Ich bin ein Überlebender. Denn ich habe mehrere suizidale Krisen überwunden, in denen der Wunsch, mein Leben zu beenden, sehr stark war. Nein, versucht habe ich es nicht – und auch nicht geplant. Jedoch kenne ich dieses Gefühl, den Schmerz des Lebens nicht mehr länger zu ertragen und nach einem Ausweg zu suchen. Ich habe einen Ausweg gefunden. Es ist das Leben. Und nicht der Suizid.
Dieses Thema begleitet mich seit meiner Kindheit; das erste Mal suizidal war ich im Alter von zwölf Jahren. Später habe ich den Begriff in verstaubten Psychologie-Büchern meiner Eltern nachgeschlagen. Als wir in der neunten Klasse im Deutschunterricht von Drogenabhängigkeit sprachen, schnippte ich mit dem Finger und fragte: Kann man davon auch suizidal werden? Unser Klassenlehrer bejahte leicht irritiert meine Frage und wechselte dann das Thema. Niemand sprach damals von Suizid. Oder Depressionen.
Die gehören in meinem familiären Umfeld dazu. Nicht depressiv zu sein, ist die Ausnahme in meiner Familie. 2018 suizidierte sich meine Cousine, mit der ich in meiner Kindheit jedes Jahr die Sommerferien verbrachte. Und es sticht heute noch, wenn ich diese Worte schreibe, denn sie fehlt mir.
Wir können es uns nicht leisten, nicht über Suizid zu sprechen
Du siehst: Ich komme um dieses Thema nicht herum. Für mich gehört es zum Leben, genauso selbstverständlich wie für andere Trennungen zu ihrem Liebesleben. Es tut weh, und trotzdem ist es unvermeidbar, sich damit auseinanderzusetzen. Doch auch für andere ist Suizid allgegenwärtig, auch, wenn du es gerade nicht siehst. Ein Beispiel? Ich habe drei.
Erstens: 2018 suizidierten sich 9.396 Menschen. Damit sterben in Deutschland mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Drogen, Mord und HIV zusammen.
Zweitens: Jeden Tag nehmen sich in Deutschland durchschnittlich mehr als 25 Menschen das Leben.
Drittens: Fachleute schätzen, dass alle fünf Minuten jemand versucht, sich das Leben zu nehmen.
Ja Shit, oder? Wir müssen also über das Thema sprechen. Und es ist zugegebenermaßen schwer, den Anfang zu machen, also das erste Wort zu sagen. Ich glaube, dass Medien den ersten Schritt machen müssen, denn sie haben unter anderem intellektuelle Macht. Damit meine ich, dass sie selbst Themen setzen können, über die ihre Leser:innenschaft nachdenkt und auch spricht.
Viele Medien scheuen davor zurück, über Suizid zu schreiben. Das hat gute Gründe, denn sie haben Angst vor dem sogenannten Werther-Effekt, auf den ich später eingehen werden. Und ganz ehrlich: Ich kann es verstehen, wenn Journalist:innen und ganze Redaktionen Befürchtungen haben, die sie vor einer Veröffentlichung zurückschrecken lassen.
Aber: Ich sehe das anders. Wir dürfen dieses Thema auf gar keinen Fall totschweigen und damit tabuisieren. Ganz im Gegenteil. Wir müssen darüber schreiben, sprechen, berichten. Vor allem geht es aber auch um das wie.
Die Gründe für Suizid sind nicht sofort erkennbar
Aber eins nach dem anderen. Warum nehmen sich Menschen eigentlich das Leben? Die naheliegende Vermutung ist, dass sie an herausfordernden Lebenssituationen wie Jobverlust, Trennung oder dem Tod eine:r Geliebten verzweifeln.
Nope.
„Die wichtige Botschaft lautet, dass Suizid in den meisten Fällen nicht Folge von schwierigen Lebensumständen sondern einer psychischen Erkrankung ist, die zu einer völlig verzerrten Realitätssicht führt – am häufigsten ist das die Depression.“
Das sagt nicht irgendjemand, sondern Ulrich Hegerl, Professor für Psychiatrie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Hegerl spricht hier einen wichtigen Punkt an, denn bis zu 90 Prozent der Menschen, die sich suizidieren, leiden an einer psychiatrischen Erkrankung: Suchtprobleme, Essstörungen, schizophrene und manisch-depressive Erkrankungen, auch Angststörungen. Doch den Großteil machen mit bis zu 50 Prozent Depressionen aus.
Wenn wir diesen Punkt wirklich ernst nehmen wollen, dann können wir nicht einfach weiterlesen. „Gut, abgehakt, verstanden.“ Diese Erkenntnis hat Konsequenzen, die wir auf den ersten Blick übersehen könnten. Psychische Erkrankungen haben in allererster Linie überhaupt gar nichts mit widrigen Lebensumständen zu tun, die dem Suizid vorausgehen.
Aber 95 Prozent der Bevölkerung glauben, laut Deutscher Depressionshilfe, dass die Ursachen für Depressionen Überforderungen, Schicksalsschläge, Partnerschaftskonflikte und körperliche Erkrankungen sind. 95 Prozent? Nun, das sind fast alle. Wir haben hier also Nachholbedarf.
Die Veranlagung spielt bei Depressionen eine entscheidende Rolle
Ulrich Hegerl sagte mir am Telefon, dass von den meisten Menschen Depression für eine schlimmere Stressreaktion gehalten wird. Depression sei aber eine ziemlich eigenständige Erkrankung. Wenn man die Veranlagung dafür hat, rutscht man immer wieder rein, auch, wenn es einem von außen betrachtet gut geht. Ohne diese Veranlagung werden Menschen nicht depressiv erkranken, auch wenn ihnen das Leben noch so bitter mitspielt.
Wow. Als mir Dr. Hegerl diese Worte am Telefon sagte, hatte ich ein echtes Aha-Erlebnis. Ich bin zwar Reporter für psychische Gesundheit und selbst Betroffener (ich habe chronische Depressionen), dachte also folglich, ich würde mich mit meiner Krankheit ganz gut auskennen. Aber wenn ich ehrlich bin, verstehe auch ich meine Krankheit zum Teil noch als etwas schlimmere Stressreaktion. Dass ich bei einer Veranlagung dafür aber gar nichts kann, das ist für mich sehr entlastend.
Doch Hegerl geht noch einen Schritt weiter:
„Depressionen sind Erkrankungen wie andere auch, sie verändern die Hirnfunktionen”, sagt Hegerl. Die Betroffenen empfinden dann keine Freude mehr, haben Probleme beim Schlafen und sind dauerhaft angespannt. Sie spüren keinen Appetit mehr und vieles gerät aus dem Gleichgewicht. Bei einer manisch-depressiven Erkrankung können sich diese Hirnfunktionen abrupt ändern und Menschen kippen über Nacht von einer Depression in eine Manie – und sind plötzlich übertrieben optimistisch und voller Energie.
Und daran erkennen wir, dass es bei psychischen Erkrankungen einen Krankheitsmechanismus gibt, der nicht irgendeine Reaktion auf schwierige Lebensumstände ist. Auch Hegerl habe viele Jahre gebraucht, um zu verstehen, wie eigenständig diese Erkrankung ist. Und Suizidalität sei eben ein Diagnosekriterium der Depression. Er führt aus: „Man kann Depressionen jedoch gut behandeln. Und wenn die Depressionen abklingen, dann klingen auch die suizidalen Impulse ab.“
Ha! Weil es so schön ist, gleich nochmal: Depressionen können gut behandelt werden – und wenn sie abklingen, dann klingen suizidale Impulse ab. Ich weiß ja nicht, wie es dir, liebe:r Leser:in geht, aber ich finde die letzten beiden Sätze sehr beruhigend. Es ist in diesem Text der erste Hoffnungsschimmer.
Wichtig ist, sich als betroffene Person in Behandlung zu begeben. Doch wer ist dafür eigentlich zuständig? Psychologen? Neurologen? Heilpraktiker oder gar der Coach?
Der Ansprechpartner sind hier Psychiater:innen, also Fachärzt:innen. Daneben gibt es die Psychotherapeut:innen. Die meisten Patient:innen werden jedoch von ihren Hausärzt:innen mit Antidepressiva behandelt – das sind also die drei Anlaufstellen in der akuten Krisensituation.
Die Medien müssen sich ihrer Verantwortung bewusst werden
Ellen von den Driesch ist Soziologin und findet, dass die „Forschung auf dem Gebiet der Suizidalität durchaus auch etwas sehr Positives mit sich bringt.“ Wie bitte? Ja, und zwar „weil es mir die Endlichkeit des Lebens vor Augen führt. Ab dem Zeitpunkt der Geburt ist für alle klar, dass das Leben auch ein Ende hat und wir entscheiden, was wir in der Zwischenzeit tun“ , sagte sie mir, als ich sie anrief.
Sie beschäftigt sich in ihrer Forschung mit der Entstehung von Suizidraten. Sie schrieb ihre Doktorarbeit über Suizidstatistiken in der DDR, die von Behörden seit den 1970er Jahren verschärft unter Verschluss gehalten wurden – und die sie wieder entdeckt hat. Anhand dieser Daten konnte sie eine Analyse über die Geschichte des Suizids in der DDR schreiben, die auch als Buch erscheinen wird.
Von den Driesch beschäftigte sich deshalb mit der DDR, weil es das Land in Europa war, das die höchsten Suizidraten hatte. Und das aus einem ganz bestimmten Grund: In Regionen, in denen Suizidprävention unterbunden wird, wie es unter anderem auch in der DDR der Fall war, nehmen sich mehr Menschen das Leben. Allerdings war das nicht der einzige Grund für die hohen Suizidraten des Landes. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts faszinierten die hohen Suizidraten im heutigen Thüringen und Sachsen die Suizidforscher. Und auch zum Zeitpunkt der Grenzziehung zwischen BRD und DDR lag die Zahl der Suizide in den Regionen der späteren DDR über den Raten der BRD.
Solange das Thema tabuisiert werde, seien auch die Suizidraten hoch, sagte von den Driesch mir. Das liege auf der Hand. Auch heute noch. „Gerade dieses Schweigen über bestimmte Themen ist ein fast ohrenbetäubendes Schweigen. Man spricht einfach nicht darüber. Es wird auch deshalb in den Medien kaum angesprochen, weil man vom Werther-Effekt ausgeht. Das heißt: Sobald man darüber spricht, steigen die Suizidraten.“
Der Werther-Effekt zeigt nur eine Seite der Medaille
Der Werther-Effekt bezieht sich auf Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“, in dem sich der Protagonist am Ende der Erzählung das Leben nimmt. Die Veröffentlichung im Jahr 1744 soll eine sogenannte Suizidwelle ausgelöst haben – über deren Existenz sich Fachleute bis heute streiten.
Die These dahinter: Sobald man in der Öffentlichkeit über Suizid spricht, provoziert das neue Suizide. Mittlerweile gut belegt ist tatsächlich, dass sensationsträchtige Darstellungen von Suizid in Medien zu sogenannten Imitationssuiziden führen. So stieg nach der reißerischen Berichterstattung über den Suizid des Schauspielers Robin Williams 2014 die Suizidrate in den USA um zehn Prozent an.
Soziologin von den Driesch hat allerdings ihre Zweifel an der Theorie. „Der Werther-Effekt ist eine umstrittene These, denn es gibt auch einen Papageno-Effekt. Hier geht man davon aus, dass es eine Schutzfunktion haben kann, wenn wir über Suizid in Verbindung mit Hinweisen auf Hilfsangebote sprechen.“
Papawhat? Der Papageno-Effekt ist das genaue Gegenteil des Werther-Effektes. Papageno ist ein Protagonist in Mozarts Oper „Die Zauberflöte“, der eine suizidale Krise überwinden kann und sich nicht das Leben nimmt. Man weiß heute, dass es einen Zusammenhang zwischen Berichten gibt, die sich auf die Bewältigung von suizidalen Krisen fokussieren, und einem Rückgang von Suizidraten.
Das bedeutet ganz konkret: Beim Schreiben über Suizid ist das wie entscheidend.
Hier möchte ich kurz eine Denkpause einlegen. Denn auch beim Schreiben dieses Textes musste ich immer wieder durchatmen, Pausen einlegen und zwischendurch eine Runde um den Block spazieren. Das Thema Suizid ist mir sehr wichtig; ich habe lange gewartet, bis ich darüber schreiben konnte.
Wenn Menschen so krank sind, dass sie dieses Leben nicht weiter ertragen – und ich darüber schreibe – dann macht das auch etwas mit mir. Ich bin fast immer innerlich bewegt, wenn ich darüber nachdenke. Mit diesem Text möchte ich dazu beitragen, dass Menschenleben, die auf der Kippe stehen, gerettet werden können. Darum geht es hier. Darum geht es mir.
So. Noch einmal durchatmen. Und jetzt zurück zur Soziologin. Sie sagte mir, wann es wirklich einen Werther-Effekt geben kann. Nämlich dann, wenn Medien eine hohe Identifikation mit einer Person schaffen, die Suizid begangen hat.
Detaillierte Szenen von Suizid können die Suizidraten in die Höhe treiben
„Es gab eine Fernsehserie in den 80er Jahren, die hieß ‚Tod eines Schülers‘, bei der in der ersten Szene ein Schüler gezeigt wurde, der einen Bahn-Suizid begangen hat. Die Suizidraten unter Jungen im gleichen Alter – die sich mit dieser Person identifiziert haben – ist im Hinblick auf Bahnsuizide angestiegen“, meint von den Driesch.
Das heißt: Medien sollen auf gar keinen Fall ein Einzelschicksal so stark beschreiben, dass sich Menschen mit dem Protagonisten identifizieren. Da haben wir ihn also wirklich, den Werther-Effekt. Und den können wir umdrehen, wenn über eine Person berichtet wird, die eine suizidale Krise gemeistert hat. In diesem Fall ist die Identifikation mit der Person also heilsam.
An dieser Stelle möchte ich kurz die Medien definieren. Ich meine damit nicht nur große Verlagshäuser, Magazine und Zeitschriften. Ich meine auch uns, wenn wir twittern, facebooken oder auf Insta Fotos teilen. Wir alle tragen eine Verantwortung dafür, wie wir über dieses sensible Thema schreiben.
Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe hat hierfür einen Medienguide (PDF) veröffentlicht. Darin finden sich Empfehlungen für die Berichterstattung über Suizid – eine Art Anleitung dafür, wie Journalist:innen Imitationssuizide verhindern können:
Die Nachahmungsgefahr steigt, wenn die Suizidmethode detailliert beschrieben, der Suizid als nachvollziehbare Reaktion oder als einziger Ausweg bezeichnet wird oder ein leicht zugänglicher Ort mystifiziert wird.
Die Nachahmungsgefahr sinkt, wenn der Suizid als Folge einer Erkrankung (wir erinnern uns, zum Beispiel die Depression) dargestellt wird, die erfolgreich hätte behandelt werden können. Weiter sollen Helplines und Hilfekontakte angegeben, Expertenmeinungen eingeholt und alternative Lösungen zur Bewältigung einer Krise aufgezeigt werden.
Diesen Guide sollten meiner Meinung nach alle Journalist:innen auswendig können. In jeder noch so kleinen Redaktion sollten die Empfehlungen an der Wand hängen. Denn ich erinnere mich an reißerische Berichte über den Suizid von Prominenten, die genau diese Kriterien erfüllen. Und ich finde die Form der Berichterstattung tatsächlich ekelhaft, weil sie aus dem tragischen Tod eines Menschen eine voyeristische Soap-Opera macht, die nichts anderes im Sinne hat, als Klick- oder Verkaufszahlen in die Höhe zu treiben.
Wie du, liebe:r Leser:in, vielleicht merkst, habe ich auch eine Portion Wut im Bauch. Denn wenn Medien und einzelne Personen auf Social Media ihre intellektuelle Macht richtig einsetzen, dann können Suizide vermieden und damit Menschenleben gerettet werden. Wer das weiß und trotzdem weitermacht wie bisher, handelt in meinen Augen grob fahrlässig und wird seinem Beruf nicht gerecht.
Weil ich es besser machen will, habe ich von den Driesch gefragt, was in einem Text über Suizid nicht fehlen darf. Sie sagt:
„Es muss deutlich werden, dass es Hilfsangebote gibt und Suizid nicht die einzige Lösung ist. Dass es erschreckend ist, wie viele Menschen sich suizidieren. Es muss klar werden, dass Suizid keine natürliche Todesursache ist. Wenn ich eine Herz-Kreislauf-Erkrankung habe und daran sterbe, habe ich keinen großen Einfluss darauf. Aber man hat einen Einfluss darauf, ob Suizid begangen wird oder nicht – und man kann es vermeiden.“
In akuten Momenten können wir Betroffene unterstützen
Puh. Viel Theorie, oder? Werden wir mal praktisch: Wie gehe ich vor, wenn ich bei einer Freundin den Verdacht habe, sie könnte suizidal sein? Sollte ich das ansprechen? Psychiater Hegerl sagt: „In jedem Fall. Einfach von den eigenen Gefühlen ausgehen. Ich mache mir Sorgen um dich. Ich schaue da nicht zu und jetzt holen wir Hilfe.“
In solchen Momenten – das kenne ich von meinen allerersten Episoden – ist zügige professionelle Hilfe am allerwichtigsten. Depressive sind oft hoffnungslos, erschöpft und haben Schuldgefühle. Dann kann es lebensrettend sein, wenn eine Freundin das Telefon in die Hand nimmt. Weil das so wichtig ist, nenne ich unter diesem Text noch einmal die drei Anlaufstellen für den Notfall.
Ein großes Problem sieht Soziologin von den Driesch bei der Gruppe der Älteren und Alten. In dieser Altersgruppe sei die Suizidrate am höchsten. Und sie hat Recht. Ab 80 Jahren steigt diese bis um das Fünffache.
Sie ist überrascht darüber, dass es keine Kampagnen dafür gibt, die auf eine verstärkte Fürsorge für alte Menschen hinweisen. Darauf, wie wichtig es ist, die Großeltern öfter zu besuchen oder mal anzurufen, spontan vorbeizufahren, falls möglich. Gerade weil die Älteren oft mit ihrem Leben allein fertig werden müssen und sich einsam fühlen. „Ich bin einfach geschockt davon, dass wir hinnehmen, dass so viele sterben.“
Frauen nehmen Hilfsangebote öfter an als Männer
Wie können wir das verhindern? Es ist unwahrscheinlich, dass ältere Menschen mit jemandem chatten oder telefonieren wollen, wenn sie über Suizid nachdenken. Lasst uns also daran denken: Es ist wichtig, die Alten und Älteren nicht zu vergessen. In Corona-Zeiten sind unsere Möglichkeiten eingeschränkt, wir können uns aber trotzdem melden. Das geht immer.
Von den Driesch sagt, dass vor allem Frauen Hilfsangebote in Anspruch nehmen. Sie klären Probleme auch eher mit ihren engeren sozialen Netzwerken als Männer. Bei ihnen sind diese Netzwerke zwar oft deutlich größer, aber zum Teil auch viel zerbrechlicher.
Deswegen habe ich eine Bitte, und zwar an alle Freundinnen und Freunde von Männern, bei denen ihr bemerkt oder vermutet, dass es ihnen schon länger nicht gutgeht, die das aber nicht ausdrücken können. Fragt einfach nach, schreibt eine Nachricht : „Wie geht es dir eigentlich?“ Denn wenn es Angebote gibt, egal welche, dann sinken, laut der Soziologin, auch die Suizidraten.
