Ich war elf Jahre alt, als ich einen Streit mit meinem Religionslehrer hatte. Es ging um die Rolle der Frau in der katholischen Kirche. Ich wusste zwar noch nicht, was Feminismus ist, aber ich war ziemlich wütend darüber, dass Frauen in der katholischen Kirche benachteiligt werden. Wegen des Streits wechselte ich zuerst in den evangelischen Religionsunterricht und später in den Ethikkurs. Mein Protestwechsel löste das Problem natürlich nicht, Frauen können immer noch keine Priesterinnen werden und der Streit ist nun auch schon 20 Jahre her. Wütend bin ich aber immer noch. Wir leben im Jahr 2020 und wir Frauen haben täglich tausende Gründe wütend zu sein.
Zum Beispiel darüber, dass mein Einstieg in den Text – über meine Wut zu schreiben – es sehr viel wahrscheinlicher macht, dass ihr Leser:innen mich als weniger kompetent wahrnehmt. Denn während Wut Männer kompetenter erscheinen lässt, gilt für Frauen das glatte Gegenteil.
Frauen können aber auch darüber wütend sein, was gerade in der Corona-Pandemie passiert – wenn sie denn dafür noch Zeit und Energie aufbringen können. Anders als zu Beginn der Pandemie behauptet, ist sie kein „großer Gleichmacher“, nein, sie wirft Frauen um Jahrzehnte zurück. Das aber ist kein breit diskutiertes Thema, obwohl es 50 Prozent der Bevölkerung betrifft. Die Artikel und Berichte dazu muss man schon finden wollen, um sie zu entdecken.
Schon vor der Corona-Krise verdienten Frauen in Deutschland weniger als Männer, waren häufiger von Altersarmut betroffen und kümmerten sich um einen Großteil der unbezahlten Care-Arbeit im Haushalt, der Pflege oder der Kinderbetreuung. Bei 34-Jährigen ist der Unterschied besonders groß: Eine Frau in diesem Alter verbringt im Schnitt knapp 19 Stunden und 30 Minuten pro Woche mehr Zeit mit Kochen, Putzen, Einkaufen, Wäsche waschen, Angehörige pflegen, Kinder betreuen usw. als ein Mann im gleichen Alter. Das entspricht einer unbezahlten Halbtagsstelle. Diese Ungleichheiten haben sich in der Pandemie weiter verstärkt, traditionelle Geschlechterrollen erleben ein Comeback.
Im Homeoffice haben Frauen endlich Zeit – sich noch mehr um die Kinder zu kümmern
Nun könnten wir hoffen, dass flexiblere Arbeitszeiten und Homeoffice zu einer gerechteren Aufteilung der Care-Arbeit führen könnten. Doch schon im vergangenen Jahr haben Wissenschaftler:innen der Hans-Böckler-Stiftung festgestellt, dass die Arbeit im Homeoffice die ungleiche Aufteilung von Care-Arbeit sogar verstärkt: Während Mütter im Homeoffice mehr Zeit mit Kinderbetreuung verbrachten, blieb die Kinderbetreuungszeit von Vätern gleich gering – ganz egal, ob im Homeoffice oder nicht. Flexiblere Arbeitszeiten im Homeoffice führten bei Müttern zu noch mehr Zeit mit den Kindern, bei Vätern hingegen ließen flexible Arbeitszeiten die wöchentliche Kinderbetreuungszeit sogar noch weiter sinken.
Laut des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hat die Kinderbetreuungszeit von Vätern während des Lockdowns überproportional stark zugenommen. Doch meine Illustration zeigt: Die Hauptlast der Kindergarten- und Schulschließungen tragen die Frauen. Hinzu kommt: In neun von zehn Fällen sind erwerbstätige Alleinerziehende in Deutschland Frauen.
Mein Kollege Bent Freiwald schreibt über die aktuellen Überlegungen zu möglichen Schulschließungen: „Wer selbst Kinder hat, weiß ganz genau, dass Eltern einen großen Teil der Last der ersten Welle getragen haben. Indem sie ihre Kinder zuhause während der Arbeit betreut und beim Lernen begleitet haben.“ Ich füge hinzu: Die größte Last trugen – mal wieder – primär Frauen.
Das macht auch die zweite Illustration deutlich: Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung reduzierten über ein Viertel der befragten Frauen mit Kindern bis zu 14 Jahren, aber nur ein Sechstel der befragten Männer, wegen der Betreuungssituation ihre Arbeitszeit. Frauen in ärmeren Haushalten reduzierten ihre Arbeitszeit besonders häufig, um auf ihre Kinder aufpassen zu können. Ist auch schnell erklärt, warum das so ist: Schlecht bezahlte Jobs sind oft Jobs, die nicht von zu Hause aus erledigt werden können.
Was soll man tun
Solange Frauen weniger verdienen als Männer, werden sie auch zukünftig in Krisen als erste ihre Arbeitszeit reduzieren (müssen). Das ist eine einfache Rechnung. Wenn der Mann mehr verdient als die Frau, steht das Paar vor einer Wahl: Entweder Gleichberechtigung oder mehr Geld in der Familienkasse. Dass diese Wahl zugunsten des Geldes und damit der Männer ausfällt? Wer kann das ernsthaft den Paaren vorwerfen?
Deshalb kann es zwar ein guter erster Schritt sein (auf jeden Fall ist es kein falscher!), wenn sich Paare und Menschen mit Betreuungsaufgaben darüber austauschen, wie sie sich die in der Krise anfallende Mehrfachbelastung aufteilen und gegenseitig unterstützen können. Aber es reicht schlicht nicht. Frauen müssen mehr verdienen.
Aber es ist nicht nur der finanzielle Druck, der Paare zu längst überholt gehofften Mustern zwingt. Es geht auch um Erwartungshaltungen und Gewohnheiten. Wenn alles effizient und möglichst schnell erledigt sein muss, wem gehen die Dinge leichter von der Hand? Wer hat die Einkaufsliste sowieso im Kopf, kennt die Arzttermine der Kinder auswendig und ist gewohnt, gleichzeitig zu kochen, bei den Hausaufgaben zu helfen und im Kopf die Mail an die Kollegin zu formulieren, die unbedingt noch heute geschrieben werden muss?
Was also für viele Paare eine manchmal pragmatische und aus finanziellen Gründen notwendige Entscheidung sein mag, hat für unsere Gesellschaft fatale Folgen: Kinder lernen heute, wie sie Geschlechterverhältnisse in den nächsten Jahrzehnten gestalten werden und welche Rollen die Gesellschaft für sie bereithält. Ohnehin schon seltene Vorbilder weiblicher Führungskräfte werden noch seltener. Die bestehende Lohnlücke wird größer werden, die Altersarmut von Frauen wird weiter steigen. In Beziehungen schleifen sich Muster ein. Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung Jutta Allmendinger schätzt, dass uns die Corona-Krise in Sachen Gleichberechtigung um 30 Jahre zurückwerfen könnte.
Der Hauch von Aufmerksamkeit ist längst wieder verflogen
Das Argument, dass die Krise offenlege, wo es in unserer Gesellschaft hakt und die Corona-Krise damit zu einem gesellschaftlichen Bewusstseinswandel beitragen könnte, empfinde ich bisweilen als hämisch. Erstens, weil es auch schon vor der Corona-Pandemie massenweise Menschen gab, die sich täglich gegen Diskriminierungen und gesellschaftliche Ungerechtigkeiten wehrten und einsetzten. Zweitens, weil der Hauch von Aufmerksamkeit, den es zu Beginn der Pandemie zum Beispiel für die schlechte gesellschaftliche Stellung und miserable Bezahlung von Menschen in Pflegeberufen gab, auch ziemlich schnell wieder abgeflaut ist. Und drittens, weil diese Diskussionen nicht in ernstzunehmenden politischen Maßnahmen mündeten.
Frauen werden in den politischen Maßnahmenpaketen nicht berücksichtigt. Stattdessen werden „One-fits-all“-Maßnahmen verabschiedet, die – Beispiel Kinderbonus von einmalig 300 Euro – für diejenigen, die nicht darauf angewiesen sind, ein netter Bonus on top sind, aber für diejenigen, die wirklich auf Unterstützung angewiesen sind, noch nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein.
Corona erinnert uns daran: Geschichte verläuft nicht linear, es wird nicht von allein immer besser. Manchmal braucht man Wut, manchmal muss man auch aus Protest das Schulfach wechseln, aber alles nützt nichts, wenn wir nicht erstmal die Probleme beim Namen nennen. Ein erster Schritt vielleicht: Zeigt diesen Artikel mal euren Ehepartnern, Lebensgefährten und vor allem euren Abgeordneten. Gesellschaftliche Veränderung beginnt in der Küche, aber wird im Bundestag vollendet.
Illustrationen: Lena Deser, Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke