Vergangenen Sonntag saß ich vor meinem Lieblingscafé für einen letzten Kaffee vor dem Shutdown. Die Straße war romantisch mit Blättern in herbstlichen Farben bedeckt. Ich hatte einen warmen Mantel und ein gutes Buch dabei. Alles hätte hygge sein können wie ein frischgedruckter Ikea-Katalog. Ich aber schrieb überflüssige To-Do-Listen und kam einfach nicht zur Ruhe. Gleichzeitig war ich todmüde und fühlte mich nach einem Nickerchen bis 2021.
Mittlerweile habe ich einen Namen für diesen Zustand: Ich nenne es Corona-Erschöpfung. Damit meine ich nicht das, was manche Menschen erleben, die Covid-19 hatten und die über Monate nicht gesund werden, wie meine Kollegin Silke Jäger beschrieben hat. Sondern einfach ein Gefühl latenter, genereller Fertigkeit in diesen Zeiten, das anders ist als nur das übliche Novembertief. Das emotionale Äquivalent eines ausgewrungenen Küchenlappens.
Wir müssen über dieses Gefühl reden. Denn ich habe KR-Leser:innen in einer Umfrage gefragt, ob sie auch diese Erschöpfung spüren. Innerhalb von 24 Stunden kamen mehr als 700 Antworten. Diesen Rücklauf hätte ich nie erwartet. Es ist klar, dass meine Frage einen Nerv getroffen hat.
Hier ein paar Zahlen aus meiner Umfrage: Die Teilnehmer:innen konnten auf einer Skala von 1 bis 10 angeben, wie erschöpft sie sich gerade fühlen. Zwei Drittel gaben einen Wert von 7 bis 10 an. Nur 77 fühlten sich gar nicht (1) oder kaum erschöpft (2).
Was jetzt anders ist als im Frühling
Erinnert sich noch jemand an die Stimmung beim ersten Shutdown im Frühling? Das ganze Land schien die Luft anzuhalten, die Emotionen waren reißend gespannt und alle starrten auf die Zahlen in den Nachrichten. Die Menschen hatten Angst und waren wütend, aber sie sangen und klatschten auch auf den Balkonen, gründeten Nachbarschaftshilfen und Einkaufsgemeinschaften für Risikogruppen. Von Müdigkeit konnte in dieser Zeit keine Rede sein. Das ist jetzt anders.
KR-Leserin Katrin kommentierte meine Frage so: „Vor uns liegt ein Marathon, und wir haben anfangs wie in einem Sprint gehandelt. Jetzt sind die Batterien leer. Es hat dazwischen alles so viel Kraft gekostet. Die Akkus waren noch voll, entsprechend der Ausblick mit: ‚Wir machen das, so gut es geht. Finden neue Ideen, wie wir die Zeit gestalten.‘ Jetzt sind die Akkus leer und wir wissen, was auf uns zukommt.“
Bevor ich genauer auf die Antworten eingehe (gelesen habe ich sie fast alle, manche kamen erst, nachdem ich mit diesem Artikel fertig war): Was ich herausgefunden habe, ist in keiner Weise repräsentativ. Es ist ein Ausschnitt, ein Puzzleteil in der Antwort auf die Frage, wie es uns im November 2020 in Deutschland geht. Mir haben diese Antworten geholfen, besser zu verstehen, was dieser eigenartige Zustand aus Anspannung und Erschöpfung ist, den ich bei mir und vielen anderen beobachte. Ich habe Hinweise darauf bekommen, welche Gründe es dafür geben könnte. Und ich habe eine Idee für eine Lösung gefunden: Für etwas, das uns in dieser Situation helfen kann.
„Mein Gehirn funktioniert nicht mehr“
Noch ein paar Zahlen: 711 Teilnehmer:innen benutzten 368-mal das Wort „müde“ in ihren Antworten.
„Erschöpfung“ kam 208-mal vor.
Das Wort „antriebslos“ 129-mal.
Und 109-mal „gereizt“.
Auf die Frage, wie sich die Erschöpfung zeigt, schrieb mir Sarah: „Ich kann nicht schlafen, obwohl ich hundemüde bin, kann mich zu nichts aufraffen. Einfachste Sachen fallen unendlich schwer.“ Gerti geht es ähnlich: „Ich arbeite bis 13.30 Uhr und bin danach wie gerädert.“ Typisch ist auch diese Antwort eines anonymen Teilnehmers: „Ich kann mir kaum noch Dinge merken – mein Gehirn funktioniert nicht mehr; ein Gefühl der Ohnmacht und Aussichtslosigkeit angesichts der Weltlage.“ Arne gibt an, er könne sich kaum aufraffen, andere Leute zu treffen, denn er sei „sozial sehr schnell erschöpft.“ Torsten war in den ersten Monaten der Pandemie noch motiviert, im Homeoffice Arbeitskleidung zu tragen (frisches Oberhemd, dunkle Jeans). „Seit September trage ich Jogginghose und ein T-Shirt, da ich mich nach der Arbeit kaum dazu bringen kann, mal Wäsche zu waschen.“
Viele Teilnehmer:innen sind auch erschöpft davon, andere zu unterstützen. Jasmin arbeitet in einer Kunstakademie und sagt: „Meine Arbeit besteht seit März nicht mehr so sehr aus Lehre, sondern zu großen Teilen daraus, emotionale Themen zu betreuen. Ich habe regelmäßig mit weinenden und panischen jungen Menschen zu tun. Das schlaucht.“ Jana, Betriebsrätin, schreibt: „Viele Kolleginnen und Kollegen rufen einfach mal aus dem Homeoffice heraus an, um was loszuwerden. Oft enden diese Gespräche in Tränen, obwohl gar nicht so klar ist wieso.“
„Wir fahren mit gezogener Handbremse“
Was steckt dahinter? Ein Grund ist, dass Daueralarmbereitschaft schlicht zehrt. Jana sagt: „Ich habe ständig das Gefühl, auf etwas zu warten. Keine Ahnung, auf was genau. Dass ich selbst krank werde? Dass meine Familie krank wird? Dass der Spuk bald vorbei ist? Das alles macht mich einfach insgesamt unrund und unruhig.“ Janine nennt dieses Grübeln „Gedankenmemory“. Viele Umfrage-Teilnehmer:innen fühlen sich außerdem fremdbestimmt. Bea sagt: „Ich bin angestrengt durch viele Kleinigkeiten, die es mehr zu beachten gibt und eine ständige unterschwellige Anspannung. Wir fahren mit gezogener Handbremse. Nur dass ich sie nicht selber angezogen habe.“ Sie habe das Gefühl, dass ständig ein „mahnender Finger“ auf sie gerichtet sei, klagt Stephanie. Und Tabea schreibt: „Man muss im Alltag an so viel mehr denken, das nicht ‚natürlich‘ ist. Vor allem das Abstandhalten verursacht so einen Dauerstress, der einem die Freude nimmt.“
Auch die Gleichförmigkeit ihres Alltags macht vielen zu schaffen. „Alles ist grau, die schönen Highlights fehlen“, meint Boris. Dazu zählen auch die Begegnungen mit anderen. Menschen sind soziale Wesen und Berührungen haben eine Kraft, die vielen nicht bewusst ist, wie die Sexarbeiterin und Physiotherapeutin Kristina Marlen in diesem Interview erklärt. Mona schreibt: „Man kann die Erschöpfung weniger teilen: Also kein Flurfunk im Büro, außerdem Hemmungen, Freunde zu umarmen, die man sonst herzen würde: die Berührung fehlt.“ Das Arbeiten von Zuhause lässt die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen. Und den ganzen Tag vor dem Bildschirm hocken, macht sowieso fertig, schreibt ein anonymer Teilnehmer, der „keine Energie“ mehr hat „für eine zweite Runde Zoom-Yoga, Zoom-Musikschule, Skype-Pubquiz etc.“
Vielleicht sind die Einschränkungen nicht das größte Problem
Ute muss sich um ihre 90-jährige Mutter kümmern. „Sie müsste eigentlich ins Heim, weigert sich aber. Durch Corona und die daraus resultierende Vereinsamung hat ihre Demenz massiv zugenommen.“
Helge macht klar, dass es nicht nur die Pandemie ist, die viele von uns gerade fertigmacht. „Der gefühlte 24/7-Alarmzustand und die vielen schlechten Nachrichten außer Corona (Nazis, Trump, Terror) täglich, ja fast stündlich, machen es unmöglich, sich zu erholen.“
Eins ist klar: Diese Zeit fordert, sie nimmt uns Kraft, selbst wenn uns das Virus nicht infiziert. Aber je mehr Antworten ich las, desto mehr bekam ich den Eindruck, dass wir doch an einer Stelle ganz entscheidend etwas gegen die Erschöpfung tun können. Denn zu den wichtigsten Punkten, den die Teilnehmer:innen meiner Umfrage nannten, gehörten Trauer und Ärger über ihre Mitmenschen. Sabine sagt: „Ich spüre ein Gefühl der Enttäuschung gegenüber coronaleugnenden Menschen in meiner Umgebung, und zwar so nachhaltig, dass ich meine Fassung nicht mehr wiedergewinne.“ Anna Lena geht noch weiter: „In der Psychiatrie, in der ich arbeite, ist alles normal. Draußen sind alle reizbarer, fatalistischer und verschwörungsverleiteter geworden.“
Ich erinnere noch einmal an meine Zahlen von oben: „Reizbarkeit“ war in rund einem Fünftel der Antworten ein Thema.
Das bringt mich zu einem Vorschlag.
Ich weiß, dass er vielleicht naiv klingt, aber manchmal finde ich Naivität gar nicht so schlecht. Also: Wie wäre es, wenn wir einfach netter zueinander wären? Wenn wir in dieser Situation, die wirklich für alle belastend ist, nicht auch noch unnötig aufeinander eindreschen würden? Ich gebe zu, mir selbst fällt es definitiv schwer, Ruhe zu bewahren, wenn in einem Gespräch die Formulierung „die da oben“ fällt, oder rechte Verschwörergeschichten als „Kritik an den Corona-Maßnahmen“ verkauft werden. Aber eine weise Person hat mir einmal einen Trick verraten. Dank dieses Tricks bleibt sie in Gesprächen auch dann ruhig, wenn ihr eigentlich mehr danach ist, einen schweren Gegenstand zu werfen. Sie stellt sich vor, dass ihr anstrengender Gesprächspartner vor Kurzem einen lieben Menschen verloren hat und deswegen gerade bescheuert reagiert.
Was nicht heißt, dass man jeden Kotzbrocken herzen muss. Aber es hält einen davon ab, selbst zum Kotzbrocken zu werden. Und könnte dazu beitragen, dass Diskussionen weniger eskalieren, dass wir öfter mal durchatmen, bevor wir auf einen Facebook-Post reagieren. Oder vielleicht einfach generell weniger Zeit auf Plattformen verbringen, die mit der Wut und der Angst von Menschen Geld verdienen.
Ein Katastrophenmodell, das unsere Erschöpfung erklären könnte
Dieser Ansatz ist umso überzeugender, wenn man sich zwei Dinge klarmacht: Erstens, viel spricht dafür, dass wir gerade tatsächlich trauern: Um eine Welt, die wir verloren haben, wie mir der Trauerexperte David Kessler im Mai diesen Jahres erklärt hat.
Zweitens, ist es interessant, einen Blick auf ein Modell aus einem Handbuch des US-Gesundheitsministeriums zu werfen, das die psychologischen Reaktionen von Menschen nach einer Katastrophe in vier Phasen unterteilt:
- Heroic (die Heldenphase: „Wir schaffen das“)
- Honeymoon (die Flitterwochen: Gemeinschaftsbildung und Optimismus)
- Disillusionment (Desillusionierung: Stress und Müdigkeit, Entmutigung)
- Reconstruction (Wiederaufbau: Gewöhnung an neue Umstände, Potenzial für Veränderung und Wachstum)
Man muss kein Genie sein, um zu sehen, in welcher Phase wir uns nach diesem Modell gerade befinden. Und was danach kommen könnte. Mich erinnert es an etwas, das Eric in meiner Umfrage schreibt. Eric ist Paartherapeut und sagt, dass er bei seinen Klient:innen andauernd Angst und Erschöpfung erlebt. „Gleichzeitig schafft es aber auch Verbindung, gemeinsam etwas durchzustehen – es erfordert nur eben viel Energie.“
Warum sind manche Leute so fit?
Zum Schluss noch ein Blick auf die Umfrage-Teilnehmer:innen, die mir schrieben, dass sie sich in dieser Zeit nicht erschöpfter fühlen als sonst. Sie machen ein paar Dinge richtig, die auch den Erschöpften helfen können:
- soziale Kontakte halten. Wenn es sein muss, eben über Internet und Telefon.
- an die frische Luft gehen
- nicht jeden Moment der Langeweile und Leere mit dem Blick auf einen Bildschirm füllen (warum das sonst letztlich dazu führt, dass dir noch langweiliger wird, habe ich in meinem Artikel „Laaaaaaaaangweilig“beschrieben.
- nicht ständig die Nachrichten verfolgen
- regelmäßig bewegen
- meditieren (in diesem Text habe ich versucht, alle, wirklich alle Fragen über Meditation zu beantworten. 39 Fragen, um genau zu sein
- diese Zeit als Chance nutzen. Hannes schrieb in der KR-Facebookgruppe, er habe sich vorgenommen, der Infektion „einen möglichst vitalen Gegner zu präsentieren. Ich war nie ein unsportlicher Mensch, heute fühle ich mich aber fit wie nie in meinem Leben. Ich habe meinen Fleischkonsum drastisch reduziert. Mal sehen, was noch so dazukommt.“
Diese Pandemie wird ja immer wieder mit einem Marathon verglichen. Ich bin eher ein Typ für Sprints und schon beim Gedanken an einen normalen Marathon erschöpft, erst recht von einem Pandemie-Dauerlauf. Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber mir hilft es zu wissen, dass ich mit diesem Gefühl immerhin nicht allein bin.
Redaktion: Philipp Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele