Zwei Porträts sind nebeneinander angeordnet, links eine Person in aufblasbarem Schutzanzug, rechts ein Paar, welches den Mund-Nasen-Schutz falsch trägt und mit den Worten „Maulkorb“ beschriftet hat.

© Rafael Heygster und Helena Lea Manhartsberger

Psyche und Gesundheit

Unsere neue surreale Realität

Die Fotograf:innen Rafael Heygster und Helena Lea Manhartsberger haben das Corona-Jahr in Bildern festgehalten, die in Erinnerung bleiben.

Profilbild von Fotoreportage von Helena Lea Manhartsberger, Rafael Heygster (Fotos) und Caroline Schmüser (Text)

Stell dir vor, es ist Januar 2020. Dein Zukunfts-Ich steht vor deiner Tür. In ein paar Monaten, so erzählt es dir, wirst du nur noch mit Maske in die Öffentlichkeit gehen. In den Supermärkten wird das Klopapier knapp, die Polizei wird patrouillieren, damit Menschen keine Grüppchen in den Parks bilden. Hättest du ihm geglaubt? Hättest du dir das alles vorstellen können?

Was heute beinahe normal ist, war im Januar noch undenkbar. Als die Pandemie begann, hat es sich angefühlt „wie ein surrealer Traum“, sagen Rafael Heyster und Helena Lea Manhartsberger.

Die beiden sind Fotograf:innen und studieren an der Hochschule Hannover. Für das Jahr 2020 hatten sie große Pläne: Heygster wollte in Jordanien an einer Geschichte arbeiten, Manhartsberger in Südamerika. Dann kam die Pandemie. „Wir trafen uns zu Spaziergängen, sprachen darüber, was um uns herum passiert – und wie wir damit umgehen können“, erzählt Heygster im Videointerview.

Zu diesem Zeitpunkt baut die Bundeswehr in Hannover ein Behelfskrankenhaus auf dem Messegelände auf. Bis zu 490 Covid-19-Patient:innen sollen hier Platz finden, wenn Krankenhäuser an ihre Grenzen stoßen. Es ist der erste Termin, den die Fotograf:innen für ihr Projekt „Corona Rhapsody“ wahrnehmen. Am 19. April, mitten im ersten Lockdown.

In den folgenden Monaten besuchen sie, mit zwei Blitzen und Stativen ausgestattet, Orte überall in der Bundesrepublik, von München bis nach Bremen, von Saarbrücken bis Dresden. Die Szenen, die sie fotografieren, zeigen die Spannungen im Corona-Alltag – zwischen den Maßnahmen, die der Staat ergreift, und den Menschen, die damit leben müssen.

Links: Soldatin Adriana Helfen trägt einen Schutzanzug. Rechts: Ilona W. und ihr Ehemann Andreas haben auf ihre Mundschutze "Maulkorb" geschrieben. Auf Ilona W.s T-Shirt steht "Weltfrieden".

Soldatin Adriana Helfen (links im Bild) erreicht ihren Arbeitsplatz, das Hochsicherheitslabor des Instituts für Mikrobiologie der Bundeswehr in München, nur durch mehrere Schleusen. Helfen und ihre Kolleg:innen erforschen dort seit Beginn der Pandemie das Coronavirus. Ihr Schutzanzug soll sie vor einer Infektion schützen.

Ob Ilona und ihr Ehemann Andreas Angst vor einer Ansteckung haben? Im April besuchen sie eine „Hygiene-Demo“ in Hannover, demonstrieren dort Seite an Seite mit Rechtsextremen und Verschwörungstheoretiker:innen. Die Bewegung sei mittlerweile viel radikaler, sagt Heygster. „Möglicherweise wussten die beiden damals nicht, worauf sie sich einlassen.“

Stadtverordnete bei einer Pressekonferenz in Heidelberg. Sie tragen Maske und halten Abstand zueinander.

Stadtverordnete bei einer Pressekonferenz im Patrick-Henry-Village in Heidelberg, dem Ankunftszentrum für Geflüchtete in Baden-Württemberg. Im Mai waren dort 800 Bewohner:innen in Quarantäne und 80 Soldat:innen im Einsatz. Uli Sckerl von den Grünen warf Innenminister Thomas Strobl (CDU) vor, die Bundeswehr habe „hoheitliche Aufgaben“ im Inneren übernommen – also die Geflüchteten bewacht. Das darf eigentlich nur die Polizei. Strobl und Oberleutnant Martin Schelleis widersprechen bei der Konferenz: Die Soldat:innen hätten Geflüchtete lediglich mit Handtüchern, Seife und Nahrung versorgt.

Junge Soldat:innen bei einer Übung im Behelfskrankenhaus Hannover. Zwei von ihnen liegen auf Betten und spielen Covid-Patient:innen, die anderen tragen Schutzanzug oder Bundeswehr-Uniform.

Im Minutentakt rasen Krankenwagen auf das Messegelände in Hannover, um Covid-Patient:innen aus überfüllten Krankenhäusern in das dortige Behelfskrankenhaus einzuliefern. Dieses Szenario ist – zum Glück – nicht real. Heygster und Manhartsberger fotografierten Medizinstudent:innen der Bundeswehr, die für diesen Katastrophenfall übten und Abläufe erarbeiteten. „Wir dachten, es ginge bei der Bundeswehr sehr diszipliniert zu, alles sei streng durchorganisiert“, erzählt Heygster. „Manchmal wirkte es aber eher wie ein Klassenausflug.“

Links: Portrait von Martin Schelleis, Generalleutnant der Bundeswehr und Inspekteur der Streitkräftebasis. Rechts: Portrait von Omar, Aktivist der Initiative "Together We are Bremen", die sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzt. Beide tragen Maske.

Martin Schelleis (links), Generalleutnant und Inspekteur der Streitkräftebasis, koordinierte die Corona-Amtshilfe der Bundeswehr. Omar (rechts) ist Sprecher der Initiative „Together We Are Bremen“. Er und andere Aktivist:innen kritisierten, dass in der Geflüchtetenunterkunft Lindenstraße im April 600 Bewohner:innen, darunter 150 Covid-Fälle, ohne ausreichende Hygienemaßnahmen in Quarantäne mussten.

Eine Familie sitzt in ihrem Auto. Die Tochter guckt mit einem Opernglas in der Hand aus dem Dachfenster.

Familie Hencke besucht einen Auftritt der Rockband „Fury in the Slaughterhouse“. Statt einer Menschenmasse stehen 1.200 Fahrzeuge auf dem Schützenplatz in Hannover. Statt Klatschen ertönen Hupen und blinken Autoscheinwerfer.

Auf einer Wiese sprechen zwei berittene Polizistinnen mit drei Jugendlichen. Einer von ihnen stützt seinen Fuß auf einem Ball ab.

Die drei Jungen spielten im Park friedlich Fußball, bis zwei berittene Polizistinnen sie nach Hause schicken. Heygster und Manhartsberger begleiteten die Polizistinnen bei einer Streife um den Maschsee in Hannover. Nur zwei Personen oder ein Haushalt dürfen sich zu diesem Zeitpunkt im Freien aufhalten. „Bis März 2020 wäre das für mich völlig unvorstellbar gewesen“, so Heygster.

Links: Ein Pegida-Demonstrant trägt einen Mundschutz mit Deutschlandfarben, hält eine Deutschlandfahne in der Hand und hat sich eine andere wie ein Cape umgelegt. Rechts: Eine Mutter sitzt mit ihren zwei Söhnen auf einem Bett, sie hält ein Baby im Arm.

Wie ein Krieger steht der Pegida-Demonstrant (links) da. Es ist der 20. April. Zum ersten Mal seit dem Lockdown ist in Dresden eine Kundgebung erlaubt, mit 15 Teilnehmer:innen. Familie Koćić (rechts) lebt zu fünft in einem kleinen Zimmer in der Geflüchtetenunterkunft Lindenstraße in Bremen. In diesem Abschnitt des Gebäudes reichen die Wände zwischen den Zimmern nicht einmal bis zur Decke. Auch deshalb kritisierten Aktivist:innen die Quarantänemaßnahmen.

Eine Gruppe Demonstrant:innen hält Schilder mit der Aufschrift "Black Lives Matter" und "I can't breath".

Trotz Pandemie: Als der 46-jährige US-Amerikaner George Floyd im Mai in Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota aufgrund von rassistischer Polizeigewalt stirbt, versammeln sich Menschen weltweit zu Protesten – wie hier im Juni in Hannover.

Eine Frau läuft durch einen Blumenladen. Sie trägt Maske, ihre Brille ist beschlagen. Sie berührt im Vorbeigehen eine Blume.

Die Brille von Yvonne beschlägt, als sie mit einem Mund-Nasen-Schutz durch einen Blumenladen in der Nähe von Berlin läuft. Es ist Mai, die Geschäfte haben erst seit Kurzem wieder offen. Was zu diesem Zeitpunkt neu ist: die Maskenpflicht in Läden.

Links: Ein Pfleger und ein Bewohner des Pflegeheims Ernst-Hoppe, der im Rollstuhl sitzt, stehen gemeinsam auf einer Wiese.Rechts: Ein Bett im Behelfskrankenhaus Hannover ist in Folie gewickelt.

Patrick Leader (rechts) und Siegfried Schorsch stehen auf einer Rasenfläche vor dem Pflegeheim Ernst-Hoppe-Haus in Berlin-Kladow. An diesem Tag im Mai spielt ein Heeresmusikkorps der Bundeswehr ein Konzert für die Bewohner:innen, als Teil der Amtshilfe.

Das Bett im Behelfskrankenhaus in Hannover ist noch immer in Folie gewickelt. Bisher kam noch keines der 490 Betten zum Einsatz.


Fotograf Rafael Heygster (l.) und Fotografin Helena Lea Manhartsberger (r.)

Fotograf Rafael Heygster (l.) und Fotografin Helena Lea Manhartsberger (r.)

Rafael Heygster, geboren 1990, und Helena Lea Manhartsberger, geboren 1987, lernten sich im Studium des Fotojournalismus in Hannover und Aarhus kennen. Als sie im Frühjahr wegen der Pandemie in Hannover festhingen, begannen sie ihre Arbeit „Corona Rhapsody“ – als Bewältigungsstrategie. Manhartsberger zog im Herbst 2020 nach Wien. Heygster fotografiert weiter für das Projekt, mit wechselnden Assistent:innen.

Dieser Artikel ist in Kooperation mit emerge entstanden. Emerge ist ein unabhängiges, mehrfach ausgezeichnetes Onlinemagazin für jungen Fotojournalismus. Mit dem Visual Journalism Grant vergibt emerge zudem eine jährliche Projektförderung für junge Fotograf:innen und bietet in der angeschlossenen Akademie Weiterbildungen im Bereich Bildredaktion an.


Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Till Rimmele