Links sieht man eine DNA-Sequenzierung mit einer Pinzette, die einen Flüssigkeitsbehälter hält, daran angegliedert den Experten aus dem Interview, den Forscher Prof. Friedemann Weber von der Uni Gießen.

Rechts: © Science & Society Picture Library / Gettyimages | Links: JLU / Rolf K. Wegst

Psyche und Gesundheit

Interview: „Bei dem neuen Virusstamm kann man schon denken: Oh, Hoppla!“

Die Impfstoffe sind da, aber das Coronavirus mutiert. Müssen wir uns Sorgen machen? Ein Gespräch mit Friedemann Weber, Direktor der Virologie an der Universität Gießen.

Profilbild von Ein Interview von Esther Göbel

Herr Professer Weber, es gibt eine neue SARS-CoV-2-Variante aus England, einen neuen Stamm, der über siebzig Prozent ansteckender sein soll. Als die Nachricht draußen war, haben mehr als 40 Länder Einreisestopps für Großbritannien eingeleitet, der Eurotunnel wurde zeitweise dicht gemacht, Häfen geschlossen, die Medien publizierten Eilmeldungen. Sie forschen selbst an Corona-Viren und dem menschlichen Immunsystem, was sagen Sie: Machen Sie sich große Sorgen wegen dieser Nachricht?

Ich mache mir Sorgen, seit es diese Pandemie gibt. Aber nach dem, was die englischen Kolleg:innen sagen und schreiben, ist das Virus durch die Mutation offenbar besser übertragbar. Dafür gibt es mehrere Beweisstränge: Personen, die sich mit der neuen Variante infiziert haben, zeigen offenbar eine höhere Viruslast im Rachenraum. Auch der R-Wert liegt deutlich höher. Aber deswegen ist der neue Virusstamm nicht zehnmal tödlicher oder dergleichen. Wahrscheinlich gibt es in der Symptomatik, der Schwere der Erkrankung und der Häufigkeit keinen Unterschied zu älteren Stämmen.

In vielen Medien ist nachzulesen, dass der neue Virenstamm schon in Deutschland sei. Was sagen Sie dazu?

Wahrscheinlich ist er schon in Deutschland, ja. Das wundert mich aber nicht. Die Deutschen gucken nur einfach nicht so gut hin wie die Briten.

Was meinen Sie damit?

Die Briten sammeln besonders fleißig Genomsequenzen des Virus. Aus denen lassen sich bestimmte Dinge ablesen – zum Beispiel, ob sich im Genom eines Virus etwas verändert hat oder nicht. Deswegen konnten die Briten gut sehen, dass sich hier eine Mutante gebildet hat. In Deutschland wird weniger sequenziert, auch weniger systematisch. Jedes Labor mümmelt vor sich hin und kann seine Ergebnisse in eine Datenbank einspeisen, oder es eben bleiben lassen.

Wieso ist das so? Die Pandemie läuft seit knapp einem Jahr, hätte man sich da nicht besser organisieren können – und müssen?

Klar hätte man das. So wie die Briten es eben machen. Durch die Anbindung über den National Health Service gibt es dort eine Infrastruktur, wie wir sie in Deutschland nicht haben. Hierzulande gab es zwar mehrere Aufrufe – etwa vom Bundesministerium für Bildung und Forschung oder auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft – mehr zu sequenzieren, schon vor der Pandemie. Aber es wurde eben nie eine Systematik eingeführt, so dass wir einen stetigen Strom an Sequenzen hätten, die alle gebündelt irgendwo einlaufen.

Kommen wir mal zu der neuen Virusvariante: Was ist auf genetischer Ebene passiert, wieso ist der neue Stamm ansteckender als andere vor ihm?

Er verfügt über mehrere Mutationen im Spike-Protein…

…mit dem das Corona-Virus an die menschlichen Zellen andockt.

Genau. Der neue Virusstamm weist zum Beispiel eine Mutation genau an der Stelle auf, an der das Spike-Protein offenbar besser am Rezeptor haftet: Es bindet jetzt stärker. Das kann dem Virus schon sehr helfen beim Zugang zur menschlichen Zelle. Per se muss das aber noch nicht die Virulenz steigern. Weil ein Virus auch nicht zu stark an seinen Rezeptor binden darf.

Moment mal, das verstehe ich nicht. Wenn das Virus stärker binden kann, bleibt es doch einfacher an der Zelle hängen – und ist auch schneller drin.

Das ja. Aber das Virus will auch neu gebildete Partikel aus der Zelle herausschleusen, um sich schnell weiterverbreiten zu können. Da kann eine zu starke Bindung am Rezeptor hinderlich sein. Deswegen gibt es bei vielen Viren – bei SARS-1 beispielsweise und sehr wahrscheinlich auch bei SARS-CoV-2 – sogar Rezeptor-zerstörende Eigenschaften, um das Problem zu lösen. Eine mittlere Bindungsstärke ist also besser fürs Virus. In der Biologie ist das übrigens oft so: Das Mittelmaß ist das Optimum, auf lange Sicht. Bei dem neuen Virusstamm aus England kann man sich aber schon denken: Oh, Hoppla!

Wieso?

Weil er insgesamt acht Mutationen allein im Spike-Protein aufweist. Das ist schon eine ordentliche Zahl.

Ich würde gern für einen Moment bei dem Begriff Mutation bleiben. Für die meisten Menschen klingt allein schon das Wort nach Frankenstein. Der Begriff macht Angst. Aber wenn man sich den Vorgang ganz versachlicht anschaut: Was passiert bei einer Mutation?

Bei der genetischen Vervielfältigung wird nicht der richtige Baustein eingesetzt. Oder einer fehlt. Das ist schon alles. Entscheidend ist, an welcher Stelle im Genom sich eine Mutation vollzieht. Es gibt Stellen, an denen ist ein Fehler während der genetischen Vervielfältigung nicht entscheidend; da kann mal dieser oder jener Baustein eingebaut werden ohne große Auswirkungen. Und dann gibt es andere Stellen – wie etwa bei dem Gen, das die Anleitung für das Spike-Protein trägt –, an denen schon ein einziger anderer Baustein eine große Veränderung in der Wirkungsweise bedeuten kann. Mutationen ereignen sich aber ständig. Gerade bei RNA-Viren wie SARS-CoV-2. Übrigens auch beim Menschen. Nur nicht in dem Maße wie bei Viren.

Warum mutieren Viren so stark? Welchen Zweck hat das?

Es geht immer um die Produktion von Nachkommen. In der Evolution ist der am erfolgreichsten, der die meisten Nachkommen bildet. Also der, der am besten an die gegebenen Bedingungen angepasst ist. Wenn also eine Person noch nicht immun ist und sich mit einem Virus infiziert, dann gewinnt die erste Variante, die einigermaßen gut angepasst ist. Wenn dieselbe Virusvariante aber auf eine oder mehrere Personen trifft, die vielleicht wegen einer früheren Infektion schon immun sind, hat diese Variante, die eben noch die beste war, womöglich schlechtere Chancen als eine, die in ihrem Genom eine zufällige Veränderung aufweist, also eine Mutation. Weil diese Mutation zufällig dazu führt, dass sich das Virus unter den jetzt herrschenden Bedingungen besser vervielfältigen kann. Was für das Virus natürlich von Vorteil ist.

Schmälert die neu entdeckte Virusvariante die Hoffnungen auf den mRNA-Impfstoff der Mainzer Firma Biontech, der diese Woche für die EU zugelassen wurde?

Die jetzigen Maßnahmen sind auch gegen diese Virusvariante wirksam. Genauso wie der Impfstoff. Denn der veranlasst ja nicht nur die Bildung eines einzigen Antikörper-Typs, sondern viele verschiedene, die an verschiedenen Stellen des Spike-Proteins binden, und diese Stellen sind ja nicht alle mutiert. Bei Biontech wurden im Rahmen der Impfstoffentwicklung außerdem alle damals verfügbaren Mutationen des Spike-Proteins durchgetestet. Also man hat die Antikörper, die nach der Impfstoffgabe gebildet werden, genommen und geschaut, wie gut diese gegen die Mutanten wirken. Dabei wurden keine Unterschiede in der Wirkung des Impfstoffs festgestellt. Auch den neuen Virusstamm wird man bei Biontech nun testen.

Was denken Sie über den Impfstoff?

Ich finde ihn fantastisch! Die mRNA-Plattform ist ein super Werkzeug! Natürlich lässt sich jetzt noch nichts über die Langzeitwirkungen sagen, das ist nun einmal so. Aber die mRNA als Impfplattform wird ja nicht erst seit gestern getestet. Seit zwanzig Jahren etwa wird daran geforscht. Ursprünglich kommt die Idee aus der Krebsforschung, man benutzt die mRNA dort als Impfplattform gegen Tumore. Das ist ein tolles Konzept, was auch schon in Phase I getestet wird. Als dann plötzlich COVID-19 als neue Infektionskrankheit aufkam, hat man sich gedacht: Wieso nicht die mRNA des Spike-Proteins als Information für eine Impfung verwenden? Unsere Zellen sind voll mit mRNA, das ist also ein Naturstoff – mehr Bio geht nicht, quasi.

Trotzdem gibt es noch viele ungeklärte Fragen, was den Impfstoff betrifft. Etwa ob ein Geimpfter eine Infektion weitergeben kann. Das wurde in den Zulassungsstudien nicht untersucht.

Aus Versuchen mit geimpften Affen kann man sagen: An Tag eins konnte man in den Nasen der geimpften Tiere noch Virus nachweisen, an Tag drei nicht mehr. Bei den Placebo-Affen, die keinen Impfstoff erhalten hatten, hingegen schon. Also würde ich schlussfolgern, dass die Weitergabe des Virus nach einer Impfung viel weniger wahrscheinlich ist, weil die gefundene Viruslast eben viel geringer ist als in der Vergleichsgruppe.

Eine Leserin hat uns berichtet, sie sei tatsächlich an COVID-19 erkrankt, genesen – doch bei ihr konnten keine Antikörper nachgewiesen werden. Wie erklärt sich das? Das Dogma lautet doch: Wenn ich krank war, aber gesundet bin, hat mein Körper natürlich Antikörper gebildet!

Geschaut wird ja nach Antikörpern im Blut, den sogenannten IgG-Antikörpern. Was Sie aber in den Schleimhäuten des oberen Atemtrakts haben, sind sogenannte IgA-Antikörper. Bei einer schweren Erkrankung bildet der Körper beide Typen aus, aber wenn sich die Erkrankung auf den Atemtrakt beschränkt, kriegen Sie vor allem IgA-Antikörper, was sich eventuell im Blutbild nicht ausdrückt. Das wäre, mit aller Vorsicht ausgedrückt, eine mögliche Erklärung aus der Ferne.

Ein anderes KR-Mitglied hat gefragt, ob eine genesene Person sich impfen lassen sollte, oder ob eine Impfung sich in einem solchen Fall nicht erübrigt, weil der Körper ja schon auf natürlichem Wege Antikörper gebildet hat.

Die Stärke der Erkrankung korreliert mit der Stärke der Immunantwort. Also das heißt: Bei einer schwachen Infektion haben Sie auch nur eine schwache Immunität. Wer eine mittelschwere COVID-19-Infektion durchlaufen hat, verfügt vermutlich über einen ausreichenden Schutz. Sie machen mit einer Impfung aber auch nichts kaputt, die wirkt bei einer genesenen Person wie ein Booster. Es gibt zwar Berichte von Fällen, in denen bereits Infizierte zum zweiten Mal erkranken und dann erst richtig schlimm, aber diese Fälle sind selten. Wenn das ein häufiges Problem wäre, wüssten wir das mittlerweile.

Wie halten Sie es selbst? Lassen Sie sich impfen, sobald es geht?

Natürlich!

Ihre Antwort kam jetzt sehr aus der Pistole geschossen. Ich will kurz bei Ihnen bleiben: Für alle war das Jahr 2020 besonders, im Sinne von besonders schwer. Aber wie war es für Sie als Virologe?

Ich würde sagen, das vergangene Jahr war die wildeste Zeit, die ich jemals als Virologe erlebt habe. Und ich war als Grundlagenforscher schon bei SARS-1 dabei. Dass es so etwas wieder geben würde wie SARS-1, war allen klar, die daran geforscht hatten. Aber in dieser Heftigkeit? Das habe ich mir nicht vorstellen können. Ich wäre auch davon ausgegangen, dass das, was wir durch SARS-1 gelernt haben, ausgereicht hätte, um ein neues Virus in Schach zu halten. Aber das war nicht der Fall.

Ohne zynisch klingen zu wollen, aber in dieser ganzen – entschuldigen Sie – Scheiße: Können Sie als Wissenschaftler irgendetwas Gutes darin erkennen?

Dass die mRNA-Plattform durch die Zulassung über den Impfstoff jetzt in der Bevölkerung ankommt, finde ich eine ganz tolle Sache! Das hätte ohne die Pandemie sonst noch Jahrzehnte gedauert. Nun weiß man, wie es geht, kann diese mRNA-Struktur schnell programmieren. Davon wird die Menschheit langfristig profitieren.


Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Tarek Barkouni; Bildredaktion: Till Rimmele