Selten war ich bei einem Thema so ratlos wie bei der Frage der Schulöffnungen. Ich lese Berichte aus Schweden, die von sehr wenigen Coronainfektionen unter Schüler:innen handeln und denke: Na also, geht doch! Dann eine Nachricht aus Israel, wo ein Lehrer mehrere hundert Menschen angesteckt hat, und denke: Geht doch nicht. Jeden Tag kommt eine Studie, ein Kommentar, ein Artikel, eine engagierte Lehrerin oder ein frustrierter Vater und schmeißt meine Meinung um.
Und dann kommt der Tag, an dem Nordrhein-Westfalen, das größte Bundesland, das neue Schuljahr beginnt, der Tag, an dem die Zahl der gemeldeten Corona-Infektionen in Deutschland auf dem höchsten Stand seit Mai ist, nämlich bei 1.224. Und ich frage mich: Was tun wir hier eigentlich gerade?
Was denn?
Ich weiß es nicht. Niemand (!) kann gerade ernsthaft beantworten, ob die Schulöffnungen richtig oder falsch sind. Auch am Ende dieses Artikels wird es keine definitive Antwort geben. Aber ich nehme euch mit auf die Reise durch ein unklares wissenschaftliches Lagebild. Denn es gibt trotzdem einiges zu verstehen: Was wir wissen und was wir nicht wissen und vor allem wo auf der Skala zwischen richtig und falsch wir uns derzeit befinden.
Okay, dann leg mal los. Ich muss sagen: 30 Kinder plus Lehrkräfte in einen Raum stecken kommt mir bei einem ansteckenden Virus eher wie eine schlechte Idee vor.
Mir auch. Und trotzdem passiert in den Bundesländern, die schon wieder zurück sind aus den Sommerferien, genau das. Jetzt könnte man natürlich denken, den Kultusminister:innen (die haben das so entschieden), ist die Gesundheit der Kinder und Lehrer:innen ziemlich egal.
Könnte man. Wie gefährlich ist es denn für die Kinder?
Lange Zeit dachte man, dass sie sich so gut wie nicht mit Corona anstecken können. Davon ging zum Beispiel eine Studie der Universitätskliniken aus Heidelberg, Ulm, Tübingen und Freiburg aus. Der Tagespiegel schrieb damals: „Kinder infizieren sich deutlich seltener mit dem Coronavirus als ihre Eltern.“
Mittlerweile gibt es neue Studien, und neue Erkenntnisse.
Die Gesellschaft für Virologie, zu der auch Deutschlands berühmtester Virologe Christian Drosten gehört, schreibt in einer Stellungnahme: „Wir warnen vor der Vorstellung, dass Kinder keine Rolle in der Pandemie und Übertragung spielen. Solche Vorstellungen stehen nicht im Einklang mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen.“ Sie schreiben aber auch: „Infektionsraten bei Kindern und deren Rolle in der Pandemie sind bisher nur unvollständig durch wissenschaftliche Studien erfasst.“
Immer noch nicht?
Immer noch nicht. Der wichtigste Satz in dem Papier ist aber vielleicht dieser hier: „Inzwischen liegt der prozentuale Anteil von Kindern an der Gesamtzahl der Neuinfektionen in Deutschland in einer Größenordnung, die dem Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung entspricht.“
Kinder können sich also doch anstecken.
Bei Kindern verläuft eine Infektion glücklicherweise meistens mild. Oft merken sie gar nicht, dass sie sich angesteckt haben. Noch wichtiger ist also die Frage, wie hoch das Risiko ist, dass Kinder die Viren auch an Erwachsene weitergeben. Für die könnte eine Infektion gefährlich werden, vor allem, wenn sie zu einer Risikogruppe gehören.
Die Secondary Attack Rate (deutsch: Sekundäre Befallsrate) gibt den Anteil von Kontaktpersonen an, die ein infizierter Mensch auch tatächlich ansteckt. Bei Erwachsenen liegt dieser Anteil bei circa 15 Prozent. Bei Kindern liegt er hingegen nur bei vier bis acht Prozent.
Warum das?
Sie sind kleiner.
Das soll der Grund sein?
Das ist ein Grund. Weil sie kleiner sind, husten sie Erwachsenen vergleichsweise seltener ins Gesicht. Und weil sie sowieso oft keine Symptome zeigen, husten sie generell weniger als Erwachsene und können das Virus deshalb nicht so schnell verbreiten. Außerdem haben sie kleinere Lungen, sie stoßen also weniger Luft aus (die berühmten Aerosole), die Viren enthalten könnte.
Allerdings: Je älter, desto wahrscheinlicher stecken sie auch Erwachsene an. Die Mehrheit der Schüler:innen ist so alt und groß, dass sie das Virus wie Erwachsene verbreiten. Man darf also zumindest nicht so tun, als würde sich niemand anstecken, wenn man Schulen öffnet.
Ein Gymnasium in Ludwigslust zeigt gut, welche Folgen eine Infektion haben kann. Dort steckt sich eine Lehrerin mit Corona an. Seit dem Schulstart hatte sie Kontakt zu 205 Schüler:innen, die alle in Quarantäne mussten. Auch für die restlichen 600 Schüler:innen ruhte der Präsenzunterricht auch für die darauffolgenden Tage.
Moment. Welche Sicherheitsregeln gelten denn in den Schulen?
In Nordrhein-Westfalen gilt eine Maskenpflicht im Unterricht an allen weiterführenden und berufsbildenden Schulen. Grundschüler:innen müssen im Unterricht keine Masken tragen.
In Sachsen sollen Schulen nach den Ferien Ende August selbst eine Maskenpflicht anordnen können. Sie müssen es aber nicht tun. Bevor ich dir jetzt jedes Bundesland aufzähle (bei Zeit Online gibt es eine gute Übersicht), fasse ich mal zusammen: Jedes Bundesland entscheidet im Detail etwas anders, und jedes Bundesland beteuert, sich dabei ganz genau an die empfohlenen Regeln und wissenschaftlichen Erkenntnisse zu halten. Mein Tipp: Wenn alle behaupten, richtig zu liegen, liegt irgendjemand falsch. Es ist ein Experiment.
Nicht nur in Deutschland. Wie gut klappen die Schulöffnungen in anderen Ländern?
Das kommt ganz aufs Land an. Alle reden von Schweden, fangen wir also damit an. Die Schüler:innen bis zur neunten Klasse gingen dort auch im Frühjahr weiter zur Schule. Eine Studie kommt zu dem Ergebnis: „Es hat nur eine sehr niedrige Zahl von Krankheitsfällen bei Kindern gegeben – trotz der geöffneten Kitas und Schulen.“ Auch Island, Dänemark und Norwegen ähneln Schweden in dieser Hinsicht. Sie hatten mit Ausbruch der Pandemie ihre Schulen zwar geschlossen, aber schon wenige Wochen später wieder geöffnet. Die Befürchtung, das könnte eine neue Infektionswelle auslösen, hat sich in keinem dieser Länder bestätigt.
Das klingt vielversprechend.
Ja, aber nur, wenn man hier aufhört. Es gibt natürlich auch Gegenbeispiele. In Israel hat ein einzelner Lehrer mehrere Hundert Menschen angesteckt. Seitdem ist man dort vorsichtiger geworden. Auch in Deutschland nehmen die Fälle mit jedem Bundesland, das aus den Ferien zurückkommt, zu. Allein in Berlin gibt es bisher Infektionen an 37 Schulen.
Und in den USA sorgt eine Untersuchung für Diskussionen: Eine Studie schätzt, dass Schulschließungen in 26 Tagen 1,4 Mio. Fälle und 40.000 Todesfälle in 16 Tagen verhinderten. Schlussfolgerung: Staaten, die besonders früh Schulen geschlossen wurden, stoppten die Pandemie am besten.
Ach, mann.
Tut mir Leid. Ich habe ja gesagt, eine klare Antwort gibt es nicht.
Kann man denn nicht einfach auf Nummer sicher gehen? Und die Schulen geschlossen lassen, bis man genug über Ansteckungen dort weiß?
Es gibt ein Recht auf Bildung. Das klingt wie eine hohle Phrase, aber die letzten Monate haben gezeigt, dass ohne den Schulbesuch nicht mehr viel von Bildung übrig bleibt. Schulen sind für die Gesellschaft dreifach wichtig: Kinder lernen dort, sie treffen andere Kinder und haben einen sicheren Ort, den sie zuhause vielleicht nicht haben. Wenn man über die Schließung von Schulen entscheidet, muss man wissen: Jede geschlossene Schulen richtet großen Schaden an.
Warte mal. Lief das Homeschooling denn so schlecht?
Homeschooling trifft es nicht ganz. Denn eigentlich betrifft dieser Begriff Menschen, die ihre Kinder der staatlichen Schulpflicht entziehen wollen. Und das wollen die wenigsten. Man könnte also eher von digitalem Fernunterricht sprechen.
Klugscheißer.
Sorry. Aber zurück zu deiner Frage: Viele Kinder waren durch die Schulschließungen auf ihre Familien angewiesen, auf ihr Milieu. Kinder haben sich schlechter ernährt und weniger bewegt. Das ifo-Institut, ein Institut für Wirtschaftsforschung, hat das unter anderem in einer Befragung herausgefunden. Expert:innen gehen davon aus, dass manche Kinder kaum das Haus verlassen haben. Die Zahl der Anzeigen wegen häuslicher Gewalt ging zurück. Nicht, weil sie tatsächlich abnahmen, sondern weil keine Lehrer:innen oder Erzieher:innen da waren, die normalerweise die Verletzungen bei Kindern bemerken. Ungleichheit verstärkt sich, wenn Schulen geschlossen sind.
Da hilft auch der digitale Fernunterricht nicht viel. Der ging nämlich bei vielen Schulen eher nach hinten los.
Haben die Kinder überhaupt was gelernt?
Ja, aber deutlich weniger als sie es in der Schule getan hätten. Kein Kind setzt sich alleine für mehrere Stunden am Stück vor den Rechner und lernt vor sich hin.
Stimmt.
Die Zeit, in der Schüler:innen lernen, hat sich während Corona mehr als halbiert. Auch das hat das ifo-Institut herausgefunden. Was sie stattdessen gemacht haben: ferngesehen, Handy-Spiele gespielt oder in sozialen Medien abgehangen. Pro Tag mehr als fünf Stunden.
Schlechtere Schüler:innen waren von den Schließungen besonders betroffen. Laut der Studie haben sie vier Stunden weniger als vorher mit Lernen verbracht. 45 Prozent der Schüler:innen hatten nie gemeinsamen Onlineunterricht. 67 Prozent der Eltern gaben an, dass ihr Kind weniger als einmal pro Woche persönlichen Kontakt mit einer Lehrkraft hatte. 45 Prozent hatten nie Einzelgespräche mit einem Lehrer oder einer Lehrerin.
Ok, sch***
Eine Zahl noch: Fast alle Schüler:innen (96 Prozent) erhielten mindestens einmal in der Woche Arbeitsblätter, die sie bearbeiten sollten.
Das ist dann also dieser digitale Fernunterricht, von dem alle reden?
Wenn du dich jemals mit der Digitalisierung von Schulen beschäftigt hast, weißt du: Bis Corona wurde sie vor allem verpennt. Also so richtig, da haben die Politiker:innen mindestens 100 Mal auf Snooze gedrückt, bevor sie sich langsam aus dem Bett Richtung Computer bewegt haben.
Das heißt: Als plötzlich alle zuhause bleiben mussten, fehlte fast überall fast alles. Die Lehrer:innen hatten keine Laptops oder Tablets, noch nicht einmal E-Mail-Adressen. Es gab keine Clouds, auf die man etwas hochladen hätte können. Die Schüler:innen waren sowieso nicht ausgestattet, außer ihre Eltern hatte genug Geld und haben selbst ein Tablet oder Computer gekauft. Es gab keine Programme, keine Video-Tools. Es fehlten Datenschutz-Richtlinien. Es fehlten klare Ansagen, mit welchen Programmen die Lehrkräfte arbeiten dürfen. Einige Lernplattformen, die es schon gab, sind direkt in die Knie gegangen, weil zu viele Nutzer:innen auf einmal darauf zugegriffen haben.
Und die Eltern zuhause drehen fast durch, weil nichts funktioniert.
Da kann man auch schon mal wütend werden.
Kann man. Direkt mit dem Finger auf die Lehrer:innen zeigen, ist trotzdem etwas zu simpel. Viele haben sich trotz der schlechten Umstände gut um ihre Schüler:innen gekümmert. Andere haben aber – das sollte man nicht leugnen – eine ruhige Kugel geschoben.
Okay, wie machen wir denn jetzt weiter? Bei der nächsten Infektionswelle gibt es doch wieder digitalen Fernunterricht. Na Herzlichen Glückwunsch.
Das ist vielleicht das größte Problem. Das Konzept der Kultusminister:innen würde ich so zusammenfassen: Wird schon gut gehen. Fragt man Wissenschaftler:innen, sagen die aber: Wird es eher nicht. Immer wieder werden Schulen geschlossen werden (wie die in Ludwigslust), immer wieder wird es zu Ausbrüchen kommen, weil auch außerhalb der Schulen die Menschen unvorsichtiger werden. Immer wieder werden Schüler:innen und Lehrer:innen also zuhause sitzen.
Dafür fehlt weiterhin ein einheitliches Konzept, außerdem Clouds, Laptops, Programme, Fortbildungen. Auf normalen Schulbetrieb zu setzen ist wie ein Glücksspiel, mit verbundenen Augen und mit dem Rücken zum Spielfeld.
Schon klar, nach meinen bisherigen Schilderungen muss digitaler Fernunterricht wie die schlechteste Lösung klingen. Aber es gibt einen Lichtblick. Denn natürlich haben viele Lehrer:innen während der Zeit zuhause viel über digitalen Unterricht gelernt. Und bald sind sie vielleicht sogar dafür ausgestattet.
Haha. Als wenn.
Doch, ehrlich. Alle Schulen sollen an schnelles Internet angeschlossen werden. Und, halt dich fest …
Ich halte mich fest.
… jede Lehrkraft soll einen eigenen Dienstlaptop bekommen.
Nein!
Doch!
Oh!
Angela Merkel, SPD-Chefin Saskia Esken und die Bildungsminister:innen der Länder haben das Mitte August beschlossen. Oder eher: sich vorgenommen. Offiziell beschlossen werden muss das noch, und einen Zeitplan gibt es auch noch nicht. Aber immerhin.
Ja … immerhin.
Redaktion und Schlussredaktion: Philipp Daum; Bildredaktion: Martin Gommel.