Eine Frau spähte durch eine Milchglasscheibe

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Psyche und Gesundheit

Interview: „Wir provozieren Depressionen selbst“

Die Psychologin Pia Callesen sagt, dass Depressive für ihre Krankheit mitverantwortlich sind. Das konnte ich so nicht stehen lassen, denn ich bin selbst chronisch depressiv.

Profilbild von Interview von Martin Gommel

Pia Callesen hat mit ihrem Buch „Lebe mehr, grüble weniger“ eine Diskussion über die Wirksamkeit zeitgenössischer und anerkannter Verfahren der Psychotherapie angestoßen. Sie arbeitet als Therapeutin in Dänemark und bedient sich dort ausschließlich einer Methode: der Metakognitiven Therapie.

Davon hatte ich noch nie gehört. Ich bestellte mir Callesens Buch – und verschlang es in zwei Tagen. Was ich durch die Lektüre verstand: Callesens Methode basiert auf der Erkenntnis, dass Depressionen nicht von traumatischen Ereignissen hervorgerufen werden, sondern von unserer Art, wie wir mit Gedanken umgehen. Callesen verspricht in ihrem Buch, Betroffene innerhalb von acht bis zwölf Sitzungen heilen zu können. Für mich, der sich seit Jahren von einer Therapiesitzung in die nächste schleppt, eine ungeheuerliche Behauptung. Ich hatte Tausend Fragen. Also rief ich Callesen an.


Sie schreiben in Ihrem Buch einen Satz, der mich geärgert hat: „Wir werden nicht von einer Depression überfallen. Sie kommt nicht von außen. Wir provozieren sie selbst.“ Wollen sie mir tatsächlich sagen, dass ich die Depressionen, die ich schon mein ganzes Leben lang habe, selbst verursache?

Ja und nein. Denn Sie haben es nicht absichtlich getan. Das macht niemand. Aber die gute Nachricht ist, dass Sie kein Opfer sein müssen, denn Sie können Ihre Aufmerksamkeit lenken, damit sich ihre innere Welt selbst regulieren kann. Und das ist neu: Sie müssen nicht warten, bis es vorbeigeht. Sie können tatsächlich selbst etwas tun. Wir kennen mit der metakognitiven Therapie dafür einige Methoden und haben Erkenntnisse dazu.

Welche Erkenntnisse haben Sie denn?

Depressionen werden vom Grübeln und von der permanenten Schau nach innen aufrechterhalten.

Verstehe ich nicht.

Grübeln ist anhaltendes, langwieriges Denken. Menschen, die depressiv sind, verweilen bei ihrer Stimmung: „Warum fühle ich mich so, warum bin ich nicht glücklich?“ Man bleibt bei einem Thema hängen und versucht so, seine Depression zu lösen – und genau das hält sie aufrecht. Und dann kann alles mögliche Grübeln auslösen. Sagen wir, ihr Freund oder ihre Freundin trennt sich von Ihnen und Sie beginnen zu grübeln: „Warum hat er oder sie das getan? Oh Gott, es ist meine Schuld!“ Und dann hängen sie in den Gedanken und versuchen, das Problem in einer Schleife nach der nächsten zu lösen. Das Problem ist: Genau dieser Prozess sorgt dafür, dass die unguten Gefühle bleiben.

Das kenne ich von mir. Kleine Gedanken, Ängste oder Sorgen, werden dann relativ schnell sehr groß. Wie viel grübeln depressive Menschen?

Zehn Stunden am Tag, mindestens. Je depressiver man ist, desto länger grübelt man – und desto intensiver fokussiert man sich nach innen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Menge an Zeit, die man mit Grübeln verbringt und der, wie niedergeschlagen man sich fühlt. Je öfter Menschen sich mit bestimmten Gedanken beschäftigen oder dagegen kämpfen, desto schlechter fühlen sie sich. Der Entwickler der Metakognitiven Therapie, Adrian Wells, hat das gut erforscht – und 1994 mit Studien in seinem Buch „Attention and Emotion“ dokumentiert, dass Grübeln die Hauptursache für Depressionen ist.

Sie sagen also, dass ich weniger nachdenken soll, damit meine Depression weggeht?

Es ist eher der ständige Fokus nach innen. Menschen, die jahrelang schwer depressiv sind, konzentrieren sich vollständig auf ihr Innenleben. Das Grübeln ist dafür nur der Ausgangspunkt. Dieser Fokus nach innen – im Deutschen „Innenschau“ genannt – bedeutet, dass man sich nicht mit anderen Menschen verbunden fühlt und nicht präsent im Moment ist. Man richtet dabei die Aufmerksamkeit nur auf die körperlichen Empfindungen, auf Gefühle, Gedanken und den eigenen Geisteszustand. Darum geht es.

Ich gebe zu, dass ich in depressiven Episoden sehr stark nach innen gerichtet bin. Auf schmerzhafte Gedanken, Erinnerungen und Zukunftsängste, die auf einmal sehr groß werden. Es fällt mir dann schwer, mich davon zu lösen.

Was wir in der Forschung jetzt wissen, ist, dass seelische Wunden wie körperliche Wunden sind. Und sie heilen auch auf vergleichbare Weise: Wenn wir sie an die Luft lassen, aber sie nicht kratzen, dann können auch die seelischen Wunden heilen und sich selbst regulieren.

Wie kann ich denn seelische Wunden an die Luft lassen?

Das Grübeln ist wie das Kratzen – indem Sie kratzen, kratzen, kratzen, wird die Wunde niemals gesund. Sie müssen Ihre geistigen Wunden in Ruhe lassen, durch Nichtstun bekommen sie Luft und dann heilen sie. Und das ist eine gute Nachricht.

Es fällt mir schwer, Ihnen das zu glauben. Meine Kindheit ist voll mit schwerwiegenden Erfahrungen. Ich wurde in der Schule jahrelang verprügelt und gemobbt. Eines Tages überfiel mich ein Mitschüler auf dem Nachhauseweg und hätte mich beinahe umgebracht. Das sind keine Lappalien, Frau Callesen. Also nochmal, wenn ich einfach nicht über mein Kindheitstrauma nachdenke, dann …

… ja, dann heilt es. Wir kennen das von der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Von drei Menschen, die vergewaltigt wurden, entwickelt nur eine eine Posttraumatische Belastungsstörung. Zwei bekommen sie nicht, ohne Therapie. Es ist also kein Naturgesetz, dass man aufgrund eines Traumas eine PTBS entwickeln muss. Natürlich ist das Trauma immer noch schmerzhaft, aber wenn man den Schmerz in Ruhe lässt, reguliert er sich von selbst.

Für mich sind das ziemlich harte Ansagen. Ich gehöre nunmal zu den Menschen, die aufgrund ihrer Kindheit bis heute immer wieder in schwere depressive Episoden rutschen. Einfach „den Schmerz in Ruhe lassen“? Schön wärs, denke ich da. Außerdem kenne ich viele Mitbetroffene, die über ihre schmerzhaften Kindheitserfahrungen weder nachdenken, noch sprechen wollen – und sie leiden trotzdem darunter.

Verdrängen ist genauso schlimm wie Grübeln. Man muss die Gedanken in Ruhe lassen, aber sie müssen auch da sein dürfen. Folgendes Beispiel: Sie wurden in Ihrer Kindheit von jemandem mit roten Haaren vergewaltigt. Wenn Sie heute eine Person mit roten Haaren sehen und einen Flashback aus Ihrer Kindheit haben, dann ist es das Beste, den Flashback in Ruhe zu lassen. Es geht aber nicht darum, ihn wegzudrängen. Es ist okay, den Flashback im Kopf zu haben, aber Sie müssen damit nichts anstellen, Sie können die Wunde selbst heilen lassen. Also: kein Verdrängen, kein Verweilen, also Grübeln.

Okay, ich lasse den Schmerz und den Flashback zu, lasse ihn zu Ende gehen. Was tue ich dann?

Nichts. Jedes Mal, wenn Sie eine rothaarige Person sehen, werden sie weiter heilen. Wenn Sie das zehnte Mal jemanden mit roten Haaren sehen, haben Sie keinen Flashback mehr.

So wie ich mich kenne, würde mich jede rothaarige Person eher zurückwerfen und ich müsste mich erst einmal sammeln. Ich kann mir schwer vorstellen, dass die Konfrontation mich auf diese Weise „heilen“ kann. Und wenn ich Ihre These zu Ende denke, dann bedeutet das, dass alle Therapien, die ich in den letzten zehn Jahren gemacht habe, falsch waren.

Nun, das ist ein neuer Triggergedanke.

Aha.

Triggergedanken haben ihren Ursprung in unserer Vergangenheit. Und sie repräsentieren einen Wert. Wenn wir also große Angst um unsere Gesundheit haben und es uns wichtig ist, dass wir stets wohlauf sind und keinen Krebs bekommen, dann ist ein Triggergedanke: ‚Oh nein, habe ich einen Tumor in meinem Kopf? Bekomme ich jetzt Krebs?‘

Triggergedanken reflektieren in der Gegenwart etwas, was sie in ihrer Vergangenheit erlebt haben. Wenn Sie beispielsweise schlechte Erfahrungen mit Frauen gemacht haben und sich für ein neues Date verabreden, dann könnten Triggergedanken so klingen: ‚Sie ist bestimmt genau wie die anderen Frauen.‘

Aber man kann die Vergangenheit nicht ändern, indem man über sie grübelt. Mein bester Rat ist, Triggergedanken einfach in Ruhe zu lassen. Es wird Ihre Stimmung senken, wenn Sie sich mit der Vergangenheit beschäftigen.

Mir geht es an dieser Stelle nicht um Triggergedanken, sondern um Ihre Perspektive und Bewertung diverser Therapiemethoden und -standards. In der kognitiven Verhaltenstherapie werden Überzeugungen und sogenannte Glaubenssätze – mit denen Betroffene die Welt wahrnehmen und nach denen sie sich verhalten – überprüft und mit neuen Überzeugungen ersetzt. Dieser Ansatz ist sehr verbreitet. Auch ich bin damit therapiert worden. Sie sagen jetzt, dass ich und andere Betroffene dank dieser Therapie länger depressiv bleiben, als wir müssten.

Natürlich. Immer mehr Menschen leiden unter Depressionen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO sagt, dass die Depression die führende Krankheit der gesamten Menschheit ist. Also sind unsere derzeitigen Lösungen nicht wirklich effektiv – und wir müssen über Alternativen nachdenken. Wenn man seine Geschichte kennen will, dann kann man natürlich seine Kindheit analysieren. Aber das ist nicht der Weg, um aus einer Depression herauszukommen. Wir wissen jetzt aus vielen Studien, dass diese nach innen gerichtete Aufmerksamkeit Depressionen aufrechterhält.

Nochmal konkret, was soll ich stattdessen tun?

Sie müssen sich Ihrer auslösenden Gedanken bewusst sein. Bei welchen Triggergedanken verweilen Sie normalerweise? Bei Selbstmordgedanken, negativen Selbstwertgedanken, wie „ich bin nicht gut genug“? Sie sollten sich darüber bewusst sein, dass sie grübeln.

Gut. Kann ich. Und dann?

… können wir versuchen, Sie genau dem auszusetzen, was Sie eigentlich vermeiden wollen. Wenn Sie beispielsweise den ganzen Tag müde im Bett liegen, weil Sie vermeiden wollen, mit Kolleg:innen zu reden, aus Angst, dass diese Sie nicht mögen – dann suchen Sie genau diese Situation auf, setzen sich den Triggergedanken aus und üben, diese in Ruhe zu lassen.

Moment. Wenn ich depressiv bin, kann ich nicht einfach aufstehen und zur Arbeit gehen. An manchen Tagen schaffe ich es nicht einmal zu duschen. Das ist doch ein Symptom meiner Krankheit.

Man muss auch nicht damit beginnen, dass man aufsteht. Wenn Sie schwer depressiv sind, dann machen sie im Bett unser Aufmerksamkeitstraining: Über einen Lautsprecher oder Kopfhörer lassen Sie drei Mal täglich verschiedene Geräusche abspielen, beispielsweise Vögel, Straßenverkehr und so weiter. Darauf fokussieren Sie ihre Aufmerksamkeit. Sie verschieben in diesen Momenten den Fokus von innen nach außen. Das ist der erste Schritt. Wenn Sie das zwei oder drei Wochen üben, wird sich ihre Stimmung anheben. Und dann können Sie aufstehen und sich beispielsweise das erfolgreiche Leben ihrer Freunde auf Facebook ansehen – aber die Triggergedanken, die dabei auftauchen, in Ruhe lassen.

Soll ich mir in einer schweren Depression drei Wochen lang Vogelgeräusche anhören, damit es mir besser geht?

Sie können es immerhin probieren. Übrigens können Sie die Therapie auch online machen. Wir bieten das an.

Ich habe nachgesehen. Die Online-Therapie kostet pro Sitzung knapp 150 Euro – das kann ich mir beim besten Willen nicht leisten.

Derzeit gibt es keine kostenlose Metakognitive Therapie. Nirgends. Was tun Sie also, wenn Sie diese Therapie wollen und überhaupt kein Geld haben? Nun, die beste Lösung ist es, mein Buch zu lesen und zu versuchen, die Übungen, die ich darin vorstelle, so gut wie möglich umzusetzen. Da ist besser als nichts, denke ich.

Es fällt mir schwer, an die Wunder zu glauben, von denen Sie sprechen.

Es ist wichtig zu verstehen, dass es nicht um Wunder geht. Sie werden auch mit dem Metakognitiven Therapie-Ansatz immer noch traurige Gefühle erleben. Das ist keine Methode, dank der Sie die ganze Zeit in einer gehobenen Stimmung sind oder permanent glücklich. Aber der Unterschied ist, dass sie eine negative Stimmung nicht aufrechterhalten. Wenn Sie also einen Menschen sehr mögen und der Ihnen sagt: „Ich mag Dich nicht“, dann kommt Ihnen vielleicht der Gedanke: „Ich bin nicht gut genug.“ Aber wenn Sie sich nicht weiter damit beschäftigen, dann ist der Gedanke am nächsten Tag weg.

Tatsächlich? Wenn ich in einer Depression bin, dann habe ich jedoch nicht nur einen, sondern 10, 15, 20 Triggergedanken, die immer wieder kommen. Und jeder einzelne tut weh.

Das ist wie ein laufendes Band im Sushi-Restaurant, bei dem unterschiedliche Sushi-Gerichte an ihnen vorbeiziehen. Das Entscheidende ist, dass Sie keinen Gedanken „herausnehmen“ und bei ihm bleiben. Und dann ist es egal, ob es nur einer ist oder fünfzig verschiedene. Die Lösung ist dieselbe: Man lässt den Gedanken in Ruhe, lässt ihn vorbeiziehen.

Ich bin doch kein Bahnhof!

Um das Prinzip zu verdeutlichen, mache ich mit meinen Patient:innen eine Übung. Dabei bewerfe ich sie mit Papierkügelchen, die den Tsunami der Gedanken symbolisieren.

In der ersten Runde müssen die Patient:innen sich mit Händen und Füßen gegen die Kügelchen wehren, um nicht getroffen zu werden. Und ich frage sie: ‚Wie fühlt sich das an?‘ Die Patient:innen sagen dann meistens: Das Kämpfen gegen die Kügelchen ist anstrengend. In der nächsten Runde bombardiere ich sie erneut. Jedoch ist die Aufgabe jetzt, dass die Patient:innen so wenig Energie wie möglich aufwenden – also nur beobachten, dass Sie von diesem Bombardement getroffen werden.

Natürlich spüren sie die Kügelchen, aber unternehmen so wenig wie möglich dagegen. Und dann können die Patient:innen einen Unterschied spüren, es fühlt sich anders an, wenn man keinen Widerstand leistet. Danach frage ich: Was ist die beste Strategie, wenn Sie einen sehr schlechten Tag mit Tausenden von Triggergedanken haben? Natürlich ist die Schlussfolgerung, dass es besser ist, diese Tausenden von Triggergedanken nicht zu bekämpfen. Das ist eine Metapher dafür, dass Sie die Wahl haben. Sie brauchen einen Triggergedanken nicht zu bekämpfen, und auch nicht Tausende.

Sie vergleichen Triggergedanken mit Papierkügelchen? Was Sie von ihren Patient:innen verlangen hört sich unmöglich an, wenn es nicht um Papier geht, sondern um schmerzende Gedanken.


Wir sehen die Autorin, die in die Kamera lächelt. Sie hat ein freundliches, offenes Gesicht, blonde Haare und blaue Augen.

© privat

Pia Callesen, geboren 1977, ist Psychologin und Psychotherapeutin und promovierte 2016 in Manchester bei Adrian Wells, dem Entwickler der Metakognitiven Therapie zu deren Auswirkungen bei Depressionen. Callesen leitet das Center für Metakognitive Therapie in Kopenhagen, Århus, Næstved und Hellerup in Dänemark – und veröffentlichte 2020 ihr Buch „Lebe mehr, grüble weniger – Mit klarem Kopf Niedergeschlagenheit und Depression loswerden“.


Viele glauben, dass das sehr schwierig ist.

Verständlich.

In der Therapie trainieren wir mit den Patient:innen so, dass wir die Konfrontation mit spezifischen Situationen, die Triggergedanken auslösen, langsam steigern. Mit der Zeit wird man immer besser darin, mit dem Bombardement umzugehen. Das Ziel in der Metakognitiven Therapie ist es, darin Meister:in zu werden. Dann schaffen Sie es auch an einem schlechten Tag. Wenn Sie Krebs bekommen, Ihre Freundin Sie verlässt und Sie ihren Job verlieren, dann werden Sie immer noch traurig sein. Aber Sie werden nicht in krankhaftes Grübeln geraten.

Gut, sagen wir, dass ich eine Metakognitive Therapie bei einem Therapeuten beginne und dann im Verlauf der Zeit statt zehn Mal nur noch drei Mal am Tag an Suizid denke. Auch dann besteht doch noch die Gefahr, dass ich das in die Tat umsetze.

Nicht unbedingt. Es braucht mehr als einen auslösenden Gedanken, bis sich jemand das Leben nimmt. Man muss das planen. Selbstmordgedanken die hat jeder mal, auch wenn man nicht depressiv ist. Depressive haben sie nur häufiger. Um sich jedoch zu suizidieren, braucht es mehr als einen Gedanken, denn dafür muss man viel darüber nachdenken und sich überlegen, wie man es macht, wann, wie und so weiter. Wenn man die suizidalen auslösenden Gedanken einfach in Ruhe lässt, wird es nicht zur Tat kommen.

Ich hoffe sehr, dass Sie recht haben. Wir wissen aus einer Studie mit 2,5 Millionen Teilnehmer:innen, dass die Suizidrate unter queeren Jugendlichen vier- bis sechsmal so hoch ist wie bei gleichaltrigen Heterosexuellen. Die Gründe dafür sind vielfältig – und Mobbing, wie ich es erlebt habe, gehört dazu. Ich finde, hierfür sollte unsere Gesellschaft Mitverantwortung tragen.

Wurden alle von den 2,5 Millionen Teilnehmer:innen depressiv? Natürlich hat unser Umfeld immer Auswirkungen auf uns. In einem schädlichen Arbeitsumfeld werden wir immer psychisch kranke Menschen haben. Das Interessante ist doch: Nicht alle werden krank! Auch in Dänemark werden einige Menschen, die homosexuell sind, missbraucht – körperlich und seelisch. Natürlich werden diese ängstlich und depressiv. Aber nicht alle. Nicht 100 Prozent. Manchen Menschen gelingt es, selbst in diesem Umfeld nicht depressiv zu werden. Die Frage ist doch, wie sie das machen.

Sie sprechen wieder vom Individuum. Hat nicht auch die Gesellschaft einen Auftrag?

Natürlich. Absolut. Ich sage auch nicht, dass es nur am Individuum liegt und gar nicht an der Gesellschaft. Es ist beides. Natürlich muss die Gesellschaft sich verändern.

Das klingt trotzdem ein bisschen so, als dass in erster Linie die Betroffenen selbst an sich arbeiten müssen – und die Gesellschaft außen vor ist.

Ich sage ja nicht: Mache Dir keine Sorgen und lebe ein beschissenes Leben. Mich besuchen regelmäßig Kinder und Jugendliche zur Therapie. Manche haben keine Freunde, werden gemobbt und sind einsam. Natürlich zeigen wir den Kindern nicht nur die Metakognitive Strategie, die ist nur der Anfang. Wir beginnen damit, die Grübelzeit von zehn Stunden zu reduzieren auf beispielsweise 17 bis 17.30 Uhr. Und dann machen wir einen Plan. Sollte die Schule gewechselt werden? Wie kann das Kind Freunde bekommen? Und oft muss die Schule gewechselt werden. Es ist also beides. Denn wenn das Kind zehn Stunden grübelt, dann hat es nicht nur Probleme mit der Einsamkeit, sondern wird obendrauf noch depressiv. Diese Kids müssen lernen, Probleme zu lösen, ohne psychisch krank zu werden.

Heute nehmen immer mehr Kliniken auch das Umfeld einer Erkrankten mit ins Boot. Denn das spielt bei der Genesung eine nicht geringe Rolle.

Wenn man Depressionen als ein kollektives Problem sieht, für das sich die Gesellschaft ändern muss, dann wird man ein Opfer seines sozialen Umfeldes. Man muss also warten, bis man einen netten Chef und eine nette Frau hat, bis alles perfekt ist. Ich meine aber, dass man das gar nicht braucht, sondern, dass man als Individuum seine Depression tatsächlich selbst kontrollieren kann.

Ich habe Patienten, die mir ähnliches berichten: „Ich habe gehört, dass mich mein direktes Umfeld, meine Familie in die Depression gebracht hat.“ Darauf stelle ich folgende Frage: „Stellen Sie sich das perfekte Leben vor. Sie haben den perfekten Job, die tollste Frau und alles, was Sie sich wünschen. Kann es sein, dass Sie dann immer noch grübeln?“ Die meisten antworten dann: „Ja, auf jeden Fall.“ Man kann Depressionen also nicht mit einer sogenannten Rahmenoptimierung heilen.

Rahmenwas?

Die Veränderung der äußeren Umstände. Wenn man einen neuen Job hat und nicht zufrieden ist, beispielsweise. Ich merke aber, dass viele Leute nicht die Kraft haben, „nein“ zu ihrem Chef zu sagen.

… und sich abzugrenzen. Kenne ich von mir.

Andere schaffen es nicht, sich von ihrem gewalttätigen Freund zu trennen. Wenn sie aber aufhören, darüber zu grübeln, haben sie mehr Energie, tatsächlich etwas zu verändern und ihr Leben zu verbessern. Und genau das ist der Punkt: Wer weniger grübelt, hat mehr Kraft, sein Leben zu verändern.

Sie gehen in ihrem Buch sogar so weit, von Heilung zu sprechen. Wie definieren sie das?

Es geht nicht nur darum, dass sich die Patienten besser fühlen, sondern darum, aus der Diagnose herauszukommen. Die Patienten erfüllen alle Kriterien für eine Depressionsdiagnose. Wir haben eine Studie mit 147 Menschen gemacht – und 80 Prozent waren schwer bis sehr schwer depressiv. 20 Prozent hatten leichte Depressionen.

Nachdem die Teilnehmer:innen eine Metakognitive Therapie absolviert haben, sieht man einen sogenannten „Cut Off“: Die Patienten erfüllen die Diagnose nicht mehr. Insgesamt 74 Prozent. Und das hält mindestens ein halbes Jahr. Für die Studie haben wir sowohl nach einem halben, als auch nach einem ganzen Jahr ein Follow-up gemacht, also die Nachhaltigkeit der Therapie bei den Patienten überprüft. Und festgestellt: Es funktioniert. Wir erreichen also nicht nur vorübergehende Erfolge, diese Menschen kommen tatsächlich aus ihrer Depression heraus.

Wenn ich depressiv und in der Klinik bin, dann helfen mir vor allem Gespräche. Mit der Psychologin, den Pfleger:innen und ganz besonders mit meinen Freund:innen. Danach geht es mir jedes Mal ein bisschen besser – und so habe ich viele schwere Episoden überstanden. Ich spreche also mit anderen Menschen über meine schmerzenden Gedanken, weil ich sie nicht einfach weiterziehen lassen kann.

Das ist ein zweischneidiges Schwert. Wenn wir mit anderen Menschen sprechen, entsteht eine Verbindung – und das Aussprechen der Gedanken und Gefühle hat auch eine heilsame Wirkung. Das fühlt sich gut an und unsere Stimmung wird kurzfristig angehoben.

Exakt. Mir hilft das enorm.

Aber: Miteinander Probleme besprechen wird in der Psychologie auch „Co-Rumination“ (gemeinsames Grübeln) genannt und darüber wurde viel geforscht, weil das tatsächlich mit der Aufrechterhaltung von Depressionen verbunden ist. Das ist in anderen Bereichen ähnlich. Bei Angstzuständen kann beispielsweise Meditation oder das Atmen in bestimmten Zeitabständen (auch Box Breathing genannt) helfen. Das Problem ist, dass diese Strategien tatsächlich kurzfristig helfen, aber die Angst auf lange Sicht aufrechterhalten. Vielleicht kennen Sie die Redewendung: „sich in die Hose pinkeln, um sich warm zu halten“?

In die Hose pinkeln?

Kurzfristig wird ihnen warm, aber langfristig ist das keine Lösung. Ich würde also sagen, wenn Sie eine langfristige Lösung wollen, ist es besser, die Gedanken in Ruhe zu lassen, als darüber zu reden und zu schreiben. Denn auch wenn Sie mit anderen Menschen darüber sprechen, stellt sich die Frage: Hat es die Depression wirklich geheilt?

In meinem Fall schon. Ich verlasse die Klinik erst, wenn ich nicht mehr depressiv bin. Dazu kommt auch, dass ich in der Klinik nicht mehr das Gefühl habe, alleine krank zu sein. Das nimmt zumindest einen Triggergedanken (Einsamkeit) weg – und das spüre ich.

Natürlich. Das ist ein guter Weg, diesen Gedanken aufzulösen. Aber eine andere Möglichkeit ist, ihn in Ruhe zu lassen …

… dann geht er von selbst, verstanden. Ich nehme an, dass Sie ihren Patient:innen auch keine Antidepressiva verschreiben, korrekt?

Nein, nicht sofort. Das kann sich aber durchaus ändern, wenn wir herausfinden, dass die Person nicht zu den 74 Prozent gehört. Und wir empfehlen, wenn sie bereits Medikamente einnimmt, dabei zu bleiben. Ist dies nicht der Fall, fangen wir nicht damit an, wenn eine Metakognitive Therapie begonnen wird. Wenn Leute wirklich sehr schwer depressiv sind, gibt es die Möglichkeit, auch ohne Therapie anzufangen – sie können unser Aufmerksamkeitstraining machen, um ihren Fokus von innen nach außen zu zwingen. Das wird dann 14 Tage lang drei Mal am Tag geübt, und das kann genauso effizient sein wie Medikamente.

Genauso effizient wie Medikamente?

Es ist eine Hypothese. Wenn wir uns die Resultate der Metakognitiven Therapie ansehen, dann stellen wir fest, dass Menschen es mit dem Aufmerksamkeitstraining schaffen, von einer schweren Depression in eine mittlere zu gelangen. Und das ist nur das grundlegende Training. Jedoch habe ich keinen Vergleich dazu und kann es auch nicht belegen. Deshalb ist es ein Hypothese.

Wo sehen Sie die Grenzen der Metakognitiven Therapie?

Wir wissen nicht so viel über die 26 Prozent, denen sie nicht hilft. Aber was wir in der Klinik sehen, ist, dass die meisten Menschen positive Überzeugungen über die Nützlichkeit des Grübelns haben, und wenn wir diese nicht umstrukturieren können, dann werden die Menschen weiter grübeln.

Was sind „positive Überzeugungen“ über das Grübeln?

Zum Beispiel: „Ich glaube, dass mir das Grübeln hilft, zumindest auf kurze Sicht.“ Wenn Menschen davon überzeugt sind und wir daran nichts ändern können, dann wird es natürlich schwierig. Die Grenze wäre also, wenn die Leute weiterhin denken, dass es eine gute Sache ist, bei schwierigen Gedanken zu verweilen, zu grübeln. Und dann brauchen sie natürlich eine andere Herangehensweise wie zum Beispiel die Aufarbeitung ihrer Kindheit.


Hier geht es zu einer Leseprobe des Buches.

Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

„Wir provozieren Depressionen selbst“

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