Seit Wochen stehe ich um 6 Uhr auf und renne im Wald um mein Leben. So fühlt es sich zumindest an. Ich renne gegen die Zeit an, die mir davon läuft. Der Waldboden unter meinen Laufschuhen gibt mir dabei jeden Morgen für eine Dreiviertelstunde ein leises Gefühl von Stabilität. Ansonsten führe ich ein Leben in Ungewissheit.
Da, wo ich gerade bin, gehöre ich nicht hin. Ich sollte bei meinem Mann in Michigan sein, wo wir angefangen hatten, uns ein Leben aufzubauen. Wir sollten gerade gemeinsam diesen wunderschönen Sommer genießen. Dass ich trotzdem durch einen Wald auf der falschen Seite des Atlantiks renne, liegt an drei Dingen: der Corona-Pandemie, Donald Trump und dem fußballgroßen Tumor, der im vergangenen Jahr in meinem Bauchraum gefunden wurde.
Ich hatte keine Ahnung, welche Odyssee mir bevorstand, als Robert und ich Anfang 2018 in einem Irish Pub bei einem Bier und bester Laune beschlossen, gemeinsam in die USA auszuwandern. Robert arbeitete bei einem großen IT-Dienstleister und hatte die Möglichkeit die Außenstelle der Firma in Grand Rapids, Michigan, als CEO aufzubauen. Ein Angebot, das er nicht ausschlagen wollte. Ich war freie Fotografin und Journalistin, sowieso immer viel unterwegs und beruflich unabhängig. Ich liebe spontane Entscheidungen. Und Robert, den liebe ich auch. Ich hatte noch nie eine Beziehung, die sich so leicht angefühlt hat. „Natürlich komme ich mit!“, entschied ich sofort. Ich schob meine Vorurteile den Amerikaner:innen gegenüber zur Seite, wir bestellten die nächste Runde und planten unseren aufregenden neuen Lebensabschnitt.
In den Kampf ums Visum platzte eine verheerende Diagnose
Einige Monate später war unsere Wohnung in Landau gekündigt und geräumt. Alles, was wir noch besaßen, passte in eine angemietete, vier Quadratmeter große Holzbox – oder befand sich in unseren Koffern. Im November 2018 landeten wir in Grand Rapids. Ich habe mich sofort in die Stadt und ihre freundlichen, offenen Bewohner verliebt. Grand Rapids ist mit 200.000 Einwohnern nicht riesig, aber es gibt eine Innenstadt wie im Film, mit Wolkenkratzern, Starbucks und umher eilenden Menschen, dazu zahlreiche Museen und Kulturveranstaltungen. Schon am ersten Tag war mir klar: Hier wollte ich mir ein neues Zuhause aufbauen.
Wir waren im November mit dem Touristenvisum ESTA eingereist und fest davon ausgegangen, dass unser Antrag für das Visum im Jahr 2019 eine reine Formsache war. Es waren aber Monate des Hickhacks mit den Behörden, wir heirateten sogar, damit ich dann als Roberts Ehefrau die Möglichkeit hätte, in den USA arbeiten zu können. Nachdem zweimal der Ablehnungsbescheid ins Haus geflattert kam, bewarben wir uns um ein temporäres Fachkräftevisum, das meinem Mann erlauben würde zu arbeiten – und mir zumindest, mit ihm einzureisen.
Im Sommer 2019 machten wir Urlaub in Marseille. In einem heißen, sonnendurchfluteten Hotelzimmer legte ich mir während unserer Mittagsruhe die Hände auf den Bauch. In der unteren Bauchregion ertastete ich etwas Seltsames. Da war eine kleine Wölbung – die da nicht hingehörte. Komisch, dachte ich. „Robert, fühl mal. Ist das normal?“ Robert berührte die Stelle und runzelte besorgt die Stirn. Nach unserer Rückkehr nach Deutschland machte ich sofort einen Termin bei meiner Hausärztin aus.
Dann ging alles sehr schnell. Nach wenigen Untersuchungen stand fest: In meinem Bauch war ein 26 Zentimeter großer Tumor. Er erstreckte sich vom Darm bis zur Bauchspeicheldrüse. Ich weiß noch, dass meine Ärztin sich darüber wunderte, wie er überhaupt in mich hinein passte. Ihr Ausdruck „fußballgroß“ hat sich für immer in mein Gedächtnis gebrannt. Ich war schlank. Ansonsten wäre der Tumor wahrscheinlich noch viel später aufgefallen. Es war ein Alptraum.
In einer aufwändigen, vierstündigen Operation wurde der Großteil des Tumorgewebes entfernt. Danach stand fest, es handelte sich um einen seltenen bösartigen Tumor, ein Liposarkom. Um eine Chemotherapie bin ich bislang herumgekommen. Aber da die Ärzt:innen nicht alles entfernen konnten, gehen sie davon aus, dass der Krebs mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb von ein bis zwei Jahren wieder anfängt zu wachsen. Dann wird eine Chemo sehr wahrscheinlich. Ich beschloss, nicht zu viel darüber nachzudenken, bis es soweit ist.
Das Glück der neuen Heimat hielt nicht lange an
Nach meiner Reha im November 2019 ging es mir dann wieder ziemlich gut. Ich wollte trotz allem zurück in die USA und mein Leben wieder aufnehmen. Robert hatte inzwischen das temporäre Fachkräftevisum für uns erhalten. Im Januar 2020 gingen wir zurück nach Grand Rapids, wo der Job auf Robert gewartet hatte.
Ich hatte die beste Zeit. Endlich das Gefühl, irgendwo anzukommen. Obwohl ich keine Arbeitserlaubnis hatte, wurde mir nicht langweilig. Ich lernte viele Leute bei Workshops in Museen kennen, tauchte in die Kulturszene ein, und ich machte ehrenamtlich einen Film über eine Organisation, die Mentoring-Programme für Kinder aus schwierigen Verhältnissen anbot. Ich war ständig unterwegs. Robert war auch happy mit seinem Job, der uns zum Glück beide finanzieren konnte. Das Leben war wieder normal, wir waren glücklich.
Und dann kam Corona. Es war ein großes Pech, dass meine Nachuntersuchung ausgerechnet pünktlich zum Ausbruch der weltweiten Pandemie Ende März anstand. Dafür musste ich zurück nach Deutschland fliegen, denn es ist immer besser, die Untersuchung dort vornehmen zu lassen, wo man auch operiert worden ist. In Michigan merkte man zu dem Zeitpunkt noch nicht viel von der Pandemie. Trump war in Abwehrhaltung. Als Gerüchte aufkamen, dass der Frankfurter Flughafen dichtmachen würde, buchte ich schnell meinen Flug auf einen früheren Termin um. Als Ausländer durften wir plötzlich kein Auto mehr mieten, deswegen brachte mich eine Kollegin meines Mannes zum Flughafen. Es war einfach nur schrecklich. Robert und ich standen in der Küche, konnten gar nicht mehr sprechen. Ich weinte, obwohl ich sonst nicht nah am Wasser gebaut bin. Meine Angst vor der Nachuntersuchung vermischte sich mit der lähmenden Ungewissheit, wann wir uns wiedersehen würden. Es fühlte sich an wie ein Abschied für immer. Ich weinte noch immer, als ich im Auto saß und Robert durch die Heckscheibe immer kleiner wurde.
Mein Alltag findet nun zwischen den Stühlen statt
Nach meiner Ankunft in Deutschland begab ich mich direkt in Quarantäne. Es war die Corona-Hochphase, in der Abstandsregeln und Kontaktbeschränkungen noch für alle galten. Und ich war aus dem Ausland angereist und gehörte selbst zur Risikogruppe. Also zog ich allein in eine Wohnung bei Stuttgart, die ich kurz vorher glücklicherweise geerbt hatte. Ich vermisste Robert, aber am Anfang konnte ich die Ruhe sogar noch genießen.
Eine Woche nach meiner Ankunft kam die Nachuntersuchung. Ich atmete auf: Der Tumor war nicht wieder gewachsen. Aber ich konnte mich nicht lange freuen, denn bald war klar, dass ich nicht in die USA zurückkehren konnte. Der Einreisestopp war auf unbestimmte Zeit verlängert. Nur Green Card Holder, Menschen mit permanenter Aufenthaltserlaubnis, durften einreisen. Mein temporäres Visum, auf das wir so lange gewartet und hingearbeitet hatten, war nichts weiter als ein wertloser Wisch.
Um nicht den Kopf zu verlieren, errichtete ich mir eine strikte Tagesstruktur. Dafür habe ich mir einen richtigen Plan mit Strichliste geschrieben. Jeder erledigte Punkt bekam ein rotes Kreuz. An diesen Gewohnheiten halte ich bis heute fest, denn für mich sind die Entbehrungen durch die Pandemie noch immer so aktuell und intensiv wie andere sie nur im April erlebten.
Mein Tag beginnt früh morgens mit dem Joggen im Wald. Einige Stunden verbringe ich damit, Englisch zu lernen, damit ich gut auf meine Rückkehr nach Grand Rapids vorbereitet bin. Dazu lese ich englische Bücher und schlage die unbekannten Vokabeln nach, höre einen Sprachpodcast und gucke englische Filme. Ich meditiere und ich mache Yoga. Außerdem schreibe ich jeden Tag an Kurzgeschichten über Dinge, die ich im Wald gefunden habe. Letzte Woche war es ein Kartenspiel. Es lag genauso verloren und deplatziert am Wegesrand, wie ich mich fühlte.
