Millionen Menschen pro Monat mehr impfen. Doch obwohl Ärzt:innen selbst lieber heute als morgen in ihren Praxen mitimpfen möchten, haben sie die Vereinigung zuletzt öfter kritisiert. Wie passt das zusammen?
Woran das Impfen in Arztpraxen tatsächlich scheitert
Um zu verstehen, was hinter der Kritik der KBV-Mitglieder an ihrer Vereinigung steckt, müssen wir uns die Rolle der KBV genauer ansehen. Sie hat viele wichtige Aufgaben im Gesundheitswesen. So vertritt sie zum Beispiel die Interessen der niedergelassenen Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen, stellt sicher, dass sie ihre Praxen selbstständig und wirtschaftlich betreiben können und kümmert sich darum, dass es genügend Praxen in einer Region gibt. Außerdem zertifiziert sie Softwareprodukte für Arztpraxen.
Interessant ist nun, dass die KBV einen Interessenskonflikt hat, wenn es um die Digitalisierung im Gesundheitswesen geht. Sie prüft Praxissoftware und lässt sie zu. Allerdings bietet sie oft eigene Lösungen an, die zum Teil in Konkurrenz zu den Produkten der Industrie steht. Das heißt, die KBV ist wie ein TÜV, der nicht nur checkt, ob ein Auto eines Herstellers fahren darf, sondern gleichzeitig ein eigenes Auto herstellt, es für fahrtauglich erklärt und ein Interesse daran hat, dass möglichst viele Menschen, also Praxen, es nutzen.
Und hier kommen wir endlich zum spannenden Punkt: Wie viel Interesse hat die KBV dann, dass die Daten für die Impfsurveillance über die Praxissoftware aus dem freien Markt ans RKI übermittelt werden? Die KBV könnte das mithilfe ihres eigenen Produktes auch selbst organisieren: mit dem sogenannten Sicheren Netz der KVen, einer Datenautobahn, die viele Praxen mit den sicheren Diensten der KVen verbindet. Über dieses sichere Netz schicken Praxen Abrechnungsdaten an ihre regionale KV, mit denen diese dann die Zahlungen der Krankenkassen organisiert.
Ohne die KBV läuft im Gesundheitswesen nichts. Und deshalb läuft ohne die KBV auch bei der Datenübermittlung zur Impfsurveillance nichts. Die neue Impfverordnung, die ermöglicht, dass auch in Praxen gegen Corona geimpft werden kann, sieht vor, dass ein Teil der Impfsurveillance über das Sichere Netz der KBV geschickt wird.
So kommt es, dass die Praxen die Daten zur Impfsurveillance zukünftig gesplittet übermitteln: Das Datenpaket für das Impfdashboard kann täglich über die Praxissoftware und die extra dafür programmierte Schnittstelle geschickt werden oder über ein Impf-Dokumentationsportal, das die KBV ihren Mitgliedern zur Verfügung stellt. Andere Daten, die zur vollständigen Impfsurveillance gehören (unter anderem die Chargennummer des Impfstoffs), geht einmal im Quartal mit den Abrechnungsdaten der Praxen über die Zwischenstation KBV ans RKI.
Dieses Beispiel zeigt, was die Digitalisierung des Gesundheitswesens so schwer macht
Damit Arztpraxen an der Impfkampagne teilnehmen können, fehlte es an zwei Dingen: An einer Schnittstelle zur Übermittlung von Daten für die tägliche Impfstatistik und an einer Klausel in einer Verordnung, die diese Schnittstelle rechtlich absichert. Das technische Problem hätte sich auf unterschiedliche Arten recht schnell lösen lassen. Stattdessen wurde nun eine Lösung gefunden, die relativ umständlich ist und viel zu spät angegangen wurde.
Beide Probleme sind den Herstellern von Praxissoftware bereits im Dezember aufgefallen und sie haben versucht, dazu Informationen vom Bundesgesundheitsministerium, vom RKI und weiteren Stellen zu bekommen. Auch ich habe beim Bundesgesundheitsministerium danach gefragt – ohne Erfolg. Ob sich die KBV ebenso bemüht hat, die rechtlichen Fragen zu klären, weiß ich nicht. Sie hat auf meine schriftliche Anfrage zwar reagiert, aber diese konkrete Frage bis zum Redaktionsschluss nicht beantwortet.
Die lästige Detailfrage, wie denn nun die Meldedaten für Impfungen ans RKI kommen, steht für einen größeren Konflikt, der bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens schon länger für Verzögerungen sorgt. (Zur Erinnerung: Dieses Projekt läuft seit 2003.)
Der Bundesverband für Gesundheits-IT erklärte mir am Telefon, dass die KBV um ihre Zukunft besorgt ist. Würde das Gesundheitswesen vollständig durchdigitalisiert werden, wären also alle Praxen, Krankenhäuser, Gesundheitsämter, Apotheken, Pflegeeinrichtungen und so weiter miteinander vernetzt, könnte die KBV an Bedeutung verlieren.
Die Digitalisierung im Gesundheitswesen bedroht die Machtposition der Kassenärztlichen Vereinigung. In der Öffentlichkeit macht sie sich dafür stark, dass Arztpraxen so schnell wie möglich mitimpfen, aber was sie tut, passt nicht immer zu ihrer Botschaft. Die Abrechnung mit den Krankenkassen könnten die Arztpraxen in Zukunft auch ohne Zwischenstation abwickeln. Das alles ist noch Zukunftsmusik, aber je besser es der KBV jetzt gelingt, ihre Position im Gesundheitswesen zu festigen, desto weiter kann sie den Punkt des Bedeutungsverlusts in die Zukunft verschieben.
Dieses Beispiel macht eine große Konfliktlinie sichtbar. Digitalisierung, die uns in der Pandemie helfen könnte, stellt gewachsene Strukturen und Machtverhältnisse infrage. Der Zeitdruck, unter dem sie jetzt weiter vorangetrieben wird, könnte eine sinnvolle Weiterentwicklung der Digitalisierung nach der Pandemie sogar noch schwerer machen.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele ; Audioversion: Iris Hochberger.