Brauner Lebkuchenmann mit schützender Gesichtsmaske allein isoliert auf rotem Hintergrund.

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Psyche und Gesundheit

Was kommt nach dem Wellenbrecher-Shutdown?

Vermutlich der nächste. Dabei ginge es auch anders.

Profilbild von Silke Jäger
Reporterin für Kopf und Körper

Im Frühjahr haben wir gelernt: Wenn viele zu Hause bleiben, kann sich das Virus nicht mehr gut ausbreiten. Der Effekt dieser Maßnahme war sogar so beeindruckend, dass viele schon dachten, die Pandemie sei damit geschafft. Kontakteinschränkungen bringen die Zahlen runter, das haben wir uns gemerkt.

Doch eine andere Lehre haben wir aus dieser Erfahrung nicht gezogen: Kontakteinschränkungen können nur das letzte Mittel sein. Was muss eigentlich passieren, damit sie nicht nötig werden? In der Pressekonferenz des Robert-Koch-Instituts am 12. November wurde diese Frage auch gestellt. Lothar Wieler, der Chef des Instituts, antwortete darauf sinngemäß: Die Zahlen müssen niedrig bleiben. Doch wie genau schaffen wir das?

Ich bin dafür, dass wir uns nicht hilfloser machen, als wir sind. Lasst uns das tun, was einfach geht und nicht viel kostet: Maske auf!

Shutdowns sind eine Panikreaktion

Das Perfide an diesem Virus ist, dass es viele Dinge kann, die sich auf den ersten Blick widersprechen.

Es ist im Durchschnitt in der besonders gefährdeten Altersgruppe der über 60-Jährigen zehn- bis zwanzigmal tödlicher als die Grippe, während es für 80 Prozent der Infizierten offenbar keine akute Gefahr darstellt (welche Gefahr langfristig besteht, lässt sich noch nicht gut abschätzen). Es verbreitet sich am liebsten in Clustern, während sich gleichzeitig jede:r anstecken kann. Es kann viele Menschen gleichzeitig schwer krank machen, aber noch mehr Menschen bemerken gar nicht, dass sie angesteckt sind, nämlich jede:r dritte bis vierte Infizierte.

Noch dazu kommt, dass schwer zu erkennen ist, ob wir die Gefahr überschätzen, weil Corona so genau beobachtet wird, wie keine andere Infektionskrankheit, oder ob wir sie gerade unterschätzen. Denn alle Anstrengungen beim Messen helfen uns trotzdem nicht, um ausreichend zu verstehen, wie viele Menschen in Wirklichkeit gerade infektiös sind und das Virus unbemerkt weitertragen. Schwierig!

Vielleicht ist unsere Situation vergleichbar mit der Lawinenprävention. Die Beobachtung, dass ein Schneeball den Berg runterrollt, hilft nicht viel dabei, vorauszusagen, was als Nächstes passiert. Wann ist der Zeitpunkt erreicht, an dem der Schneeball zu schnell und zu groß geworden ist, um ihn noch mit bloßen Händen aufzuhalten? Hilft es, noch schnell einen Bremsklotz in den Weg zu schieben, bevor es zu spät ist? Die Angst, dass die Bremse zu klein sein könnte oder zu weit unten am Berg steht und das Tal vor der Lawine nicht mehr schützen kann, sitzt tief. Weil die Messinstrumente erst zeitverzögert anzeigen, was die Barriere bewirkt hat.

Es stimmt: Teile der Gesellschaft lahmzulegen, ist irgendwann das einzige, was bei diesem Virus noch bleibt, wenn man sichergehen will, dass alle Menschen, die medizinische Behandlung bekommen, die sie brauchen. Das gilt selbst dann, wenn es vergleichsweise viele Intensivbetten gibt. Denn ob es genügend Fachkräfte gibt, wenn der Bedarf steigt, lässt sich viel schwerer abschätzen. Keine:r weiß, wie stark medizinische Fachkräfte für die Versorgung von Covid-Patient:innen eingespannt werden, wie viele dann für die anderen Patient:innen fehlen, wie viele selbst krank werden, wie viele dann Behandlung brauchen oder sogar an dem Virus sterben, das sie professionell zu bekämpfen versuchen. Und keiner weiß, wann welches dieser Szenarien eintreten könnte.

Es stimmt aber auch: Mit dem Mittel der letzten Wahl muss man sparsam umgehen. Auch dann, wenn es „nur“ ein Wellenbrecher-Shutdown ist. Denn hier sind die Nebenwirkungen auch nicht ohne. Deshalb ist die Frage wichtig: Was machen wir eigentlich, wenn der November vorbei ist und das Ziel nicht erreicht ist, die 7-Tages-Inzidenz für Deutschland wieder auf 50 zu drücken? Außerdem wissen wir nicht, ob es überhaupt genügend Bremsklötze für alle Lawinen gibt, die noch kommen? Und wollen wir wirklich jedes Mal auf den letzten Drücker noch panisch irgendwas tun, was zwar hilft, aber auch schadet?

Zu Shutdowns gibt es Alternativen

„Nur noch bis zum Impfstoff durchhalten!“, denken bestimmt viele. Aber ich fürchte, dieses Denken bringt uns erst recht in Schwierigkeiten. Es gibt zwar gute Neuigkeiten – der von den Firmen Biontech und Pfizer gemeinsam entwickelte Impfstoff soll nach Herstellerangaben in 90 Prozent der Geimpften wirken –, aber bis genügend Menschen geimpft sind, wird es noch dauern. Und wie viel Schutz er überhaupt bietet, weiß im Moment auch niemand. Wäre es jetzt nicht viel besser, das zu tun, was uns Menschen zu einer so erfolgreichen Spezies macht: sich anpassen?

Sich an die Situation anzupassen, heißt, aufzuhören, das Virus zu unterschätzen. Es hat schon gezeigt, dass es in der Lage ist, alles zu verändern, wenn wir es einfach gewähren lassen. Sich anzupassen an eine neue Realität ist allerdings nicht leicht – für niemanden.

Beispiel Maske: Ich habe an mir beobachtet, dass ich mich damit umso leichter arrangieren kann, je mehr ich daran glaube, dass sie sinnvoll ist. Ich will damit nicht sagen, dass du blind an die Wirksamkeit eines Stück Stoffs glauben sollst. Ich habe aber gemerkt, dass Verstehen allein nicht reicht. Mir ist schon lange klar, dass es das Virus umso schwerer hat, je mehr Leute Masken tragen. Die rationale Entscheidung, eine zu tragen fiel mir leicht – da, wo ich muss und da, wo das Risiko einer Ansteckung relativ hoch ist. Aber das allein hat mir nicht geholfen, es auch wirklich ohne innere Diskussion zu tun.

Erst, seitdem mein Landkreis eine 7-Tages-Inzidenz von über 50 hat (aktuell 220), glaube ich auch wirklich dran, dass Maskentragen einen Unterschied machen wird. Jetzt ist mir das Virus ziemlich nah gekommen, drei meiner Verwandten hat es erwischt, bei einem wissen wir es noch nicht genau. Jetzt kann ich den Unterschied zusätzlich fühlen. Ich trage die Maske nicht mehr nur, weil es vernünftiger ist. Ich trage sie, weil ich spüre, dass ich Teil einer Gemeinschaft bin, die ich mit meiner Maske schützen kann.

Maske statt Shutdown

Die Politik hat den Shutdown mit einer Zahl begründet: Laut einer Modellrechnung der wichtigsten Wissenschaftsgesellschaften müssen Kontakte auf ein Viertel reduziert werden. Das soll zwei Dinge bewirken: Das Virus soll sich so weniger schnell ausbreiten, und die Kurve der Neuinfektionen soll wieder flacher werden.

Die Politik versucht es, indem sie Restaurants, Bars und Fitnessstudios schließen lässt. Was mich in der Bund-Länder-Pressekonferenz schon wunderte: Warum vergisst sie, zwei Worte zu erwähnen, die die Wissenschaftler:innen in ihre Empfehlung geschrieben hatten: „Es sei notwendig, Kontakte ohne Vorsichtsmaßnahmen auf ein Viertel zu reduzieren und dies in allen Bundesländern sowie in allen Landkreisen und Städten nach bundesweit einheitlichen Regeln durchzuführen.“

Kontakte unter Vorsichtsmaßnahmen sind auch in einer Pandemie möglich. Dazu ist wichtig, dass alle verstehen, was Vorsichtsmaßnahmen sind und sie dann auch mittragen.

Außerdem müsste jedem klar werden, dass es wichtig ist, auch dann vorsichtig zu sein, wenn die Zahlen niedrig sind. Nur so kann es überhaupt gelingen, dass wir auch noch in drei Monaten mehr von den Sachen machen können, auf die das Verzichten so schwerfällt, zum Beispiel ins Kino gehen. Auch, wenn es sich nicht so anhört: Das ist eine gute Nachricht! Denn es bedeutet, dass wir gar nicht wählen müssen zwischen Normalität und Totalverzicht. Wir haben mehr alte Normalität, wenn wir uns an die neue Realität anpassen.

Mir hilft im Alltag folgende Rechnung: Ich frage mich, mit welchen Menschen möchte ich zusammen sein, ohne eine Maske tragen und Abstand halten zu müssen? Das sind alle, mit denen ich zusammen wohne: drei. Das entspricht ungefähr einem Viertel meiner normalen Alltagskontakte. Wenn du alleine wohnst, kannst du dich auch mit drei bis vier Menschen absprechen. Alle anderen treffe ich nur noch mit Vorsichtsmaßnahmen: Corona-Warn-App, Maske, Händewaschen, Abstand, Lüften. Und wenn ich irgendwo bin, wo viele Menschen zusammen sind: erst recht.

#Maskeauf – für mehr alte Normalität!

Warum, so frage ich mich, wird diese Botschaft nicht mit allen Mitteln verbreitet?

Klar, es wird sich fremd anfühlen – anfangs. Aber ich bin mir sicher: Es wird sich lohnen, durchzuhalten. Shutdowns sind in jedem Fall schlimmer. Das Ziel ist nun mal: Zahlen niedrig halten. Wenn wir das schaffen, haben wir alle viel mehr Bewegungsfreiheit und verlieren weniger Menschen an das Virus.

Vielleicht kommt es dann gar nicht zum nächsten Wellenbrecher-Shutdown. Dazu wäre es wohl wichtig, nicht mehr so viel zu streiten. Die Diskussionen darum, wie viel Masken eigentlich bringen, der Hang der Politiker:innen zu verwirrenden Maßnahmen und unsinnigen Reisebeschränkungen – ja, selbst das Lamentieren über die fragwürdige Teststrategie, die unperfekte Kontaktnachverfolgung und die fehlenden Studien: Wir sollten ihn zurückstellen. Dann fällt das Konzentrieren auf die wesentlichen Dinge leichter: Zusammen verhindern, dass ein weiterer Shutdown nötig wird. Statt zu überlegen, ob noch genügend Bremsklötze da sind, können wir versuchen, den Schneeball gar nicht erst losrollen zu lassen.


Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele