Wenn die Gesundheitsämter einen positiven Corona-Test zurückbekommen, greifen sie zum Telefon: „Wo könnten Sie sich angesteckt haben? Mit wem haben Sie sich getroffen?“ Im Frühjahr noch hatten die Menschen oft eine Ahnung, wo sie sich angesteckt haben. Sie konnten auch gut überblicken, wen sie getroffen hatten. Heute ist das anders: Statt fünf Kontaktpersonen gibt es schon mal mehr als 50, und in höchstens jedem dritten Fall finden die Ämter noch heraus, wo sich die Menschen infiziert haben. Diese sogenannte Kontaktverfolgung funktioniert in Deutschland immer schlechter. Das Virus breitet sich wieder schneller aus.
Anders als in Japan, in einem Land, das Deutschland in einigen Punkten ähnelt. Eher ältere Bevölkerung, trotzdem das Virus relativ früh und über den Sommer hinweg mit lokaler Kontaktverfolgung in den Griff bekommen. Heute aber hat Deutschland ungefähr drei mal so viel Corona-Fälle wie Japan. Wie kann das sein? Was macht Japan richtig – und Deutschland falsch? Die drei entscheidenden Faktoren: Deutschland testet zu viel, Bürokratie verhindert, dass Menschen sich freiwillig isolieren – und die Deutschen helfen immer weniger mit.
Die japanische Strategie
Japan testet weniger Menschen als Deutschland: durchschnittlich ungefähr eine halbe Person am Tag pro 1.000 Einwohner:innen. In Deutschland sind es täglich zwei Personen pro 1.000 (Quelle: Our world in Data, Stand 16. Oktober 2020). Makoto Nakamura* stammt aus Japan, lebt in Deutschland und spricht regelmäßig mit seinen Verwandten in Japan. Er erzählt mir am Telefon: „Dort wird weniger getestet, aber viel gezielter. Nur Menschen, die Symptome haben und zu einem Cluster gehören könnten, bekommen einen Test. Die anderen sollen einfach zu Hause bleiben und warten.“
Japan setzt zwar ähnlich wie Deutschland auf lokale Gesundheitsbehörden beim Infektionsschutz, verfolgt jedoch eine andere Strategie in der Kontaktnachverfolgung von Corona-Infizierten. Japan hat relativ früh gemerkt, dass nicht jede:r Infizierte jemand anderen ansteckt, sondern wenige Infizierte für einen Großteil der Infektionen verantwortlich sind. Man kann sich das so vorstellen wie bei einem Busfahrplan, der nicht eingehalten wird. Diese Analogie erfand der Wissenschaftsjournalist Kai Kupferschmidt in einem Text in der Zeit: „Eine Seuche ist eben kein Uhrwerk, das einem gleichmäßigen Takt gehorcht. Sie ähnelt eher einem Busfahrplan, der verspricht, dass alle zehn Minuten ein Bus kommt, und dann wartet man 30 Minuten und es kommen drei auf einmal.“
Japan ist zwar ähnlich organisiert wie Deutschland: Jede Gemeinde hat ein Gesundheitsbüro, in dem ebenfalls Leute damit beschäftigt sind, Kontaktketten nachzuverfolgen. Aber anders als in Deutschland gehen die Mitarbeiter:innen der Ermittlungsteams auch raus und machen Hausbesuche. Sie testen Menschen, die Symptome haben, versorgen sie mit Informationen, fragen nach, wie es ihnen geht. Zusätzlich schauen sie sich die Orte an, an denen sich positiv getestete Menschen angesteckt haben, um zu sehen, wie der Raum tatsächlich aussieht. Lassen sich Fenster öffnen? Gibt es eine Luftfilteranlage? Wie viele Menschen passen in den Raum, wenn die Abstandsregeln eingehalten werden?
Herr Nakamuro sagt: „Die japanischen Containment-Scouts jagen das Virus regelrecht. Und das bedeutet: Sie lassen nicht locker, bis sie alle Menschen gefunden haben, die zu einem Cluster gehören.“
Deutschland testet politisch gewollt die falschen Menschen
Die Kriterien des Robert Koch-Instituts sehen vor, dass vorzugsweise Menschen getestet werden sollen, die Symptome haben und Kontakt zu einem bestätigten Corona-Fall hatten. Doch im Sommer haben die Bundesländer dieses Prinzip aufgeweicht: Zeitweise wurden Reiserückkehrer:innen und Menschen ohne Symptome getestet. Das hat eine Erwartungshaltung in der Bevölkerung geschaffen, die aus medizinischer Sicht wenig Sinn ergibt: Menschen möchten einen Test machen, um sicherzugehen, dass sie nicht infiziert sind. Das ist mehr als verständlich. Vor allem, weil ein negativer Test als Ticket missbraucht wird, um ein Hotelzimmer buchen zu können.
Aber dieses Testen ohne Fokus verbraucht sehr viele Laborkapazitäten und macht es schwerer, die Zahl der Neu-Infizierten mit einem anderen Zeitraum zu vergleichen. Das heißt: Es verschmutzt die Datenbasis und behindert damit das Beurteilen der Lage. Zum einen dadurch, dass unterschiedlich viele Menschen getestet wurden, zum anderen, weil es nach Kriterien ging, die nichts mit Medizin zu tun haben, wie zum Beispiel aktuell die Berufspendler:innen aus dem Ausland.
Japan hat im Vergleich zu Deutschland die Testkriterien nicht verändert und sich stur darauf konzentriert, Cluster zu finden.
Eine gute Strategie fußt darauf, wie sich das Virus verhält
Vom Coronavirus weiß man, dass es dazu neigt, sich nicht gleichmäßig zu verteilen. Manche Infizierte stecken niemanden an, andere wiederum Hunderte. Die Expert:innen sagen, das Virus überstreut oder um im Bild des Kollegen Kupferschmidt zu bleiben: Das Virus hält den Busfahrplan nicht ein.
Wenn viele Menschen gleichzeitig angesteckt werden, gilt das als Superspreader-Ereignis. Derjenige, der das Virus in die Gruppe trägt, ist der Patient Null. Dieser Patient Null fühlt sich in der Regel nicht krank genug, um zu Hause zu bleiben, ist aber trotzdem infektiös und schafft so ein neues Cluster.
Um herauszufinden, ob von diesem Fall ein Cluster ausgeht, müssen Containment-Scouts verstehen, in welcher Situation die Ansteckung passierte: Sie müssen zurückschauen auf der Zeitleiste. Dieser Ansatz nennt sich Trace Back: zurückverfolgen. Japans Strategie beruht auf diesem Zurückschauen. Die Gesundheitsbehörden dort strengen sich sehr an, Cluster zu finden. Sie strengen sich dagegen nicht besonders an, jeden einzelnen Infizierten zu finden.
Welche Strategie gut funktioniert, hängt davon ab, wer sie mitträgt
Das ist riskant. Denn alle, die nicht gefunden werden, geben das Virus vielleicht unbemerkt weiter und erzeugen neue Cluster. Deshalb ist diese Strategie auch nur so gut, wie das Verhalten derjenigen, auf die sie angewendet wird. Anders gesagt: Das klappt nur, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Die Bevölkerung muss gut genug informiert sein. Sie muss bereit sein, sich freiwillig einzuschränken und untereinander weniger zu treffen. Und man muss bereit sein, andere zu schützen: Durch Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes und durch Abstandhalten, da, wo viele Menschen zusammenkommen.
Japan hat keine landesweiten Kontakteinschränkungen verhängt, hat aber Ende April den nationalen Notstand ausgerufen. Den Menschen ist klar, dass die Lage ernst ist. Und noch etwas anderes spielt eine Rolle: „In Japan fragt sich jede:r zuerst: ‚Was könnten meine Nachbarn über mich denken?‘ Das ist besonders in den ländlichen Gebieten so“, erzählt mir Herr Nakamuro am Telefon. „Wenn Leute einen positiven Test bekommen, schämen sie sich ziemlich. Am liebsten würde man sich dann öffentlich entschuldigen und sagen: ‚Ich tue wirklich alles, was ich kann.‘ Man hofft, dass das Urteil der anderen dann nicht so streng ausfällt.“ Sozusagen Ehrensache, dass man bei der Kontaktnachverfolgung mithilft.
„Die Bereitschaft, alle Kontaktpersonen zu nennen, hat im Vergleich zum Frühjahr stark nachgelassen.“ Das sagt Ute Teichert, als wir telefonieren. Sie ist Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, also des Verbandes, der die Mediziner:innen vertritt, die bei Gesundheitsämtern angestellt sind. Auf die Frage, wie sie sich das erklärt, antwortet sie: „Ich denke, die Leute sind durch das Hin und Her bei den Maßnahmen ziemlich verwirrt. Das Vertrauen in unsere Arbeit hat nachgelassen.“ Das Zurückschauen klappt immer weniger gut und die Ämter müssen viel mehr Aufwand betreiben, wenn sie zukünftige Infektionen verhindern wollen.
Dass Ute Teichert wohl Recht hat mit ihrer These, zeigt ein Blick auf die Entwicklung der Zahlen in Deutschland: mehr positive Tests, mehr Patienten auf den Intensivstationen. Laut einer Berechnung des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung wird das Gesundheitswesen in 30 Tagen seine Kapazitätsgrenze erreichen, wenn sich die Entwicklung linear fortsetzt.
Viele Gesundheitsämter sind schon am Limit
Ich bekomme eine Idee davon, wie kritisch die Lage zum Teil schon ist, als ich mit Birgit Maurer* spreche. Sie arbeitet in einem Berliner Gesundheitsamt an der Hotline. Das ist da, wo auch alle Menschen anrufen, denen gesagt wurde, das Gesundheitsamt melde sich zurück, um zu besprechen, ob sie in Quarantäne müssen. „Heute habe ich mit einem Richter gesprochen, der seit einer Woche auf den Rückruf wartet“, erzählt sie. „Es gab einen positiven Fall in seinem Gerichtssaal und nun muss erstmal geklärt werden, ob die Abstände und Kontaktzeiten so waren, dass die Anwesenden als Kontaktpersonen ersten Grades gelten.“
Kontaktpersonen ersten Grades sind Menschen, die ohne Mund-Nasen-Schutz etwa 15 Minuten lang mit jemandem gesprochen und dabei nicht den Abstand von 1,50 Meter eingehalten haben. Bei ihnen wird eine Quarantäne angeordnet und sie sollten einen Test machen, sobald sie Symptome bekommen. Sobald der Test positiv ausfällt, sind sie diejenigen, die das Amt dann anruft. Wenn es denn irgendwann mal anruft.
Das Problem dabei, und hier sind wir bei der bürokatischen Spezialität: Wenn das Gesundheitsamt nicht offiziell Quarantäne anordnet, kann ein Mensch zwar freiwillig in Isolation gehen, aber ob er dann noch ein Gehalt bekommt, ist eine andere Frage. Frau Maurer vom Gesundheitsamt sagt: „Vieles dreht sich um die Quarantäne-Anordnungen. Denn die Leute brauchen sie für ihre Arbeitgeber. Mit diesen Anordnungen können sich die Unternehmen die Lohnfortzahlungen ersetzen lassen. Wer sich ohne Anordnung isoliert, muss das im Zweifel aus eigener Tasche zahlen.“ In Japan ist die Isolation Ehrensache, in Deutschland ein bürokratisches Vexierspiel.
Ich frage Ute Teichert, ob es Pläne gibt, die Strategie zu ändern und stärker daran anzupassen, wie sich das Virus verbreitet. „Nein, es gibt keine wirkliche Alternative. Das wurde heute bei einer Videokonferenz mit dem Robert Koch-Institut wieder klar. Auch, weil die Erfahrungen aus dem Frühjahr gezeigt haben, dass es gut funktioniert. Allerdings sind wir dabei auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen: Es darf nicht so hohe Zahlen an Neuinfektionen geben. Denn dann kommen wir nicht mehr hinterher.“
Die Gesundheitsämter haben zu viele Aufgaben
Die Gesundheitsämter sind der Flaschenhals, durch den alles durch muss: Die Testverwaltung, die Kontaktnachverfolgung, die Bürokratie, die benötigt wird, um Ausfallzeiten zu verwalten. Für alle diese Aufgaben sind unterschiedliche Teams in den Ämtern zuständig. Nicht alle haben dabei die beste technische Unterstützung. Birgit Maurer zum Beispiel hat außer ihrem Telefon nur noch Papierformulare und Stift. Sie kann dem Richter keine Auskunft darüber geben, wie lange es noch dauern könnte. Sie kann gar nicht auf seine Akte zugreifen.
Dass nicht alles von der technischen Ausstattung abhängt, zeigt Japans Beispiel. Auch dort wird viel analog gemacht, auch Japans Strategie bei der Corona-Warn-App ist der Deutschlands ähnlich.
Im Sommer wurde die öffentliche Debatte in Deutschland von Menschen dominiert, die darauf hinwiesen, dass die Einschränkung der Grundrechte verhältnismäßig sein müsse und dass nicht alles dem Infektionsschutz untergeordnet werden darf. „In Japan gibt es keine gesetzliche Grundlage dafür, persönliche Freiheiten so stark einzuschränken wie in Deutschland“, erzählt mir Herr Nakamuro. „Die Leute nehmen das Virus ziemlich ernst, einfach weil die Regierung sie darum bittet. In Japan gibt es andere gesellschaftliche Traditionen, da herrscht auch noch viel Angst vor dem Gefühl, nicht dazuzugehören, nicht anerkannt zu sein. Jede:r bemüht sich deshalb immer sehr darum, dass sich sein Gegenüber wohlfühlt. Das eigene Umfeld nicht in Gefahr zu bringen, ist für die Menschen ein hoher Wert.“
Solange die Gesundheitsämter aus verwaltungstechnischen Gründen jeden Infizierten erfassen müssen, können sie nicht auf die japanische Methode umschwenken. Das würde sie zwar entlasten und wäre auch im Hinblick auf die Überstreuung des Coronavirus sinnvoll: Nach Infektiösen statt nach Infizierten zu suchen und sich auf Cluster zu konzentrieren, würde viel besser zu den Eigenschaften des Virus passen.
Aber Ute Teichert nennt noch einen anderen Grund, warum so eine Umstellung nicht geplant ist: „In Deutschland verbreitet sich das Virus inzwischen diffus. Das heißt, wir haben mittlerweile viel zu viele Cluster, über die wir im Grunde nicht genug Infos zusammenkriegen. Dazu müssten die Menschen wieder so gut mithelfen, wie sie es im Frühjahr noch getan haben.“
*Name von der Redaktion geändert, der richtige Name ist der Autorin bekannt.
Redaktion und Bildredaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke