Vor ein paar Jahren, im Herbst 2012, bekam ich den wahrscheinlich wichtigsten Rat meines Lebens. Ich war damals nach einem Nervenzusammenbruch in eine depressive Episode abgerutscht und musste in eine psychiatrische Klinik. In der ersten Therapiesitzung erzählte ich der Stationspsychologin, wie mich ihr Kollege, der Chefarzt, in der Psychiatrie begrüßt hatte:
„Sie sind hier nicht im Urlaub, Herr Gommel.“ Das waren seine ersten Worte.
Ich hatte nicht geantwortet, wie auch. Ich war voller Beruhigungsmittel und zu sehr eingenommen von meiner Depression.
Als ich der Psychologin nun ein paar Tage später davon erzählte, wie wütend mich der Chefarzt gemacht hatte, wie hilflos ich mich fühlte, sagte sie mir diesen Satz, den ich mein Leben lang nicht mehr vergessen sollte: „Nutzen Sie die Wut, solange sie klein ist.“
Wut nutzen? Das war mir so fremd wie einem Nazi Shisha mit Mentholgeschmack. Ich war damals ein gläubiger Christ. Glaube, Liebe, Hoffnung waren meine Ideale. Wut? Eher der Antichrist.
Ich glaubte nicht daran, dass Wut irgendetwas Gutes tun könne. Ich glaubte, dass man Anflüge von Wut unterdrücken müsse. Vor allem glaubte ich, dass ich gar nicht wütend war. Ich war schließlich depressiv. Ich war müde. Mein Problem war, dass Wut eine viel größere Rolle in meinem Leben spielte, als ich es mir selbst eingestehen wollte.
Auf Familienfeiern machte mich ein verwandter Nazi wütend
Ich führte damals einen Krieg gegen meine eigene Wut. Und gegen einen Verwandten, nennen wir ihn Nazi-Dieter, genauer möchte ich es nicht machen. Nazi-Dieter war, genau, ein Nazi: Antisemitismus, Hitlerverehrung, Euthanasie-Gelaber, alles dabei. Ich sah ihn auf jeder Geburtstagsfeier, jeder Hochzeit, jeder Beerdigung. Und es gab damals viele Geburtstagsfeiern, Hochzeiten und Beerdigungen in meinem Leben.
Und so kam es, dass ich mich in zahllosen Streits bei Kaffee und Kuchen wiederfand. Ich ging keiner Diskussion aus dem Weg. Dieter genoss die Aufmerksamkeit und wurde immer radikaler. Als ich nach ein paar Monaten die Strategie änderte und ihm dann doch aus dem Weg ging, verfolgte er mich mit judenfeindlichen Späßen, wo er nur konnte. Ich sehnte mich nur nach Rückzug. Weg von dem ganzen Familienscheiß. Ich reduzierte die Familienfeiern auf die Hälfte, aber ich führte die Diskussionen mit Dieter weiter.
Und zwar in meinem Kopf.
Stundenlang grübelte und grübelte ich, überlegte, wie ich ihm widersprechen könnte, was ich noch nicht gesagt hatte, und wie ich ihn endlich vor allen Verwandten zerlegen konnte. Dieter lebte vor meinem inneren Auge, er war in meinen Kopf eingezogen. Ich hörte seine Stimme, ich sah seine fiese Fresse (Verzeihung).
Aber, was heißt hier „Verzeihung“!? Wofür denn? Was für eine Wut ich hatte!
Ich dachte, dass meine Wut nicht gerechtfertigt ist und wurde depressiv
Damals kämpfte ich gegen diese Wut. Ich wollte kein wütender Mensch sein. In meinem Kopf lief immer wieder ein Reflex ab, der so sehr zu mir gehörte, dass ich ihn nicht als Reflex erkannte: Meine Emotion ist nicht gerechtfertigt, sagte ich mir. Das geht so nicht. Ich bin zu emotional. Ich darf so nicht sein.
Und so wurde ich wütend über meine Wut. Ich tat das, was der Neurowissenschaftler Robert Sapolsky als Merkmal einer Depression beschreibt: Ich richtete meine Aggression nach innen – nichts anderes ist eine Depression. Wut, die nicht nach außen, sondern nach innen, gegen das eigene Selbst gerichtet ist. Sie kann zerstörerische Züge bekommen und ihren Gipfel im Suizid finden.
Diese im Inneren geführten Konflikte machten mich sehr, sehr müde, denn sie waren furchtbar anstrengend. Ich wollte nur noch schlafen. Ich kam nicht mehr aus dem Bett und an manchen Tagen wollte ich nicht mal aufstehen. Ich fühlte mich krank, doch ich hatte keine Erkältung, keinen Magendarminfekt, kein Fieber, nichts.
Meinen einzigen Trost fand ich im Essen. Nach ein paar Monaten wog ich 130 Kilogramm. Alles war kaputt, mein Innerstes und auch mein Körper.
Wut lässt sich nicht einfach so aufhalten
Und dann hörte ich diese Worte: „Nutzen Sie die Wut.“ Sie halfen mir, in einem jahrelangen Prozess mit meiner Familie, mit Dieter, mit meiner Autoaggression zu brechen. Es kostete mich eine Beziehung, ich enttäuschte viele Menschen. Aaaaaaber.
Aber. Ich hatte meine Wut genutzt. Klein war sie schon lange nicht mehr, doch ich brach damit aus meinen eigenen Gewohnheiten aus – und das fühlte sich sehr, sehr gut an. Auf einmal konnte ich wieder durchatmen. Ich verlor Gewicht. Ich fühlte so etwas wie innere Zufriedenheit.
Ich kenne heute den Wert von Wut. Aber: Kennt ihn die Gesellschaft auch? Neulich diskutierten wir in der Redaktionskonferenz von KR. Es ging um wütende junge Männer, Wutbürger, toxische Männlichkeit. Wann immer von Wut die Rede war, war es etwas Negatives.
Was ich mich frage, ist, wie es überhaupt soweit kommen konnte, dass Wut als eine explizit negative Emotion angesehen wird – und weshalb rational-nüchternes Denken in unserer westlichen Welt so hoch angesehen ist.
Der Körper brennt ein Feuerwerk ab, wenn wir wütend sind. Barbara Lich beschreibt es in einem Text in der Zeitschrift Geo so:
„Wir ziehen die Augenbrauen zusammen, die Pupillen weiten sich. Wut versetzt den Körper in Alarmbereitschaft, er schüttet die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin aus. Der Blutdruck steigt, und auch der Puls klettert in die Höhe.
Ein Teil des limbischen Systems sind die Amygdala. Sie sind mit dem Thalamus vernetzt, einem ‚Informationsvermittler‘, mit der Großhirnrinde, die unsere Sinneswahrnehmungen verarbeitet, und mit dem Hypothalamus, der unsere Atmung, den Kreislauf und die Temperatur regelt. Normalerweise hat die Großhirnrinde den Job, die Amygdala in Schach zu halten, damit wir bedacht handeln.
Schleudert uns jemand eine Kränkung an den Kopf, gelangt die Information über Augen und Ohren zunächst an den Thalamus, der sie an die Amygdala und an die Großhirnrinde weiterfunkt. Entscheiden die Amygdala, dass es sich bei der Kränkung um eine üble Angelegenheit handelt, hat die Großhirnrinde keine Chance, sie zu stoppen: Die Amygdala sind schneller. Sie aktivieren den Hypothalamus, der den Körper in Alarmbereitschaft versetzt. Und peng – WIR FAHREN AUS DER HAUT!“
Krass, oder? Da passieren Dinge in unserem Körper, die wir überhaupt nicht mitbekommen und dann entscheiden die Amygdala im Kopf, ob wir wütend werden, oder nicht. Okay, okay.
Für mich bedeutet das: Das kannst du nicht aufhalten. Wenn du wütend wirst, dann wirst du wütend und nichts und niemand kann daran etwas ändern. Ändern kann ich aber, wie ich damit umgehe, wenn ich Wut spüre. Versuche ich, sie zu unterdrücken und verbiete mir es, sie zu fühlen?
Wut bringt Ungerechtigkeit ans Tageslicht und macht Veränderung möglich
Eine positive Eigenschaft, die ich schätze, ist: Wut macht handlungsfähig. Und das beste Beispiel dafür ist Rudy Giuliani.
Ich weiß, was ihr jetzt denkt: Jetzt versucht der Gommel eine Verteidigung der Wut und nimmt ausgerechnet Rudy Giuliani als Beispiel!? Jaja, Giuliani ist mittlerweile der verrückte Privatanwalt von Donald Trump, aber seine Karriere hat groß begonnen. Dafür zitiere ich noch einmal den Onkel Professor, Herrn Sapolsky, der in seinem Buch „Gewalt und Mitgefühl“ schreibt:
„Nehmen Sie Rudy Giuliani, der in Brooklyn in einer italoamerikanischen Enklave aufwuchs, die vom organisierten Verbrechen beherrscht wurde (Giulianis Vater saß eine zeitlang wegen bewaffneten Raubüberfalls im Gefängnis und arbeitete dann für seinen Schwager, einen Kredithai der Mafia). Zu nationalem Ruhm brachte Giuliani es 1985, als er die Anklage gegen die ‚fünf Familien‘ im Mafia Commission Trial (Mafiakommissionsprozess) vertrat und sie im Grunde zerschlug. Er war wild entschlossen, das Vorurteil, welches ‚Italoamerikaner‘ mit organisierter Kriminalität gleichsetzt, zu entkräften. Zu seiner Leistung sagte er: „Wenn das nicht genügt, das Mafia-Vorurteil loszuwerden, dann gibt es wahrscheinlich kein Mittel, um es zu überwinden.“ Wenn Sie einen Staatsanwalt suchen, der den Mafiosi die Hölle heiß macht, dann suchen Sie sich einen stolzen Italoamerikaner, der über die Vorurteile, die er der Mafia verdankt, außer sich ist vor Wut.“
Da haben wir es. Wut bringt Ungerechtigkeit ans Tageslicht. Wut befähigt sogar Anwälte dazu, der Mafia die Hölle heißzumachen.
Wut hat also das Potential, Grundlegendes zu verändern, was wir auch an den Fridays-For-Future-Demos beobachten können: Greta Thunberg zeigt, neben vielen Emotionen wie Entschlossenheit und Klarheit in ihren Ansprachen insbesondere das: Wut. Und die ist ansteckend, vielleicht so ansteckend, dass sie Millionen von Menschen auf die Straße bringt. Pardon, Millionen von Kindern.
Meine These ist, dass ohne Wut keine Veränderung möglich ist. Denn, wenn uns nichts auf die Palme bringt, wenn wir jeden Dreck mit einer Achtsamkeits-App wegmeditieren oder unsere Wut verdrängen, dann ist vielleicht alles superlockereasy, zumindest oberflächlich – aber wir sind innerlich tot. Hurra!
Wir sollten Kindern nicht verbieten, wütend zu sein
Deshalb ist meine abschließende Bitte an Eltern gerichtet: Bitte hört auf, euren Kindern Wut abzutrainieren. Hört auf, sie zu tadeln, wenn sie rote Backen bekommen, laut werden oder ihrer Unzufriedenheit Luft machen. Verwerft das konservative Ideal, dass Kinder immer still und artig sein müssen.
Lasst ab von der Idee, dass Kinder noch nicht wissen, was ihnen (nicht) guttut, dass sie immer anständige Wörter benutzen sollen, wenn ihnen etwas nicht passt. Diese Haltung euren Kindern gegenüber ist toxisch, denn sie gibt ihnen das Gefühl, dass sie nur dann liebenswert sind, wenn sie nicht sauer, nicht genervt und nicht wütend sind.
Wenn Kinder früh genug verstehen lernen, dass sie Wut nutzen können, solange sie klein ist, dann bekommen sie einen guten Zugang zu sich selbst und schaffen es wahrscheinlich auch besser, konkret für sich einzustehen und anderen Menschen Grenzen zu setzen. Ist das nicht erstrebenswert?
Gleichzeitig müssen sie hören, dass Wut auch unkontrollierbar wird, wenn sie unbeachtet zu groß wird. Dann ist es beinahe unmöglich, sie zu nutzen, denn dann kann sie zerstörerisch sein. Dann kann sie in Gewalt münden und Menschen verletzen oder gefährden. Daran ist überhaupt nichts erstrebenswert.
Heute hat Wut in meinem Leben einen wichtigen Platz eingenommen. Ich spreche in Beziehungen und Freundschaften früher aus, wenn mich etwas ärgert und warte nicht mehr tagelang. Ich mache klar, wenn meine Grenzen überschritten wurden. Das ist heilsam für mich selbst, weil ich dadurch meinen Ärger nicht nach innen richte und weil ich erlebe, dass Menschen auf mich reagieren – in vielen Fällen sogar sehr verständnisvoll. Wut hilft mir beim Schreiben. Wenn ich mit der Faust in der Tasche schreibe, sind meine Texte besser.
Bei der nächsten Visite des Chefarztes der Psychiatrie hatte ich meine Lektion gelernt und dachte: „Von dir lass ich mir gar nichts sagen.“ Als ich dem feinen Herrn die Hand gab, reagierte er anders, als ich erwartet hatte: „Herr Gommel, sie sehen heute aber gut aus!“
Seitdem lässt mich ein Gedanke nicht los. Womöglich hat mich der Mann absichtlich provoziert, um mich aus meiner Depression zu pushen. Vielleicht war er ein Arschloch. Vielleicht aber ein Genie.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele