Ich habe mir in meinem Leben ein paar Feinde gemacht. Meine Waage zum Beispiel. Ich habe sie inzwischen (endlich!) aus meinem Badezimmer verbannt. Auch die beiläufigen Bemerkungen meiner Mitmenschen können Feinde sein. Sie schleichen sich ganz harmlos ein, kommen als Smalltalk daher – und treffen mich doch so sehr, dass ich noch Wochen später darüber grübele. Manchmal sogar Jahre. Ich soll „doch mal einen Happen mehr essen“, weil ich so dünn aussehe? Du weißt doch gar nicht, wie viel ich genau darüber nachdenke.
Spiegel sind Feinde für mich, weil sie mir immer wieder ein Bild zeigen, das ich am liebsten nicht sehen möchte. Und trotzdem kann ich es nicht lassen, meinen Körper in ihnen zu prüfen. Essen war lange Zeit mein Feind – aber wir freunden uns ganz langsam an. Mein größter Feind ist und bleibt aber: mein Körper.
Ich musste 30 Jahre alt werden, um zu verstehen, was für ein verzerrtes Bild ich von mir selbst gezeichnet hatte. Zwar gab es in meinem Leben immer wieder Momente, in denen ich gemerkt habe, dass ich ein schwieriges Verhältnis zu Essen habe. Zum Beispiel als ich mit Mitte zwanzig nochmal zwei Kilogramm abgenommen hatte, und mich trotzdem weiterhin zu dick fand. Aber so richtig verstehen konnte ich es nicht. Seit einigen Monaten weiß ich nun: Ich habe Dysmorphophobie. Auf Deutsch: eine Körperschemastörung.
Im Klartext bedeutet das, dass ich meinen Körper völlig anders wahrnehme, als er ist. Entstellt. Und dass ich Angst davor habe, andere Menschen könnten mich hässlich finden. Es hat mich schon immer gestört, dass mein Bauch eine leichte Wölbung hat und nicht völlig flach ist. Wenn ich in den Spiegel schaue, sieht er für mich immens aus. Obwohl diese Wölbung für einen weiblichen Körper völlig normal ist – und mein Freund sogar sagt, mein Bauch sei flach. Mein Po ist in meinen Augen viel zu dick. Meine Oberschenkel finde ich grotesk – viel zu schwabbelig und absurd groß, wenn ich mich hinsetze. Und, oh mein Gott, sieht man da eine Andeutung von Orangenhaut?
Vielleicht sind das Dinge, mit denen sich viele Frauen auseinandersetzen. Und mit Frauen meine ich alle Menschen, die sich als Frauen identifizieren oder als solche gesehen werden. Weil uns so oft klar gemacht wird, wie Weiblichkeit aussehen sollte – und wie nicht. Vielleicht stört das viele Frauen aber auch nicht ganz so stark wie mich. Ich hoffe es sehr.
Ehrlich gesagt: Was mich am meisten an der Körperschemastörung nervt, ist, dass ich auf so einen alten patriarchalen Trick hereingefallen bin. Frauen sollen sich lieber auf ihr Äußeres konzentrieren. Darauf, dass sie für das männliche Auge auch ansehnlich wirken. Und, seien wir mal ehrlich, der weibliche Blick auf Frauen ist auch oft schonungslos, weil wir gelernt haben, mit unseren Körpern besonders kritisch umzugehen. Mit wie vielen wichtigen Themen könnte ich mich beschäftigen, wie viele neue Gedanken fassen, wenn ich nicht ständig über meinen Körper nachdenken würde? Das Idealbild, das ich in meinem Kopf habe, werde ich ohnehin nie erreichen. Und eigentlich ist es auch völlig egal, ob ich nun drei Kilo mehr oder weniger wiege, denn das verändert nichts an meinem Wesen.
Zum ersten Mal richtig vor Augen geführt wurde mir meine verschobene Wahrnehmung, als ich im vergangenen Herbst bei einer Körpertherapeutin saß. Ich war wegen einer völlig anderen Sache in ihre Praxis gestolpert, fühlte mich überfordert vom Leben. Sie gab mir pro forma ein Blatt, auf dem ich meinen Körper einschätzen sollte. Ich kreuzte Option E an: ziemlich pummelig – oder sogar übergewichtig? Das machte sie stutzig. Sie bat mich, mit Seilen darzustellen, wie ich den Umfang meines Arms, meines Bauchs und meines Oberschenkels wahrnahm. Danach maßen wir nach und legten meinen tatsächlichen Körperumfang daneben. Das Ergebnis war schockierend: Die von mir gelegten Seile hatten fast den doppelten Umfang.
Nach der Therapie lief ich weinend durch die Straßen. Ich war traurig, dass ich so ein schlechtes Bild von mir hatte. Aber ich war auch erleichtert, dass endlich jemand gesehen hatte, was ich die ganze Zeit in mir trug. So häufig beschäftigte ich mich mit Essen und mit meinem Körper. Ständig sah ich mich im Spiegel an und fand meinen Körper hässlich. Ich wusste, dass das nicht gut sein konnte. Ich dachte schon lange, dass ich vielleicht eine Essstörung habe. Aber ich bekam von meinem Umfeld auch immer wieder gemischte Signale, die mich sehr verunsicherten.
Schon mindestens seit der Grundschule beschäftigt mich mein Körper
Ich war vielleicht neun Jahre alt, als ein neues Mädchen in meine Grundschulklasse kam. Sie hatte eine Stoffwechselstörung und deshalb Übergewicht. Andere Kinder machten sich über sie lustig – so sehr, dass sie nach einigen Wochen wieder die Klasse verließ. Ob die Geschichte genauso abgelaufen ist, kann ich nicht sicher sagen. Aber so habe ich sie in meinem Kopf abgespeichert. Ich habe mich damals nicht lustig gemacht, aber ich habe auch nichts dagegen gesagt. Stattdessen habe ich das Verhalten der anderen Schüler:innen quasi in mich reingefressen. Eines Tages kam ich nach Hause und erklärte meinen Eltern, ich könne nur noch Äpfel essen. Ich wollte nicht dick werden.
Ein paar Jahre später haben sich meine Mitschülerinnen dann über meinen Körper ausgelassen. Ich erinnere mich nicht mehr an den konkreten Wortlaut, aber ich weiß, dass es dabei auch darum ging, dass mein Hintern zu groß sei. Es war völlig absurd – ich war mein gesamtes Leben lang schlank, hatte die meiste Zeit sogar leichtes Untergewicht. Aber sie hatten meinen wunden Punkt getroffen. Denn da fühlte ich mich wahrscheinlich schon viel dicker, als ich war.
Meine Großmütter hatten immer wieder Ratschläge zu meiner Figur – wie so viele Großmütter. Ich sei zu dünn und solle doch mehr essen, darf ich mir selbst heute noch bei fast jedem Treffen anhören. Dabei habe ich endlich ein halbwegs normales Gewicht. Ich habe angefangen, meine Familie darum zu bitten, keine Kommentare mehr über meinen Körper zu machen. Und auch wenn es um die Figur meiner Cousine oder meines Bruders geht: Ich. Möchte. Das. Nicht. Hören. Warum müssen wir überhaupt ständig die Körper unserer Mitmenschen bewerten? Aber diese Bemerkungen sind für die meisten Menschen so normal, so alltäglich, dass sie sie nur schwer abschalten können.
Der (zugegebenermaßen schlechte) Witz ist: Ich kann sie ja selbst manchmal nicht abschalten. Dann lobe ich zum Beispiel eine Freundin dafür, wie schlank sie ist, obwohl mich selbst so ein Kommentar quälen würde. Wahrscheinlich kommt das daher, dass ich ihren Körper tatsächlich als positiv wahrnehme – meinen eigenen hingegen nicht. Wenn ich etwas über meinen Körper sage, ist es meist negativ. Aber dass meine Bemerkung für sie genauso schwierig sein könnte wie für mich, fällt mir oft erst viel später ein.
Ich höre manchmal etwas anderes als das, was gesagt wird
„Du hältst dich für viel dicker, als du bist.“ Dieser Satz hallt heute in meinem Gedächtnis nach. Ich habe ihn gehört, als ich 22 war, von meinem damaligen Freund. Im gleichen Jahr versuchten zwei Kommilitonen regelmäßig, mir Schokoriegel zuzuschieben, weil mein Bauch in der Vorlesung so laut geknurrt hatte. Es war wohl das erste Mal, dass mir unterbewusst klar wurde, dass da etwas nicht stimmt. Aber es sollte noch lange dauern, bis ich wirklich etwas dagegen unternahm.
Vor fünf Jahren habe ich mit dem Bouldern angefangen. Durch den Sport habe ich Muskeln aufgebaut und auch zugenommen. Der Sport macht mir viel Spaß, aber es war ein Graus, die Zahlen auf der Waage klettern zu sehen und meinen Körper durch die stärkeren Muskeln mehr zu spüren. „Endlich siehst du gesund aus“, sagte meine Großmutter da mal zu mir. Ich hörte: „Mensch, bist du fett geworden.“
Zuhause gab es von klein auf immer wieder Essensregeln: Keine Cola, die ist schlecht für die Knochen. Keine Butter, davon erhöht sich der Cholesterinspiegel. Kein Weißbrot, das sind leere Kalorien. Irgendwann hat meine gesamte Familie mal „Kohlsuppendiät“ gemacht. Tagelang nichts als Kohlsuppe. (Ja, das ist so eklig, wie es klingt.)
Über die Jahre und das Erwachsenwerden hinweg kamen meine eigenen Regeln dazu: Keine Kohlenhydrate am Abend. Möglichst wenig Zucker und Fett. Nur kleine Portionen. Mein Vater machte zwischenzeitlich etwa einmal im Jahr eine Saftfastenkur: Eine Woche nichts essen, sondern stattdessen nur Gemüse- und Obstsäfte trinken. Es half ihm, sich besser zu fühlen und sein leichtes Übergewicht zu reduzieren. Ich fand die Idee gut, „mal zu entschlacken“ und probierte es auch zwei, drei Jahre lang – nur dass es bei mir kein Übergewicht gab, das ich dadurch hätte reduzieren können. Statt mich befreit zu fühlen, bekam ich Kopfschmerzen und fühlte mich schwach. Dass das ein Zeichen dafür sein könnte, dass mir die Fastenkur nicht guttut, habe ich erst spät erkannt.
Solange ich kein starkes Untergewicht habe, habe ich kein Problem, so scheint es
Wenn ich mit Anfang 20 mit der Familie oder Freund:innen auswärts essen ging, war ich meistens die Einzige, die ihre Portion nicht schaffte. Irgendwann hatte ich fast gar kein Hungergefühl mehr. Mein Idealgewicht war eines, das unter dem Normalgewicht lag. Und dennoch habe ich mich nie so sehr heruntergehungert, dass es kritisch wurde. Zum Glück! Leider bedeutet das auch, dass ich erst so spät erkennen konnte, was in meinem Kopf los ist.
Selbst heute sagt meine Hausärztin zu mir: „Aber Sie sehen doch völlig normal aus“, wenn ich ihr meine Essstörung schildere. Dass ich mit ihr darüber offen sprechen kann, ist eigentlich sehr wichtig, denn seit meiner Jugend habe ich regelmäßig ziemlich schlimme Bauchkrämpfe. Eine Ursache dafür haben wir nie gefunden. Es könnte daran liegen, dass ich mich lange Zeit nicht ausreichend ernährt habe. Doch bei einer (fast) Normalgewichtigen vermutet niemand eine Ess- oder Körperschemastörung. Das spüre ich immer wieder, wenn ich mit meinen Mitmenschen offen darüber spreche. Ich stoße oft auf Unverständnis. Denn ihr Bild von meinem Körper passt für viele nicht mit dem zusammen, wie ich mich fühle.
Wenn ich in der Boulderhalle bin, schaue ich mir immer auch die anderen Frauen an, die dort Sport machen. Sie sehen stark aus. Haben tolle Rückenmuskeln. Definierte, aber nicht zu muskulöse Arme. Wunderbar schlanke Beine. Ich vergleiche das mit mir selbst und finde mich dagegen eher plump. Wie viele von ihnen mich ansehen und genauso denken, das weiß ich nicht.
Ich habe es noch nicht geschafft
Dank einer Ernährungsberatung arbeite ich jetzt aktiv an meinem Essverhalten. Ich lerne, dass Kohlenhydrate, Eiweiß und Fett alles wichtige Komponenten unseres Essens sind. Das wusste ich zwar vorher auch schon, aber ich habe es absolut nicht auf meine eigene Ernährung angewendet. Inzwischen achte ich bewusst darauf. Ja, auch darauf, abends Kohlenhydrate und Fett zu mir zu nehmen. Essensverbote soll es in Zukunft nicht mehr geben.
Geschafft habe ich es noch nicht. Ich habe immer noch große Angst davor, dass mich ein intuitives, gutes Essverhalten zwangsläufig ins Übergewicht führt. Ich sehe in den Spiegel und finde so viele Stellen, die in meinen Augen jetzt noch schlimmer aussehen als vorher. Aber immerhin weiß ich nun, womit ich es zu tun habe. Und das ist zumindest schon der halbe Deal.
Normalerweise schreibe ich für Krautreporter über Migration und Rassismus. Dieser Text passt nicht in diesen Themenbereich – weil er sehr persönlich ist und mit meinen eigenen Erfahrungen zu tun hat. Ich wollte ihn dennoch schreiben, weil ich denke, dass es viele Menschen gibt, die sich ähnlich fühlen wie ich. Ich hoffe, dass wir damit gemeinsam ein Gespräch über unsere Körperbilder starten können.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Susan Mücke; Fotoredaktion: Martin Gommel.