„Da stößt die ,Schulmedizin‘ einfach an ihre Grenzen!“ Im Netz und in persönlichen Gesprächen über Medizin und Gesundheit fällt zuverlässig dieser eine Satz. Dann folgt meistens ein Bericht darüber, womit Menschen stattdessen positive Erfahrungen gemacht haben. Und oft beginnt damit eine ziemlich emotionale und überwiegend fruchtlose Debatte über Medizin und alternative Verfahren. (Über diese Debatte habe ich hier schon ausführlicher geschrieben.) Dabei gibt es in diesem Satz ein Wort, dass uns alle sofort zusammenzucken lassen müsste: „Schulmedizin“. Denn dieses Wort ist ein antisemitischer Kampfbegriff.
Warum der Begriff „Schulmedizin“ heute so beliebt ist
Der Ausdruck „Schulmedizin“ gilt als Synonym für die wissenschaftliche Medizin – für geprüfte, nachweislich wirksame und zugelassene Verfahren. Doch wer „Schulmedizin“ sagt, meint meistens nicht allein die etablierten Medikamente oder Behandlungen wie Kopfschmerztabletten oder Physiotherapie. Der Medizinbetrieb an sich, das System, das die medizinische Versorgung organisiert, ist in der Regel mitgemeint. Und wird wie nebenbei damit kritisiert und abgewertet.
Anlass zu berechtigter Kritik bietet der Medizinbetrieb auch genügend: Lange Wartezeiten – dafür kurze Gesprächszeiten. Wenig manuelle Untersuchungen – dafür viel Apparatemedizin. Zu wenig Beachtung der Krankheitsursachen – dafür ein Konzentrieren auf die Symptome. Mit „Schulmedizin“ wollen Kritiker:innen die Grenzen der Medizin betonen und das Gesundheitssystem beanstanden.
Leider erzeugt der Begriff aber einen künstlichen, eindimensionalen Gegensatz. Nämlich den zwischen Verfahren, die zum solidarisch finanzierten Gesundheitssystem gehören („Schulmedizin“), und solchen, die du privat zahlen musst („Alternativmedizin“). Diese scharfe Abgrenzung gibt es in Wirklichkeit aber nicht. Denn einerseits dürfen die Krankenkassen auch sogenannte alternative Verfahren bezuschussen, deren Wirksamkeit nicht belegt ist: zum Beispiel Homöopathie und Osteopathie. Zum anderen wenden auch Mediziner:innen Verfahren an an, denen so ein Nachweis ebenfalls fehlt, wie zum Beispiel Zahnspangen und einige Ultraschalluntersuchungen. Die Kassen erstatten sie aber, weil die Verfahren schon lange zugelassen sind.
Auch die Konnotation „schlecht“ bei allem, was zur „Schulmedizin“ gehört, also alles, was wir durch unsere Krankenkassenbeiträge bezahlen, und „gut“ bei allem, was zur sogenannten „Alternativmedizin“ gehört, ist problematisch. Denn das steht im direkten Widerspruch zu wissenschaftlichen Erkenntnissen und den strengen Prüfprozessen, die Verfahren durchlaufen müssen, bevor die Krankenkassen sie erstatten. „Gut“ müssten wir eigentlich all das nennen, was bei einer bestimmten Krankheit nachweislich wirkt und weniger schadet als nutzt. Das sind die meisten Verfahren, die im Medizinbetrieb einen anerkannten Platz haben. Der Begriff „Schulmedizin“ ist also gar nicht dazu geeignet, Kritik am Medizinbetrieb auszudrücken, weil er Grenzen zieht, wo keine sind und Grenzen verwischt, wo sie dringend nötig sind.
Der Ausdruck trägt so dazu bei, dass Debatten oft wenig differenziert und stark emotionalisiert ausfallen. Und er macht das wichtige und nötige Aushandeln darüber schwieriger, wie Medizin menschlicher werden kann. Wer das, was im Gesundheitswesen schief läuft, kritisieren will, sollte die Kritik lieber konkret formulieren und nicht auf einen Kampfbegriff aus der Nazizeit zurückgreifen.
Wie die Nazis das Wort „Schulmedizin“ benutzt haben
Den Begriff „Schulmedizin“ hat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der homöopathisch orientierte Arzt Franz Fischer verwendet. Er wollte damit alternative Methoden von den damals üblichen abgrenzen, bei denen immer wieder Menschen zu Schaden kamen, wie zum Beispiel bei Schmierkuren mit quecksilberhaltigen Salben gegen die Syphilis. Schon kurze Zeit später, 1880, setzte der Laienhomöopath Heinrich Milbrot „Schulmedizin“ als Kampfbegriff ein, um herkömmliche Medizinmethoden abzuwerten.
Die Nazis werteten zuerst alternative Ansätze weiter auf, um es jüdischen Ärzten und Ärztinnen schwerer zu machen, zu arbeiten. In dieser Zeit war „verjudete Schulmedizin“ ein Kampfbegriff. Ab 1938 untersagten die Nürnberger Gesetze Menschen jüdischer Abstammung, ärztlich tätig zu sein. Umgekehrt sollten nichtjüdische Ärzte und Ärztinnen keine Juden und Jüdinnen behandeln. Damit jüdische Ärzte und Ärztinnen auch nicht als Heilpraktiker:innen arbeiten konnten, verschärften die Nazis auch das Heilpraktikerrecht. Die Nazis verunglimpften Juden und Jüdinnen als Krankenbehandler:innen und als solche durften sie nur noch beschränkt arbeiten. Deshalb ist auch der Ausdruck „Behandler:in“ schwer belastet.
Diese Repressalien führten übrigens schnell dazu, dass ein Ärztemangel entstand, der noch lange nach dem Krieg spürbar war. Denn im Krieg starben viele Mediziner:innen – nichtjüdische kamen meist bei Kämpfen und durch Bomben ums Leben, jüdische wurden von den Nazis ermordet. Dieser Mangel trug wiederum dazu bei, dass es bis heute in Deutschland ein Heilpraktikergesetz gibt. Die Regierung hielt in der Nachkriegszeit an dem Gesetz fest, damit auch Menschen, die nicht Medizin studiert hatten, Behandlungen anbieten konnten. Das half damals dabei, den Medizinbetrieb funktionsfähig zu halten, sorgt aber heute dafür, dass Heilpraktiker:innen oft als gleichwertige Alternative zu Hausärzten und -ärztinnen wahrgenommen werden.
Warum wir den Begriff „Schulmedizin“ abschaffen sollten
Es ist mehr als erstaunlich, dass sich kaum jemand daran stößt, wie historisch belastet das Wort „Schulmedizin“ ist. Anders kann ich mir kaum erklären, dass so viele Menschen diesen Begriff verwenden. Sie benutzen ihn, um sich von einem Gesundheitssystem zu distanzieren, das viele als zu technokratisch und zu inhuman empfinden. Ausgerechnet mit einem Wort, das selbst dazu diente, schlimmste Formen von Ausgrenzungen zu legitimieren.
Ich wünsche mir, dass viel mehr Menschen dieses schwer belastete Wort nicht mehr benutzen. Vor allem wünsche ich mir das von meinen Kolleg:innen. Ich möchte keine Texte über Medizin und Gesundheit mehr lesen, in denen Journalist:innen „Schulmedizin“ schreiben. Und ich wünsche mir, dass sie Menschen, die in medizinischen Berufen arbeiten, nicht mehr Behandler:innen nennen.
Manche werden sich fragen, wie sie ohne den Begriff der „Schulmedizin“ den Unterschied zwischen nicht geprüften und geprüften Verfahren deutlich machen können. Aber kann Medizin, für die nicht wissenschaftlich belegt ist, dass sie wirkt, wirklich Medizin heißen? Ich meine nein.
Ich jedenfalls habe einen Entschluss gefasst: Neben „Schulmedizin“ soll hier bei Krautreporter auch nicht mehr von „Alternativmedizin“ die Rede sein. Ich kennzeichne ab jetzt Medizin, die den Nachweis erbracht hat, dass sie wirkt und mehr nutzt als schadet mit genau diesem einfachen, klaren Wort: Medizin. Den Rest, also alle Verfahren und Mittel, denen dieser Nachweis fehlt, benenne ich nach Möglichkeit konkret. Da, wo das nicht möglich ist, rede ich von Verfahren, denen der Wirksamkeitsbeleg fehlt.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Belinda Grasnick; Bildredaktion: Verena Meyer; Audioversion: Iris Hochberger.