Paare wie wir werden vergessen
Jede Woche mache ich einen Brief für Robert fertig – und finde große Freude darin, dabei kreativ zu bleiben. Zuletzt habe ich ihm eine selbst gestaltete Maske geschickt. Von ihm bekomme ich Blumen oder meine teure Lieblingskosmetik. Ein ganzes Buch hat er mir in Whatsapp-Sprachnachrichten vorgelesen: Jeden Morgen saß ich mit meinem Kaffee im Bett und hörte seiner Stimme zu. Meine größte Sorge ist, dass ich es verpassen könnte, wenn die Einreisebeschränkungen für Menschen ohne ständigen Wohnsitz in den USA aufgehoben werden oder sich ein Schlupfloch ergibt. Deshalb checke ich täglich die Nachrichten und lasse mir regelmäßig vom Auswärtigen Amt die Einreiseinformationen für die USA schicken. Zwischendurch hieß es, man könnte über England einreisen – ich hätte sofort meinen Flug gebucht. Aber bisher sind alle Hoffnungsschimmer wieder verloschen. Robert und ich fallen durch jedes Raster.
Dass ein, in meinen Augen, schizophrener und offensichtlich dummer Mensch wie Donald Trump die unfassbare Macht hat, mir die gerade jetzt so wertvolle Zeit mit meinem Mann zu nehmen, macht mich beim Rennen im Wald wahnsinnig wütend. Auch die EU hat die Grenzen für Reisende aus den USA geschlossen, aber das hängt mit den noch immer sehr hohen Infektionszahlen dort zusammen und lässt sich damit rational erklären. Seit Anfang August dürfen Menschen aus den USA sogar wieder nach Deutschland einreisen, um ihre Partner:innen wiederzusehen. Dass Trump Europäer:innen ohne ständigen Wohnsitz in seinem Land pauschal die Einreise verbietet, kommt mir vor wie eine einzige Trotzreaktion.
Für Paare wie Robert und mich hat das harte Konsequenzen. Wir mögen ein Extrembeispiel sein, weil die Zeit, die wir gesund und fit wie jetzt miteinander verbringen könnten, wahrscheinlich begrenzt ist. Aber es gibt neben uns tausende von Paaren, die es auch ohne Krebserkrankung unerträglich finden müssen, nicht zu wissen, wann sie einander wiedersehen können. Sie teilen ihre Erfahrungen auf Twitter unter Hashtags wie #LiftTheTravelBan, #LoveIsNotTourism und #LoveIsEssential. Wir sind die vergessenen, fortdauernd Leidtragenden der Corona-Pandemie. Während alle sich um die Wirtschaft sorgen, gilt Liebe nicht als systemrelevant. Dass die meisten Menschen in Deutschland um mich herum ihren Alltag wieder normal leben und sich dabei sogar über das Tragen von Masken beschweren, kommt mir wahnsinnig absurd vor. Währenddessen fühle ich mich manchmal, als sei ich noch in Quarantäne. Denn die schlimmste aller Kontaktbeschränkungen gilt für mich noch immer.
Unsere Zukunft bleibt ungewiss
Einmal in der Woche treffe ich Robert per Skype für ein gemeinsames, digitales Pancake-Frühstück. Er steht um sechs Uhr früh dafür auf und ist meistens völlig übermüdet. Ich hingegen hungere bis 12 Uhr mittags, bis ich endlich mit ihm essen kann. Diese gemeinsamen Stunden vor dem Laptop sind das Kostbarste für mich.
Wenn ich jetzt einen Weg finden würde, zu ihm zu kommen, würde ich es wohl ohne Rücksicht auf meine nächsten Nachuntersuchungen in Deutschland tun. Zu wertvoll ist diese Zeit, in der es mir körperlich gut geht. Vielleicht könnte man die Untersuchungen irgendwie in den USA nachholen. Und auch ich mache mir Sorgen um Robert. Er arbeitet inzwischen sieben Tage die Woche, hat Herzprobleme bekommen und bei den Infektionszahlen dort ist nicht ausgeschlossen, dass er vielleicht auch an Covid-19 erkrankt. Ich könnte in keinem Fall einreisen, um ihm beiseitezustehen. Sollte meine nächste Nachuntersuchung Ende September zeigen, dass der Tumor wieder gewachsen ist, würde sich Robert wahrscheinlich entschließen, nach Deutschland zu kommen. Er würde damit aber seinen Job aufs Spiel setzen, weil er nicht wieder in die USA einreisen dürfte. Das würde ich nicht wollen.
Trump hat den Einreisestopp für Europäer:innen gerade zum Wahlkampfthema erhoben. Er wird also mindestens bis November daran festhalten. Dann wären wir acht Monate voneinander getrennt.
Wenn ich mir unser Wiedersehen vorstelle, weiß ich, dass ich Robert zuerst lange umarmen werde und, dass dabei viele Tränen fließen werden. Danach wird es sich vielleicht sogar eine Weile lang fremd zwischen uns anfühlen. Aber das wird okay sein und nicht von Dauer. Viel größer ist meine Angst, dass ich dabei vielleicht keine Haare mehr haben könnte. Wegen der Chemotherapie.
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Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Martin Gommel