Für mich ist Soforthilfe wichtig, wenn es mir zusehends schlechter geht. Bei mir kommt eine Depression relativ schnell (innerhalb von Stunden). Oft lassen Suizidgedanken dann nicht lange auf sich warten. Wenn ich das spüren kann, rufe ich meinen besten Freund an, packe währenddessen meinen Rucksack und laufe in die Klinik. Wenn ich angekommen bin, sage ich meinem Freund: „Ich bin jetzt da.“ Ich gehe zur Rettungsstelle und sage diesen einen Satz: „Ich habe eine depressive Episode mit suizidalen Gedanken und ich bleibe heute hier.“
Allerdings wohnt nicht jeder wie ich in Berlin. Auf dem Land sind Kliniken oft viel weiter weg und deshalb macht es Sinn, auch im Jahr 2021 die Telefonseelsorge anzurufen, wenn man suizidale Gedanken hat, erklärt mir von den Driesch.
Es ist Zeit für eine Veränderung
Von den Driesch hat eine klare Forderung an die Politik:
„Jedes Jahr nehmen sich Menschen das Leben, letztes Jahr waren es ‚nur‘ 9.000, aber das ist eine enorme Zahl, die einfach nicht thematisiert wird. Es muss Geld in die Hand genommen werden für Präventionskampagnen. Und auch für den Ausbau von schnell erreichbaren und niedrigschwelligen Hilfsangeboten, beispielsweise der Psychotherapie. Es ist erschreckend zu sehen, wie wenig Geld aus dem Bundeshaushalt dafür ausgegeben wird. Das steht in keinem Verhältnis zu der Anzahl der Suizidtoten.“
Für mich steht jetzt erst recht fest, was ich tun muss. Ich werde mich weiter mit dem Thema Suizid beschäftigen und darüber schreiben. Weil ich selbst Überlebender bin, sehe ich darin auch eine Verantwortung denen gegenüber, deren Leben gerettet werden kann. Auf gut deutsch: Ich werde nicht die Klappe halten, sondern das Thema hier bei Krautreporter immer wieder auf den Tisch bringen. Ich werde als Reporter für psychische Gesundheit über Depressionen schreiben und nicht hinnehmen, dass jedes Jahr Tausende Menschen sterben.
Und obwohl mir Depressionen oft das Leben schwer machen, bin ich extrem froh darüber, dass ich meine suizidalen Krisen überstanden habe. Ich hätte so viel verpasst, wäre es anders gekommen!
Heute kann ich lachen, lieben, musizieren, vermissen, genießen, mich versöhnen, trauern, fotografieren und schreiben. Ganz viel schreiben. Zum Beispiel über Suizidprävention.
Let’s do this.
Anlaufstellen für den Notfall:
Psychiater:innen, Psychotherapeut:innen und Hausärzt:innen. Im Zweifel empfehle ich, den Notdienst (in Deutschland die 112) anzurufen.
Wenn man selbst betroffen ist, gibt es die Telefonseelsorge unter den Nummer 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222. Der Anruf ist kostenlos und erscheint nicht auf der Telefonrechnung. Für Kinder und Jugendliche gibt es es die Youth-Life-Line und Montag bis Samstag von 14 bis 20 Uhr die Nummer gegen Kummer: 0800 1110333 und die 116111.
Soziologin von den Driesch ergänzt: „Man kann Hilfe von Freunden und Familie annehmen, von Professionellen oder der Telefonseelsorge. Da kommt es auf die Einzelperson und deren Präferenzen an.“
Hinweis: In der früheren Version dieses Textes waren für Notfälle nach den Psychiater:innen die „psychologischen Psychotherapeut:innen” genannt. Das ist nicht korrekt, denn das schließt alle anderen praktizierenden Psychotherapeut:innen aus. Richtig ist schlicht „Psychotherapeut:innen“.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert