Mitte Dezember verkündete der britische Premierminister Boris Johnson, dass eine neue Corona-Variante, die in London und Südengland inzwischen für die Mehrheit der Corona-Infektionen verantwortlich ist, bis zu 70 Prozent ansteckender sein könnte. In diesen Regionen verschärfte die britische Regierung die Corona-Maßnahmen. Das löste einen kleinen Schock aus: Sofort schlossen viele europäische Länder die Grenzen und stellten den Flugverkehr von und nach Großbritannien ein. War das eine übertriebene Panikreaktion? Davon bin ich zuerst ausgegangen.
Doch der Virologe Friedemann Weber erklärte bei Krautreporter kurz vor Weihnachten schon, dass wir diese Virus-Variante auf jeden Fall ernst nehmen müssen. Seit diesem Interview habe ich viel Zeit damit verbracht, Wissenschaftler:innen aus Großbritannien zuzuhören. Meist nehmen solche Recherchen auf Twitter ihren Anfang – in diesem Thread habe ich viele Tweets gesammelt, die mir geholfen haben, einen Überblick zu bekommen.
Die neue Virus-Variante aus Großbritannien – zusammen mit einer ähnlichen aus Südafrika – muss uns in höchste Alarmbereitschaft versetzen. Denn sie hat das Potenzial, die Pandemie schlimmer zu machen: viel mehr Infizierte, schwer Kranke und Tote in kurzer Zeit – selbst wenn die Anti-Corona-Maßnahmen nicht gelockert werden.
Wir wissen nicht, wie verbreitet die neue Virusvariante in Deutschland schon ist
Obwohl noch viele Fragen offen sind, weisen die Daten der meisten Forschungsarbeiten in die gleiche Richtung: Die Corona-Variante aus England ist leichter übertragbar, zwischen 50 und 70 Prozent leichter.
Das Virus scheint durch die Mutation zwar nicht gefährlicher geworden zu sein, also schwerer krank zu machen. Auch der bisher zugelassene Impfstoff wird wohl gegen diese Variante wirksam sein.
Das heißt aber nicht, dass wir uns entspannen können. Auch das Impfprogramm, das in Deutschland angelaufen ist, hilft uns noch nicht. Denn ausgerechnet die Impfstoffe, die in der EU zuerst zugelassen worden sind, ziehen eine immense logistische Herausforderung nach sich: Sie müssen durchgehend bei minus 70 Grad gekühlt werden und sind nur kurze Zeit haltbar. Das heißt: Es kann nur sehr langsam geimpft werden. Natürlich auch, weil es im Moment zu wenig Impfstoff gibt.
Aber vor allem können wir nicht entspannen, weil wir gar nicht wissen, wie weit die neuen Virus-Varianten aus England und Südafrika hier bereits verbreitet sind. Denn im Gegensatz zu Großbritannien wird in Deutschland recht selten das Genom aus Virusproben analysiert. Das muss man aber machen, um Veränderungen des Virus zu entdecken. Im Moment stehen die Zeichen noch recht gut, es wurden einzelne Fälle gefunden. Aber wie viel Prozent der Ansteckungen auf die neue Variante entfallen, weiß niemand – auch in den nächsten Wochen erstmal nicht.
Ich habe Krautreporter-Mitglied Matthias Wjst gefragt, warum in Deutschland nicht ähnlich viele Genomsequenzierungen gemacht werden wie in Großbritannien. Er ist Arzt und Epidemiologe an der TU München. Er sagt: „Es ist zwar viel Geld für die Corona-Forschung bereitgestellt worden, aber für eine flächendeckende Genomsequenzierung bräuchte man auch besser verzahnte Strukturen. Es hätte sicher im Frühjahr die Chance gegeben, solche Strukturen anzulegen. Dann müssten wir uns jetzt nicht nur auf ein paar wenige Labore verlassen, die das schon lange machen und auch gut können.“
In Großbritannien gibt es diese guten Strukturen. Das Land ist damit weltweit führend in der Genomsquenzierung, sequenziert circa 100-mal mehr und kann so viel eher Virus-Varianten entdecken und ihre Gefährlichkeit bewerten.
