Ich bin nach Deutschland gekommen, als ich 27 war. Mein Vater ist Kroate, meine Mutter Serbin. Wir sind vor dem Balkankrieg geflohen. Seit dieser Zeit habe ich eine Wahrheit ganz tief verinnerlicht: Leben ist heilig.
Im Frühjahr 2020 hatte ich den Eindruck, dass das viele Menschen ähnlich sehen. Wir alle wussten damals sehr wenig über das Coronavirus. Die Menschen hatten verstanden, dass man in solchen Zeiten lieber etwas zu vorsichtig ist. Die Leute haben freiwillig auf Kontakte verzichtet, obwohl das vielen verdammt schwer gefallen ist. Der Zusammenhalt war spürbar – das kam auch bei uns auf der Covid-Station an. Es hat uns geholfen, den Stress auszuhalten.
Die Pflege von Covid-Patient:innen ist sehr herausfordernd
Eigentlich bin ich Pflegeexpertin für Diabetes und arbeite auf einer Station für Magen-Darm-Krankheiten, die sogenannte Gastroenterologie. Aber jetzt arbeite ich auf einer sogenannten Covid-Normal-Station. Unsere Patient:innen haben typische Covid-Symptome: Atemnot, Lungenentzündungen und Bewegungsstörungen. Dazu gehören auch viele Symptome, die die meisten Menschen nicht bei Covid erwarten: Schlaganfälle, Verwirrtheit, Nierenversagen. Viele der Patient:innen kommen von der Intensivstation und haben mit vielen verschiedenen Organschäden gleichzeitig zu kämpfen. Covid-Patient:innen bekommen häufig auch weitere Infektionen, sogenannte Superinfektionen, zum Beispiel Lungenentzündungen, die durch Pilze ausgelöst werden. Die Pflege dieser Menschen ist sehr komplex, und man braucht ein breites medizinisches und pflegerisches Wissen dafür.
Veronika Malić ist Pflegefachfrau und Pflegeexpertin für Diabetes und arbeitet in einem Krankenhaus in Karlsruhe. Normalerweise betreut sie Patient:innen und berät Kolleg:innen zum Diabetes-Management. Außerdem macht sie ganz normale Stationsarbeit. Seit März 2020 ist sie auch auf der Covid-Station eingesetzt.
Viele der Patient:innen haben schlechte Prognosen, da geht es dann nicht mehr um Heilung, eher darum, schwere Symptome zu lindern, damit sie erträglicher werden. Die meisten können nur im Bett liegen. Die Zimmer dürfen sie nicht verlassen. Wir müssen jedes Mal die Schutzkleidung wechseln, wenn wir ein Zimmer betreten oder verlassen: FFP3-Maske, Augenschutz, Handschuhe, sterile Kittel. Das ist unglaublich aufwändig.
Meine erste Amtshandlung, wenn jemand mit Covid neu aufgenommen wird: Ich schmeiße die Zahnbürste weg. Das wirkt wie eine Kleinigkeit, aber dahinter steckt eine Menge Fachwissen: Unsere Patient:innen sind schwer krank und wir müssen dafür sorgen, dass sie das Krankenhaus auf zwei Beinen wieder verlassen. Da kann eine mit Coronaviren verseuchte Zahnbürste einen großen Unterschied machen. Deshalb putzen die Patient:innen bei uns ihre Zähne mit Wegwerf-Bürsten.
Wir sind auch sehr gründlich bei der Körperpflege und beim Wechseln der Wäsche. Mindestens einmal am Tag wird der Körper von oben bis unten gewaschen – aber nicht nur, damit sich die Menschen wohler fühlen. Damit verhindern wir weitere Infektionen, zum Beispiel solche, die durch Bakterien verursacht werden. Die Schmutzwäsche muss so vorsichtig wie möglich in Tüten verpackt werden, damit sich die Mitarbeiter:innen in der Wäscherei nicht daran anstecken können. Das braucht alles mehr Zeit.
Gute Pflege macht einen gewaltigen Unterschied
Unsere Station hat 50 Meter Flur und wenn der Wagen mit dem Essen kommt, haben wir nur 70 Minuten Zeit, 28 Patient:innen in 14 Zimmern eine Mahlzeit zu bringen, die noch warm sein soll. Schutzkleidung an, Essen holen, ins Zimmer gehen, beim Essen helfen, Tablett wieder mitnehmen, Schutzkleidung aus. Und das Ganze zig mal – jeden Morgen, Mittag und Abend, den Flur rauf und runter. Hinterher fühlt man sich wie nach einem Marathon. Aber das ist noch nicht das Ende der Schicht. Das ist nur ein ganz kleiner Teil.
An solche Dinge denkt kein Verwaltungsdirektor von allein, wenn er am Schreibtisch überlegt, wie eine Corona-Station aufgebaut sein muss. Einmal-Zahnbürsten sind doch Gedöns! Und kaum jemand denkt daran, mal diejenigen zu fragen, die sich darum kümmern, nämlich uns professionelle Pflegekräfte. Mich ärgert das. Ich weiß, wie wichtig sogenannte Kleinigkeiten sind.
Im März, als klar war, dass es zu wenig Schutzkleidung gibt, habe ich das Lager abgeschlossen und die Masken und Kittel zugeteilt. Das hat nicht allen Kolleg:innen gefallen. Am Ende haben sich aber viele, die zuerst geschimpft haben, bedankt, weil unsere Station eine der wenigen im Krankenhaus war, die keinen spürbaren Mangel hatte. Das konnte aber nur deshalb funktionieren, weil ich mich auch darum gekümmert habe, dass wir sparsam mit diesen Dingen umgehen. Die Privatpatientin mit Covid, die Anspruch auf ein Einzelzimmer hatte, konnte das dann eben nicht bekommen. Das habe ich gegen den Willen des Oberarztes durchgesetzt. So konnten wir die Schutzkleidung effektiver einsetzen.
Ich wusste schon als Fünfjährige, dass ich Krankenschwester werden möchte. In der Ausbildung habe ich in einem Militärkrankenhaus in Florida hospitiert. Aus den Vereinigten Staaten bin ich total groß zurückgekommen, voller Selbstbewusstsein. Die Pflege hat dort einen anderen Stellenwert. Dort fragt man eine neue Kollegin aus dem Ausland: „Wie macht ihr das in eurem Land?“ In Deutschland ist das anders. Da wird den Kolleg:innen aus dem Ausland vor allem erklärt, wie sie die Dinge hier zu machen haben.
Ich erzähle das, weil ich bis heute merke, wie sehr mich diese Erfahrung prägt. Ich habe keine Angst davor, für etwas verantwortlich zu sein. Ich kann erklären, warum ich Dinge so tue, wie ich sie tue. Und ich verteidige meine Abläufe gegenüber überzogenen oder falschen Erwartungen.
Früher, als ich noch auf der Gastro-Station gearbeitet habe, kamen manchmal 17 Patient:innen auf eine Pflegefachkraft. In keinem anderen europäischen Land gibt es einen so schlechten Personalschlüssel wie in Deutschland.
Das Virus hat unsere Arbeit verändert: Alles ist anstrengender geworden
Auf der Corona-Station betreut eine von uns im Höchstfall fünf Patient:innen. Das geht auch gar nicht anders. Aber das heißt auch: Das Personal fehlt an anderer Stelle. Seit der Pandemie ist der Aufwand auf jeder Station höher. Manchmal kommt ein Patient für eine Blinddarm-Operation und stellt sich dann als Corona-positiv heraus. Dann muss er natürlich isoliert werden.
Meine Arbeit hat sich durch das Virus total verändert. Früher, auf der Gastro-Station, waren wir ein eingeschworenes Team. Es war Routine. Auf der Covid-Normal-Station kommen Kolleg:innen aus vielen Bereichen zusammen. Jeder Handgriff muss neu gedacht werden. Für Selbstzweifel und Eitelkeiten ist hier keine Zeit.
Die kleinen Gespräche auf dem Flur sind weggefallen. In den Pausen sitzen wir nur noch selten zusammen – und wenn, dann in einem großen Raum mit viel Abstand. Wir fühlen uns nicht mehr so sicher. Im Frühling haben sich Kolleg:innen in der Pause gegenseitig angesteckt. Ich hatte auch Covid, im Dezember, zum Glück war es ein milder Verlauf. Das darf sich nicht wiederholen, jede:r wird gebraucht, niemand darf ausfallen. Deshalb sind wir alle sehr angespannt.
Vor allem sind wir sehr erschöpft. Weil wir das Ende nicht sehen.
Die Menschen sterben mit Covid anders. Es ist viel weniger vorhersehbar. Ich weiß bei Covid-Patient:innen nicht, wie schnell es geht, wann ich die Angehörigen anrufen soll, welche Medikamente das Leiden lindern. Außerdem sterben viele allein, oft auch ohne seelsorgerische Begleitung, weil es oft so plötzlich passiert. Das Sterben ist nicht nur häufiger, sondern auch trauriger geworden. Das belastet mich.
Seit dem Herbst ist die Situation für uns alle viel schwieriger geworden. Am Schultor bleiben andere Eltern nicht mehr stehen und halten ein Schwätzchen mit mir. Sie haben Angst, dass ich ihnen Corona bringe. Als ich selbst angesteckt war, kamen kaum Unterstützungsangebote. Da habe ich gemerkt, dass sich etwas verändert hat.
Meine Geschichten sind für die Menschen eine Zumutung. Sie glauben nicht mehr daran, dass wir gemeinsam besser durch diese Zeit kommen. Im Sommer ist in Vergessenheit geraten, dass das Leben heilig ist. Für mich ist das immer noch wahr, auch weil ich jetzt täglich mit dem Sterben konfrontiert bin. Aber für mein Umfeld wird es immer schwerer, das nachzufühlen. Alle haben schon genug unter Corona zu leiden. Das, was ich im Krankenhaus erlebe, ist ihnen zu viel: zu viel Leid, zu viel Hoffnungslosigkeit, zu viel Sterben.
Die Wenigsten möchten wissen, wie es uns im Krankenhaus geht. Das ist schon eine immense Enttäuschung für uns. Wir merken, dass wir nicht mehr richtig dazugehören.
Wenn wir von unserer Arbeit erzählen, kommt oft als Reaktion, dass wir uns das alles doch ausgesucht hätten, wir könnten ja auch etwas anderes tun. Doch so einfach ist das nicht: Niemand von uns ist ersetzbar. Was wir hier tun, kann nicht jede und jeder. Ich möchte immer noch nichts anderes machen als Pflege. Doch ganz so sicher wie vor Corona bin ich mir nicht mehr.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audio: Iris Hochberger.