Im neuesten Interview mit dem Journalisten Jan-Martin Wiarda sagt die künftige Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Britta Ernst (SPD), nicht nur, dass Schulen keine Infektionstreiber sind. Sie sagt sogar, dass alle Kultusminister:innen das sagen. Als wäre das noch niemandem aufgefallen.
Wenn man das Wort „Infektionstreiber“ googelt, geht es in den ersten vier Artikeln um Schulen – oder eher: darum, dass Schulen keine Treiber der Pandemie sind. Dann kommt ein Artikel über Starkbierfeste in Bayern. Dann kommen wieder die Schulen. Die Kultusminister:innen haben der Debatte seit Monaten ihren Stempel aufgedrückt.
Dabei ist ihre Aussage in dieser Pauschalität unseriös. Und dazu noch wissenschaftsfeindlich. Denn es deutet sich immer mehr an, dass Schulen eine Rolle spielen beim Infektionsgeschehen. Der Virologe Christian Drosten sagte mit Blick auf die neuesten Studien zuletzt im NDR-Podcast sogar: „Die Frage, was Schüler beitragen zur Pandemie, ist beantwortet.“
Welch eine Ironie! Ausgerechnet die Minister:innen, die für Forschung und Wissenschaft zuständig sind, drücken bei einer Studie nach der nächsten beide Augen zu. Ihre Aussage könnte also falsch sein. Aber das ist noch das kleinste Problem. Das viel größere: Sie verhindert Debatten, die jetzt dringend geführt werden müssen.
Wir versuchen Behauptungen zu widerlegen, die derzeit niemand widerlegen kann
Vor sechs Tagen verkündete Angela Merkel mit den Ministerpräsident:innen noch, dass der aktuelle Lockdown leider auch weiterhin für Schulen gelte. Ich dachte also, dass der aktuelle Lockdown leider auch weiterhin für Schulen gilt. Was war ich naiv!
Keine 48 Stunden später war von Merkels Ansage nicht mehr viel übrig. Ein Bundesland nach dem nächsten gab bekannt, was sie mittlerweile unter Lockdown für Schulen verstehen. Zum Beispiel: Keine Präsenzpflicht, aber sehr wohl die dringende Empfehlung, Kinder ab Montag wieder in die Schule zu schicken. Die Bremer Schulsenatorin Claudia Bogedan (SPD) übernehme dafür gerne die Verantwortung.
In Berlin kam es zu maximalem Chaos. Schulen zu, Schulen auf, dann öffentliche Kritik, partei-interne Streitereien, dann das große Zurückrudern: Schulen doch wieder zu. Dieses Hin und Her lässt erahnen: Es geht nicht darum, in der Pandemie die richtige Entscheidung zu treffen. Oft geht es schlichtweg um politische Machtfragen.
Denn eine eindeutige Einschätzung der Lage kann derzeit niemand abgeben. Da können die Kultusminister:innen noch so oft reflexhaft „Keine Infektionstreiber!“ in die Kameras rufen.
Alle Expert:innen warnen: Erst in ein bis zwei Wochen kommen die Fallzahlen der Realität wieder näher. Während der Feiertage wurde weniger getestet und weniger gemeldet. Hinzu kommt: Schon vor Weihnachten war die Datenerhebung bei Schüler:innen ungefähr so zuverlässig wie dieser Sicherheits-Check:
https://www.youtube.com/watch?v=J2uhWTFvug8
Um die Kultusminister:innen zu widerlegen, müsste man nachweisen, dass Schulen sehr wohl Infektionstreiber sind. Eine wissenschaftliche Hypothese ist das keinesfalls. Trotzdem gehen Journalist:innen auf jeder größeren Nachrichtenseite dieses Landes seit Monaten regelmäßig dieser Frage nach. Wir Journalist:innen wälzen die neuesten Studien und kommen zum Ergebnis: Naja, so richtig Treiber sind Schulen ja nicht. Dabei hatte das auch nie jemand behauptet! Das Problem: Wir versuchen eine Frage zu beantworten, die man derzeit gar nicht beantworten kann. Und das hat mehrere Gründe.
Wo sich die Menschen anstecken, kann derzeit niemand sagen
Um zu wissen, ob Schulen Infektionstreiber sind, müsste man herausfinden, dass eine beachtliche Anzahl der Infektionen auf Schulen zurückzuführen ist. Das wird nicht passieren. Aus zwei Gründen:
Erstens befinden wir uns (unabhängig von Weihnachten) gerade in einer Phase der Pandemie, die man „diffuses Community-Spreading“ nennen kann. Bei den meisten Infektionen wissen wir schlichtweg nicht, wo die Menschen sich angesteckt haben. Schon vor Monaten (!) gaben Gesundheitsämter öffentlich bekannt: Wir kommen nicht mehr hinterher. Wir können die Infektionsketten nicht mehr rekonstruieren. Wir können keine Cluster mehr erkennen.
Wer Infektionsketten nicht mehr bis zum Ursprung verfolgen kann, kann auch nicht sagen, ob sich jemand in einer Schule angesteckt hat oder nicht.
Zweitens haben Schulen selbst dann schon eine Sonderrolle gespielt, als die Gesundheitsämter noch nicht maßlos überfordert waren. Denn was passiert, wenn sich beispielsweise ein zwölfjähriger Paul nachweislich mit Corona infiziert? Es wird nicht etwa die ganze Klasse getestet, nein, die Klasse wird in Quarantäne geschickt. Also: wenn überhaupt. In einigen Bundesländern wurden nach der Einführung der Maskenpflicht selbst direkte Sitzpartner:innen nicht in Quarantäne geschickt – sie würden ja Masken tragen, das reiche aus, berichten Eltern und Lehrkräfte immer wieder auf Twitter.
Wie viele Mitschüler:innen von Paul sich bei ihm angesteckt haben, kann deshalb niemand sagen, denn die meisten Corona-Infektionen bei Kindern verlaufen ohne Symptome. Wenn die Mitschüler:innen von Paul nun unbemerkt ihre Familien anstecken, entstehen weitere Coronafälle, die nicht auf Schulen zurückgeführt werden. Ansteckung im familiären Umfeld, wie es so schön heißt.
In Österreich hat man deshalb 14.000 Schüler:innen und Lehrkräfte flächendeckend getestet, unabhängig von den Symptomen. „Im November saß in jeder dritten bis vierten Schulklasse ein infiziertes Kind, ohne von der Infektion zu wissen“, sagte der Autor der Studie, Michael Wagner, dem Fernseh-Magazin Panorama. Die Untersuchung zeigte auch, dass sich Schüler:innen genauso häufig (1,42 Prozent der Getesteten) anstecken wie die Lehrkräfte. Und Grundschüler:innen waren genauso betroffen wie ältere Jahrgänge.
Es geht schon lange nicht mehr darum, Infektionstreiber zu identifizieren
Vor allem aber geht es in der derzeitigen Lage gar nicht darum, ob Schulen die ultimativen Infektionstreiber oder total harmlos sind. Es geht um den Graubereich dazwischen.
In Großbritannien gab es im November einen Lockdown, bei dem die Schulen geöffnet waren. Die Altersgruppe mit den meisten Infizierten war die der 13- bis 17-jährigen. Und auch in Deutschland lag die Sieben-Tage-Inzidenz der 15- bis 19-Jährigen im Dezember, als die Schulen noch geöffnet waren, mit 218 fast so hoch wie die junger Erwachsener von 20 bis 25 und deutlich über dem damaligen deutschen Durchschnitt von 183.
Das zeigt: Wo Menschen (auch Kinder) in Kontakt kommen, kommt es zu Infektionen. Ein Blick in die Krankenhäuser und Bestattungsinstitute reicht, um zu merken: Es geht nicht darum, die Infektionstreiber zu identifizieren. Es geht jetzt darum, alle Infektionen einzudämmen. Am besten, bevor uns die Virus-Mutante aus Großbritannien flächendeckend erreicht. Denn die scheint, so aktuelle Einschätzungen, nochmal 50 Prozent ansteckender zu sein. Das wäre, als würde eine neue Pandemie starten, schreibt meine Kollegin Silke Jäger.
Die richtige Frage wäre also: Wie kriegen wir die Zahlen runter? Hier kommen die Schulen dann wieder ins Spiel:
In einer Studie, die Corona-Maßnahmen in 226 Ländern untersucht hat, kommen die Autor:innen zu dem Ergebnis: „Den größten Einfluss auf die Reduzierung des R(t)-Wertes hatten die Schließungen von Bildungseinrichtungen.“ In einer anderen Studie in Großbritannien berechneten die Wissenschaftler:innen: „Das Schließen von Schulen reduzierte die Anzahl der Toten von 120.000 auf 65.000.“ Eine neue Studie vom Institut für Wirtschaftsinformatik in Karlsruhe über neun europäische Staaten und 28 US-Staaten besagt: „In unserer Analyse hat der Zeitpunkt der Schulschließung einen entscheidenden Effekt auf die Entwicklung der Pandemie.“
Wer lange genug sucht, findet auch Studien, die Schulschließungen weniger Schlagkraft zusprechen. Das Entscheidende ist aber: Ihnen wird Schlagkraft zugesprochen. Jetzt auf sie zu verzichten, kann fatal sein.
Die Debatte um die Ansteckungsgefahr von Schulkindern überschattet die wirklich wichtigen Fragen
Der „Schulen sind keine Infektionstreiber“-Reflex der Kultusminister:innen verkennt, wie ernst die Lage ist. Und er ist ein großes Ablenkungsmanöver. Davon, welche Debatten jetzt rund um die Schulen geführt werden müssen:
Ab welcher Inzidenz können wir die ersten Klassen wieder in die Schulen schicken? Ab welchem Wert können wir es verantworten, die Schulen wieder ganz zu öffnen? Wäre eine bundesweite, einheitliche Lösung besser als regionale Lösungen? Das Virus ist schließlich in jedem Bundesland das gleiche. Vielleicht könnten sich die Kultusminister:innen dann auch gleich an die Empfehlungen des Robert-Koch Instituts halten. Wie soll eine Langzeitstrategie zur Corona-Beschulung aussehen? Wie können wir Kinder schützen, für die das Zuhause kein sicherer Ort ist? Wie verhindern, dass Bildung immer ungerechter wird?
Und weiter: Wie sehen Hygienekonzepte aus, die nicht am Schulgelände enden? Auf welchen Lernstoff können wir verzichten? Wie können die Eltern entlastet werden, die zuhause jetzt wieder alles gleichzeitig machen müssen? Die unkreative und immer gleiche Antwort der Kultusminister:innen lautet Präsenzunterricht. Und das nach zehn Monaten Pandemie.
Der Tagesspiegel bescheinigt den Kultusminister:innen mittlerweile Arbeitsverweigerung. Mit ihrem ständigen Verweis auf die Frage der Infektionstreiber lenken sie gekonnt von den oben genannten Fragen ab.
Dabei ist die To-Do-Liste der Kultusminister:innen lang. An ihr sollten wir uns abarbeiten.
Redaktion: Esther Göbel, Fotoredaktion: Till Rimmele, Schlussredaktion: Belinda Grasnick.