Die neue Virus-Variante ist ansteckender – und damit auch gefährlicher
Die höhere Übertragbarkeit macht die neue Virus-Variante dabei gefährlicher, als wenn sie „nur“ schwerer krank machen würde. Das erscheint auf den ersten Blick unlogisch: Vor einem Virus, das im Körper mehr Schaden anrichtet, müsste man doch mehr Angst haben. Doch das ist nur aus Sicht desjenigen richtig, der sich infiziert.
In einer Pandemie geht es aber nicht in erster Linie um den einzelnen Krankheitsfall, sondern um die Summe aller Krankheitsfälle. Außerdem geht es nicht in erster Linie darum, die Krankheit zu verhindern – das ist zwar aus ethischen Gründen wichtig –, wichtiger ist es aber vor allem, dem Virus den Weg abzuschneiden.
Konkret macht es Adam Kucharski, Professor an der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Er ist spezialisiert auf mathematische Analysen und Epidemien und hat sich angeschaut, wie sich eine 50 Prozent tödlichere Virus-Variante von einer 50 Prozent ansteckenderen Variante unterscheidet. Angenommen, ein Virus hätte eine Reproduktionsrate von 1,1 (Ansteckungen pro Infiziertem) und tötete 0,8 Prozent der Infizierten, dann müsste man bei 10.000 aktiven Infizierten mit 129 Toten in einem Monat rechnen. Das ist die Ausgangslage. Wenn nun das Virus 50 Prozent tödlicher wäre, stiege die Zahl der Toten auf 193 in einem Monat. Das ist ein linearer Anstieg. Im Gegensatz dazu würde bei einer 50 Prozent ansteckenderen Variante die Zahl der Toten auf 978 steigen. Das ist ein exponentieller Anstieg.
London droht das neue Bergamo zu werden
Was exponentielles Wachstum kann, lässt sich im Moment gut in London beobachten. Dort werden inzwischen circa 80 Prozent der positiv Getesteten durch die Variante B.1.1.7 infiziert – so der wissenschaftliche Name der Mutation. London hat jetzt eine 7-Tage-Inzidenz von 807 pro 100.000 Einwohner:innen. Und fatalerweise einen steilen Anstieg der Infiziertenzahlen und eine Verdopplung der Krankenhauseinweisungen alle zwei Wochen.
Die Krankenhäuser befürchten das Schlimmste für die nächsten Wochen. Darauf einstellen können sie sich leider schon nicht mehr. Denn sie sind bereits durch das Infektionsgeschehen, das vor drei Wochen herrschte, überfordert: Einige melden, dass es nicht mehr genügend Sauerstoff für die Beatmung der Patient:innen gibt und der Mangel an Pflegepersonal so groß ist, dass die Versorgung auf manchen Stationen zusammenbricht. Patient:innen müssen hunderte Kilometer weiter in andere Krankenhäuser transportiert werden. Doch nicht jede:r ist transportfähig. In England wird also Katastrophenmedizin gemacht: Triage in ihrer extremsten Form. London droht, das neue Bergamo zu werden.
Ein neuer Bericht des Imperial College in London stellt fest, dass die Reproduktionsrate der neuen Virus-Variante in den betroffenen Gebieten von 0,9 auf 1,6 gestiegen ist – bezogen auf einen Zeitraum bis Mitte Dezember. Und das, obwohl dort Geschäfte und Pubs geschlossen waren. Lediglich die Schulen waren offen. Und so erklärt sich vielleicht auch, warum sich die Variante vor allem in den jüngeren Altersgruppen (Kinder und Jugendliche bis 19 Jahren) stark ausbreiten konnte. Ob das auch bedeutet, dass diese Altersgruppen generell anfälliger für diese Variante ist, lässt sich noch nicht sagen. Wahrscheinlich ist aber, dass offene Schulen eine wichtige Rolle in der Pandemie spielen. Darauf weisen die Daten aus Großbritannien schon länger hin. In der öffentlichen Debatte in Deutschland ist das jedoch noch gar nicht richtig angekommen.
Inzwischen sind auch in Großbritannien Weihnachtsferien und in London sind die Maßnahmen verschärft worden. Die Schulen bleiben den Januar über geschlossen und steigen auf Onlineunterricht um. Doch ob das ausreichen wird, um einen katastrophalen Anstieg der Infektionszahlen noch zu verhindern, ist mehr als fraglich. Denn das ansteckendere Coronavirus breitete sich trotz Lockdown weiter aus – während der ursprüngliche Wildtyp zurückgeht. Das heißt, das exponentielle Wachstum hat vor allem mit der neuen Variante zu tun.
In Großbritannien trommeln Wissenschaftler:innen schon seit Wochen und in den letzten Tagen zunehmend verzweifelt dafür, das ganze Land in einen strengen Lockdown zu schicken. Das Land ist in der glücklichen Lage, relativ schnell feststellen zu können, wie stark sich die neue Variante verbreitet. Relativ schnell heißt: nach drei bis sechs Wochen. Deutschland steht in dieser Hinsicht schlechter da.
Das wirft die drängende Frage auf: Können wir es uns leisten zu warten, bis die Labore Alarm schlagen? Sequenzieren sie überhaupt genügend Proben, um feststellen zu können, wie viel Prozent der Ansteckungen auf das Konto der neuen Variante geht? Wann merken wir, dass nicht unser Verhalten, sondern ein neues Virus für stark steigende Zahlen verantwortlich ist? Und am wichtigsten: Gibt es schon einen Plan für den Fall, dass wir quasi von vorne anfangen müssen mit den Eindämmungsmaßnahmen?
Was Deutschland jetzt tun müsste
Viele werden sagen: Wir haben ja jetzt den Impfstoff, wird schon schief gehen. Ja, mit dem Impfstoff gibt es eine gute Chance, dass es im Laufe des Jahres deutlich besser wird. Aber der Impfstoff wird es im ersten und zweiten Quartal noch nicht richten. Sollte sich die neue Virus-Variante in Deutschland ähnlich erfolgreich verbreiten, wie es bereits in Großbritannien der Fall ist, könnte es ab Mitte Februar nochmal heikel werden. Dabei ist noch gar nicht sicher, dass bis dahin die Fallzahlen überhaupt zurückgehen werden. Dafür müssten die Ministerpräsident:innen der Bundesländer vermutlich auf Lockerungen der Maßnahmen verzichten. Aber vor allem auch damit rechnen, dass das nicht reichen könnte.
Großbritannien lehrt uns, dass sich die neuen Varianten durch Kontakteinschränkungen nicht unbedingt aufhalten lassen. Darauf muss sich Deutschland vorbereiten. Viele andere Länder …
- schließen Grenzen,
- verfügen strengere Quarantänemaßnahmen für Einreisende aus Ländern, in denen die Varianten nachgewiesen wurden,
- passen Testverfahren an und sequenzieren mehr,
- führen Massentests oder regelmäßige repräsentative Stichprobenstudien durch,
- stellen auf digitalen Unterricht um,
- fördern Homeoffice,
- verbessern ihre Schutzkonzepte für Krankenhäuser, Heime und Massenunterkünfte,
- lassen Geschäfte und Restaurants zu und
- weiten die Maskenpflicht aus.
Wohlgemerkt: Zusätzlich zu den Maßnahmen, die bereits vorher galten, um das Virus einzudämmen.
Wichtiger denn je scheint mir zu sein, dass Deutschland seine Strategie ändert – am besten in Abstimmung mit den anderen EU-Staaten. Das forderte auch ein pan-europäisches Wissenschaftsnetzwerk in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet kurz vor Weihnachten. Das Ziel muss sein, die Neuansteckungen auf Null zu drücken. Das wird ohne Herdenimmunität durch Impfung nicht ganz gelingen. Aber bis zur Herdenimmunität ist es umso wichtiger, dass die Fallzahlen ganz niedrig sind. Damit diejenigen, die nicht geimpft sind, weiterhin gut genug vor Ansteckungen geschützt sind.
In Deutschland wird bisher kaum über das Potenzial der Virus-Variante geredet. Dabei ist die Ausgangslage nicht besonders gut: Bei so vielen Ansteckungen, bei denen die Kontaktnachverfolgung im Moment nicht gut gelingt und damit dem Virus immer einen Vorsprung lässt, wäre eine Ausbreitung der mutierten Variante so, als startete eine neue Pandemie, während die erste noch gar nicht bewältigt wurde.
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Bent Freiwald.