In der ersten Phase des Lockdowns versuchte ich eine vorbildliche Bürgerin zu sein, die den Ernst der Lage erkannt hatte. Dabei war und bin ich hart von den Einschränkungen betroffen. Ich bin Sexarbeiterin und arbeite auch körpertherapeutisch, Nähe und Berührung ist das, wovon ich beruflich und privat lebe. Beides ist 2020 nicht gerade angesagt.
Gemeinsame Atemarbeit, das Spüren von Haut an Haut, das Willkommenheißen aller möglichen Körperflüssigkeiten. Menschen, die in Kreisen zusammensitzen und singen – das war mein Alltag vor Corona. Es hört sich an wie ein Bericht aus einer längst vergangenen Zeit. Prä-C, sozusagen, für die Geschichtsbücher.
Auch wenn ich nicht als systemrelevant gelte, habe ich meinen Beitrag zur Gemeinschaft geleistet, damit die Leute den Lockdown aushalten. Es ist mir gelungen, ein coronakompatibles Online-Angebot zu entwickeln, eine ziemliche Leistung, da mein Leben ansonsten zu 80 Prozent daraus besteht, in körperliche Berührung zu gehen. Ich habe Menschen, die sich wegen der Kontaktbeschränkungen sehr einsam gefühlt haben, unterstützen können. Ich war erstens für sie da, wenn auch auf Distanz, und zweitens habe ich mit ihnen gemeinsam Wege gefunden, wie sie eine befriedigende und sinnliche Zeit mit sich selbst haben konnten. „Selbstliebe“ ist ein großes Wort dafür, und sie ist nicht selbstverständlich (ich arbeite auch gern mit dem Begriff Solosex, weil der nicht so aufgeladen ist). Hilfe zu suchen, ist kein Defizit. So sind wir Menschen gemeint.
Dir fehlt etwas? Gut so – du bist lebendig
Ich habe auch Paaren während des Lockdowns geholfen. Paare haben Glück in dieser Zeit, denn nur das Pärchendasein ist in einer solchen Zeit der Ausweg aus der drohenden Berührungsarmut. Aber auch sie brauchen Corona-Support. Die einen sind überfordert von der plötzlichen und unfreiwilligen Nähe, vielleicht weil sie nun im gemeinsamen Haushalt gefangen sind. Aus Halt und Geborgenheit werden Wut und endloses Genervtsein, aus Nähe wird ein zäher Brei. Für andere wird spürbar, dass sie ihren gemeinsamen Raum schon lange nicht mehr gestaltet haben und dass gähnende Leere da ist, wo einmal Begehren war. Ich habe mit ihnen Antworten auf die Frage gesucht: Wie kommen wir zusammen in unsere Kraft?
Nur: Das ist eigentlich nicht meine Aufgabe. Ich sehe mich nicht als Steigbügelhalterin für eine Kultur, in der wir uns mehr und mehr damit abfinden sollen, dass das jetzt das neue Normal ist und man sich nun mal eben ein bisschen zusammenreißen muss. Als wäre das ganz einfach. Dieser Anspruch ist so mitfühlend wie der Satz: „Wenn du abnehmen willst, dann iss halt weniger.“ Und wer das nicht hinkriegt, muss halt ein Personal Training oder eine Online-Therapie machen, um die eigenen Ressourcen zu stärken. Ich möchte aber keine Ratschläge geben, wie man in einer schlechten Welt ganz gut überlebt. Ich will eine bessere Welt.
Der Rückzug ins Private macht uns krank
In der zweiten Phase des Lockdowns fällt es mir also nicht so leicht, alles positiv zu sehen. Ich habe zuvor schon über die Bedeutung von Berührung geschrieben, und darüber gesprochen, was es mit uns macht, wenn sie fehlt. Nun fühle ich nicht nur den Mangel an Berührung, sondern auch den zweiten Verlust, den die Vereinzelung dieser Tage mit sich bringt: die Gemeinschaft. Das Rudel, die Herde. Die Gruppe, das Kollektiv. Der Kreis. Das Publikum. Die Menge. Menschen in einem Raum, die sich wahrnehmen, fühlen, kommunizieren. Schwitzende Leiber, tanzend, Menschen wogend in Musik, selbst tönend und sich von den Vibrationen der anderen tragen lassend. Hände halten. Sich mit glänzenden Augen anschauen, weil man gemeinsam etwas erlebt hat. Gemeinsam lauschen, zuhören. Sich erzählen, sich zeigen. Gemeinsam bewegt sein, auch wenn man still sitzt.
Theater, Konzerte und Kino sind keine Luxusveranstaltungen. Sie sind systemrelevant, ebenso wie wir Körperarbeiter:innen, die Menschen über Berührung zu sich selbst zurückführen. Diskussionen brauchen pulsierende Leiber und keine Mattscheibe, aus der ein paar schlechte belichtete Gesichter hervorschauen. Aufatmen, einatmen, ausatmen, ausrufen, schnauben, seufzen – wir wollen Menschen um uns nicht nur verstehen, sondern mitfühlen. Zoom ist kein Ersatz für das, was wir uns aus der Gruppe holen. In einer Videokonferenz kann man sich noch nicht einmal richtig in die Augen schauen. Flow ist eine Gemeinschaftserfahrung, die uns Kraft gibt und Sinn verleiht. Wir wissen, dass wir richtig sind, wenn wir uns in Gemeinschaft fühlen. Wir brauchen das Ich, das Du und die Welt. Die Gemeinschaft ist ein Zugang zum Universum, das über uns hinausweist. Der Rückzug ins Private macht uns krank. Der Körper ist das Gefäß, wo Leben stattfindet, der Körper ist der Ort, wo wir Gefühle haben. Es ist deshalb nicht egal, ob wir einander digital oder wirklich begegnen.
Wut und Trauer sind angemessene Gefühle in dieser Zeit
Ich kann mir kognitiv erklären, dass Vereinzelung pandemisch Sinn ergibt. Für meinen Körper ergibt sie keinen Sinn. Mein Körper wehrt sich dagegen und erinnert mich daran, dass ich andere Menschen brauche. Das macht mich weich und stark. Und wütend. Wut und Widerstand sind gerade schwer auszudrücken, wenn sie von rechter Ideologie gekapert werden. Zur Zeit marschieren regelmäßig Menschen mit Reichsflaggen herum und behaupten, im „Widerstand“ gegen die Pandemie und ihre Maßnahmen zu sein. Das ist natürlich Unsinn – die Feinde der Demokratie benutzen ihre Werkzeuge, um sie am Ende zu gefährden. Dennoch ist Wut ein angemessenes Gefühl im Lockdown, ebenso wie Trauer. Wir erleben gerade einen kollektiven Verlust, der in Menschen existentielle Gefühle auslöst: ob es die Angst ist zu erkranken, wirtschaftliche Existenzangst oder die Angst zu vereinsamen – es geht ans Eingemachte und triggert längst vergessen geglaubte Traumata. Viele Menschen sind mit Emotionen konfrontiert, die tief vergraben waren. Das Individuum allein ist zu klein, um all diese Ängste zu verdauen – wir brauchen das Kollektiv, um sie zu verarbeiten.
Deshalb überrascht und bestürzt mich an diesem zweiten Lockdown, wie viele Menschen nicht einmal mehr benennen, dass ihnen etwas fehlt. Es scheint sich eine lähmende Ergebenheit über das Land gegossen zu haben. Wenn ich sie darauf anspreche, reagieren sie mit einem Abwinken. „Da müssen wir jetzt durch“ – scheint diese Geste zu sagen, und sie ist resigniert. „Ich kann von alldem nichts mehr hören“, „Sollen sie doch machen“, „Ich hab wenigstens Netflix“ , „Inzwischen ist es mir scheißegal“ – sind Sätze, die ich häufig höre.
Aus meiner Praxis als Körpertherapeutin weiß ich, dass die meisten Menschen wenig Kontakt mit ihrem Körper und ihren Gefühlen haben: aus Gründen, die tief in der eigenen Biografie vergraben sind. Zusätzlich leben wir immer noch in einer Welt, in der Körperkontakt, Fürsorge und Nähe häufig Mangelware sind. Durch Corona wird dieses Phänomen um ein Vielfaches verstärkt. Die Entfremdung, Vereinzelung, das Einschränken der Berührung und das Körpervergessen sind erwünschtes Verhalten. Für viele Menschen muss das etwas sein, das bereits als Kind unerträglich war – und das deshalb ins nicht Fühlbare verbannt wurde. Leider bewirkt die Abspaltung von Gefühlen auch, dass sich insgesamt das Fühlen abflacht. Taubheit und eine Form depressiver Erschlaffung sind der Preis dafür, nicht mehr mit Gefühlen konfrontiert zu sein, die bedrohlich erscheinen.
Singles und Paare in der Coronakrise – und die anderen?
Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Auch wenn dieser Satz in der Bibel steht und damit vielleicht vielen Menschen suspekt ist: Aus meiner Perspektive ist er wahr. Menschen sind Bindungswesen. Wir kommen auf die Welt mit der Frage: „Wo bist Du?“ Bindung ist für das Kind ebenso wichtig wie Nahrung. Kein Säugetier braucht länger, um einigermaßen selbständig zu sein. Der Mensch ist die Spezies, die am längsten abhängig ist – von anderen Menschen. Zu glauben, dass dies ein zu überwindender Zustand sei, dass wir erst als autarke und unabhängige Wesen gereift seien, die Krone der Schöpfung sozusagen, ist nichts anderes als die Verwertungsglogik der Leistungsgesellschaft und sie schwächt uns.
Dieser Logik nach sollen wir glauben, dass wir unabhängig stark sind, und wenn wir andere brauchen, schwach. Das Gegenteil ist der Fall. Uns als Menschen einander zuzumuten und zu zeigen, ist mit das Kraftvollste und Magischste, was wir erleben können.
Es ist daher für mich unverständlich, warum die Kommunikation der Politik mit der Bevölkerung maximal empathielos ist. Eine der wenigen Ausnahmen ist ausgerechnet die Kanzlerin, die sonst nicht für überschwängliche Gefühläußerungen bekannt ist. Angela Merkel hat mehrfach erwähnt, dass auch ihr die Nähe fehlt und dass die Restriktionen uns viel abverlangen. Zuletzt hat sie eine regelrecht emotionale Rede im Parlament gehalten, um an die Vernunft der Menschen zu appellieren. Es war fühlbar, was die Situation auch mit ihr als Regierungschefin macht. Aber diese Momente sind selten.
Ansonsten gilt eher das Prinzip Markus Söder: Die vernünftigen Kinder werden gelobt, und die, die es nicht hinkriegen, getadelt. So geschieht Spaltung in der Bevölkerung statt Zustimmung. Dass Menschen feiern wollen, wird als Disziplinlosigkeit abgetan, anstatt das Bedürfnis der Menschen nach Gemeinschaft und Ekstase zu schätzen und ihm mit Mitgefühl zu begegnen. Dass es nicht für alle gleich schwer oder leicht ist, sich zurückzuziehen, wird kaum thematisiert. Und auch nicht, dass dies unter normalen Umständen nicht wünschenswert ist. Warum fühlen wir uns wie Versager, wenn es nicht gelingt? Oder denunzieren andere, es zu sein?
Allein das Gefühl zu versagen, hat das Potential, massenhaft Wut, Trauer oder eben Depressionen auszulösen. Warum gibt es nicht mehr Programme, Leitfäden oder Anlaufstellen, um zu klären und zu unterstützen, wie Menschen mit dieser Situation gemeinschaftlich umgehen sollen? Warum sind sämtliche Maßnahmen geschneidert für heterosexuelle Kleinfamilienmodelle mit Angestelltenbiografien? Wahlfamilien, die nicht in einem Haushalt leben, Menschen, die mehrere Menschen auf unterschiedliche Weise lieben, Singles, Menschen, die ihre sozialen Kontakte über kollektive Formen organisieren wie Sport, Tanz, Musik, politisches Engagement, in queeren Netzwerken, sie werden mehr und mehr unsichtbar. Der „Haushalt“ wird zur natürlichen Begrenzung des eigenen Kontaktspielraumes. Warum lautet die Losung, dass wir jetzt eben einfach durchhalten müssen, ohne zu hinterfragen, wie?
Ich bin überzeugt davon: Wir brauchen einander. Das Netzwerk ist die Organisationsform der Zukunft, der einzig sinnvolle Gegenentwurf zur kollektiven Gier, des Narzissmus und der Egomanie. Das Netzwerk weist auch über die Kleinfamilie und das monogame Paar hinaus – seine Wirkkraft ist größer. Was macht das mit den Communitys, wenn sie sich nicht treffen können?
Mut und Mitgefühl – wir brauchen einander
Wir brauchen gemeinschaftliche Strukturen, um Antworten auf diese Fragen zu finden. Es reicht nicht, sich in seine eigene Überlebensblase zurückzuziehen. Wir brauchen Räume, um uns auszutauschen, zu beruhigen und zu unterstützen.
Um nicht depressiv zu erschlaffen, wütend zu randalieren oder trotzig zu unterwandern, braucht es Kommunikation und Mitgefühl. Sprechen, Spazierengehen, Austauschen können Möglichkeiten sein. Aber auch jegliche Praxis, die uns in Flow versetzt, kann uns mit der Gemeinschaft verbinden. Musik machen, Singen, Tanzen, Meditieren, Beten, auch Malen, Schreiben, sogar Masturbieren sind Wege, Kontakt aufzunehmen mit dem Kollektiv. Sie können uns auch in Verbundenheit führen, wenn wir allein sind.
Und überhaupt: Körper. Den Körper nicht vernachlässigen, so wie auch der Gemeinschaftskörper nicht vergessen werden will. Gerade jetzt findet Kommunikation hauptsächlich am Bildschirm statt und zwischen den Ohren. Die Gemeinschaft wird abstrakt und so auch das eigene Empfinden. Die Gefühle sind aber im Körper; sie sind es, die verbinden. Das Gefühl, satt zu sein und genährt, inspiriert und neugierig, lustvoll und selbstbewusst oder ängstlich und taub: All das findet im Körper statt. Die Angst in meinem Körper ist auch eine Angst, die ich mit anderen Menschen teile. Meine Fähigkeit wiederum, mich zu beruhigen, mich unbedingt zu lieben und Mut zu finden, ist hilfreich nicht nur für mich – ich kann sie weitergeben.
Was ich hiermit tue. Die gute Botschaft ist: zusammen sind wir stärker als allein. Was klingt wie eine esoterische Platitüde, ist wahr: Nichts ist voneinander getrennt. Eine Gesellschaft ist verbunden wie durch ein Gewebe, die Faszien in einem Organismus. Lasst uns den Organismus gemeinsam beruhigen und mit Mut und Mitgefühl durch den Winter führen.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Bildredaktion: Till Rimmele