Viele Großstädter:innen kennen dieses Gefühl, das auch mich bislang immer wieder eingeholt hat: Jeden Tag verpasse ich irgendeine Lesung, Party oder ein anderes Event. Und an der Ecke hat eine neue Bar mit Livemusik aufgemacht, da wollte ich doch schon seit Wochen mal vorbeischauen. Die To-Do-Liste, die ich seit meinem Umzug nach Berlin im Kopf führe, wird einfach immer länger – und mit ihr wächst mein Gefühl des Versagens. Alle um mich herum verwirklichen sich selbst in irgendeinem Start-up oder studieren Sozial- und Kulturanthropologie und schaffen es irgendwie trotzdem noch, auf diese Demo am Samstag zu gehen, haben sich durch sämtliche Clubs getanzt, wissen immer, wo man in der Nähe den besten veganen Donut bekommt und mischen nebenbei in Workshops für angewandte Kapitalismuskritik ihr eigenes Haarshampoo zusammen.
Corona hat all das eine Zeit lang unterbunden. Ich habe es natürlich auch vermisst, mich abends mal auf ein Bier mit meinen Freund:innen zu treffen. Aber dennoch muss ich sagen: meine Fomo (Fear of missing out), meine Angst davor, etwas zu verpassen, hat sich in Luft aufgelöst. Auch wenn jetzt langsam wieder Normalität einkehrt, hat mir die Zeit der Kontaktbeschränkungen nicht nur einen Sauerteig-Ableger und einen Büchertausch mit den Nachbar:innen beschert, sondern meine Gelassenheit zurückgegeben. Nur weil es all die Angebote gibt, bin ich noch lange nicht glücklicher, wenn ich ständig von einem Event zum nächsten hetze. Ohne den Freizeitstress ging es mir in der Corona-Zeit ganz hervorragend und die Gewissheit darüber hält an. Viel glücklicher macht mich aktuell zum Beispiel unser WG-Balkon, auf dem der Lavendel blüht und tatsächlich ab und zu eine Biene vorbeischaut. Schockierende Erkenntnis, oder?
Ich gehöre zu den Glücklichen, die etwas Gutes aus der Krise ziehen konnten. So ging es auch den KR-Mitgliedern, die sich auf meine Umfrage gemeldet haben. Sie erzählen von ihren Erlebnissen und davon, was sie in der Zeit der Kontaktbeschränkungen gelernt haben. Eines möchte ich vorwegschicken: Auf keinen Fall will ich den Eindruck erwecken, die Pandemie habe sich gelohnt. Es ging in meiner Umfrage nicht um die Menschen, die sich mit Covid-19 infiziert haben und vielleicht noch immer nicht gesund sind, die ihren Job oder ihr Geschäft verloren haben oder Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind. Von Entschleunigung können sicher auch Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, oder das Supermarktpersonal eher wenig berichten.
Diese Probleme will ich nicht überschatten. Trotzdem geht es in diesem Text um die besonderen Momente und Erfahrungen, die es ohne Corona nie gegeben hätte, und um neue Gewohnheiten, die man nicht wieder ablegen sollte. Denn ich bin mir sicher, dass es ein Verlust wäre, wenn einfach alles so werden würde wie vor der Pandemie.
Viele haben mehr Zeit dank Homeoffice
Die offensichtlichste Veränderung war für viele die Umstellung im Arbeitsleben. Das Arbeiten von zuhause aus wurde zum neuen Standard – und das klappte in vielen Unternehmen besser als erwartet. KR-Mitglied Katrin schreibt: „Mein Chef musste zugeben, dass trotz vieler Kollegen im Homeoffice der Laden weiterlief. Zuvor waren Homeoffice und Gleitzeit absolut verpönt bei uns.“ Positive Erfahrungen hat auch Jonas gemacht: „Mein Team ist in der Homeoffice-Situation viel produktiver als vorher. Unsere Firma wird uns frühestens im September wieder ins Büro lassen, aber eigentlich will niemand von uns wieder zurück.“
Einer der größten Vorteile am Homeoffice ist für viele, dass sie mehr Zeit haben, wenn die Fahrt zum Arbeitsplatz entfällt. Sascha arbeitet ohnehin ausschließlich am Computer und meint, er sei früher eigentlich nur ins Büro gefahren, um das Wlan dort zu nutzen. Er will sich in seiner Firma, einer Digitalagentur, dafür einsetzen, dass es auch in Zukunft möglich bleibt, zuhause zu arbeiten: Weniger Pendeln und mehr Flexibilität haben ihn „insgesamt zu einem ausgeglicheneren Menschen gemacht, der trotz gleicher Arbeitszeit mehr von allem hat: von seiner Zeit, seinem Geld und seinen Nerven. Davon profitiert das Wichtigste, was ich habe: die Familie.“
Familien wuchsen wieder enger zusammen
Wenn Menschen über längere Zeit auf engem Raum zusammen sind, ist Stress eigentlich vorprogrammiert – dachte ich. Bei vielen war es andersherum. Meine WG ist zur Ersatzfamilie geworden und wir haben es richtig genossen, jeden Abend zusammen zu kochen. Auch die meisten KR-Mitglieder haben in meiner Umfrage die zusätzliche Zeit mit der Familie positiv erwähnt. Sicher war es anstrengend für Familien, Arbeit und Kinderbetreuung zu vereinbaren. Aber viele bekamen dadurch auch die Chance, wertvolle Momente in der Entwicklung der Kinder selbst mitzuerleben. So freut sich Paula: „Den ersten rausgefallenen Wackelzahn habe ich dank Corona live mitbekommen!“ Und Luise aus Jena berichtet: „Mein Kleiner hat endlich einmal mehr Zeit mit seinem Papa gehabt und seitdem darf auch mein Mann in der Nacht zu ihm, wenn er weint.“ Gab es dank Corona im Einzelfall doch einen Punktgewinn gegen die klassische Rollenverteilung?
Selbst erwachsene Kinder haben die Beziehung zu ihren Eltern zum Teil wieder intensiviert. So wie Helle, die kurz vor den Kontaktbeschränkungen gemeinsam mit ihrer Schwester überstürzt zu ihrer Mutter „flüchtete“: „Ich war so lange am Stück zuhause wie seit meinem Auszug vor acht Jahren nicht mehr. Das war einerseits herausfordernd und tat andererseits mal wieder echt gut!“
Auch einige Paare sind sich wieder nähergekommen. So ging es jedenfalls Anne und ihrem Mann – nach 25 Jahren Beziehung: „Wir waren jeden Abend mindestens eine Stunde zusammen spazieren. Das Laufen beim Reden setzt eine völlig andere Dynamik frei und auch bei Konfliktgesprächen ist es gut, nicht in den üblichen vier Wänden zu sein. Wir schätzen das und wollen es gern beibehalten.“
Einige Familien haben sich zum ersten Mal digital getroffen. Dagmar findet: „Das Beste an den Kontaktbeschränkungen ist der tägliche Familien-Call. Jeden Tag um 16 Uhr skypen mein über 80 Jahre alter Vater, meine Schwester und ich für 15 bis 20 Minuten und tauschen uns aus. Das haben wir seit Jahren nicht getan.“ Ähnlich ist es bei Gudrun. Ihre Kinder leben weit verstreut in Leipzig, Berlin, an der Nordsee und in Los Angeles – jetzt treffen sie sich regelmäßig zum digitalen Kaffeeklatsch. Gudrun ist sich sicher: „Ohne Corona wäre wohl keiner auf die Idee gekommen.“
Soziale Kontakte wurden beschränkt – und trotzdem intensiviert
Überhaupt verbesserte sich bei vielen die Qualität ihrer bisherigen Beziehungen, dadurch dass sie schlicht weniger Menschen trafen. Clara schreibt: „Ich habe meine Freundschaften neu schätzen gelernt und dadurch, dass man sich lange nur mit einer Person treffen durfte, viel mehr Eins-zu-eins-Zeit mit meinen Lieben verbracht.“ Nina aus Dortmund ging es ähnlich: „Ich habe gemerkt, auf wen es ankommt.“
Dass das nicht nur für Freund:innen gilt, die man in den engen Kreis der Kontaktpersonen aufgenommen hat, beweisen Regina und Ulrich. Sie haben „das Telefon wiederentdeckt“ und fanden endlich Zeit, sich mal wieder bei alten Bekannten zu melden. So ging es auch Marion: „Es war schön zu spüren, dass immer noch eine Bindung existiert und auch nach so langer Zeit des Nicht-Kontakts noch die Bereitschaft vorhanden ist, füreinander da zu sein.“ Dazu gibt Nicole aus Göttingen den Tipp: „Digitales Stadt-Land-Fluss-Spielen wirkt Wunder, um alte Freundschaften wiederzubeleben.“
Der Lockdown eröffnete einen neuen Blick auf die eigene Stadt
Auch direkt vor der Haustür hat sich für viele ein völlig unbekanntes Universum eröffnet. Das Homeoffice und die fehlende Abwechslung haben viele vor die Tür getrieben, um die Stadt zu erkunden. Ulrike lernte Berlin vom Fahrrad aus völlig neu kennen: „Ich bin jeden Tag ohne konkretes Ziel losgeradelt, wenn mir zuhause die Decke auf den Kopf zu fallen drohte. Durch die anfangs leeren Straßen, unbekannten Stadtviertel in den Grunewald hinein. Noch nie zuvor habe ich den Frühling und Frühsommer in Berlin so bewusst und intensiv erlebt.“
Überraschungen hielt die Großstadt auch für Vera bereit: „Am Anfang war es so ruhig in Hamburg, dass ich bemerken konnte, wie schön die Stadt ist und wie viel Natur sich in ihr versteckt. Ich habe die Vögel zwitschern hören, laute lange Konzerte mitten in der Stadt.“ Auch Dagmar hatte große Freude an den verschiedenen Vögeln, die sie in ihrem Hinterhof beobachten konnte. Sie bilanziert zufrieden: „Die Kontaktbeschränkungen haben mich meine nähere Umgebung wieder bewusst sehen lassen.“
Ina hat ein Lied geschrieben
Während viele das Spazierengehen, Joggen oder Radfahren für sich entdeckten, haben sich andere Projekten zuhause gewidmet. Eine Freundin von mir hat plötzlich alle mit ihrer selbstgemachten Wolljacke überrascht. Ich hatte bis dahin keine Ahnung, dass sie stricken kann. KR-Mitglied Diana hatte auf einmal die Zeit, sich um einen gerade übernommenen Schrebergarten zu kümmern: „Schwanger machte ich mich ans Werk. Und nun, drei Monate später, können wir mit dem Baby auf dem Arm buchstäblich die Früchte von Corona ernten. Das hätten wir sonst nie so schnell geschafft.“ Und Jeanne berichtet: „Ich fing an, Kurzgeschichten zu schreiben, etwas, das schon lange als Idee im Kopf war, aber nie realisiert wurde.“
Auch Ina aus Bochum wurde kreativ – sie fing an, einen Song zu schreiben: „Eines Abends Ende März sitze ich müde da und plötzlich kommt mir die Idee zu einem Lied. Der Song beruhigt mich, aber in der Strophe zeigt er das wahnsinnige Tempo, das ich vor dem Lockdown zugelassen habe.“
Einkaufstouren wurden seltener unternommen
Ein von vielen beschriebener Aha-Effekt: Weniger Shopping ist möglich und tut auch noch gut. Zum Beispiel hat Ulrike festgestellt, dass sie gut damit auskommt, viel seltener einkaufen zu gehen: „Ich habe mir sonst eher nicht die Frage gestellt: Muss das wirklich heute eingekauft werden oder reicht es auch noch in ein paar Tagen? Oder ist es überhaupt notwendig? Auf Shopping jenseits von Lebensmitteln verzichte ich bisher weiterhin komplett – und das fühlt sich gut an!“ Auch Nathalie aus Köln ist viel bewusster einkaufen gegangen, „weil der Aufwand einfach höher war. Da merkt man, dass man gar nicht so viel braucht.“
Introvertierte waren zur Abwechslung im Vorteil
Weniger ist mehr? Das scheint eine der Lehren aus der Corona-Zeit zu sein. Besonders für Introvertierte. Julia aus Heidelberg schreibt: „Für mich war es eigentlich eher schön, mal nicht so viele Menschen sehen zu müssen. Normalerweise fühle ich mich dabei immer schlecht. Aber jetzt ging es ja jedem so.“
Heike hat eine Sozialphobie. Sie bestätigt, auch ihr persönlicher Stress pausierte für eine Weile: „Ich gehe sonst nie offline einkaufen, weil ich Menschen um mich herum nicht ertragen kann. Eng gedrängte Warteschlangen sind die Hölle, den ganzen Leuten auf der Straße zu begegnen, an Cafés vorbei zu müssen, wo Menschen sich lautstark unterhalten.“ Sie war einige Wochen lang das erste Mal wirklich entspannt in Berlin unterwegs.
Sonst sind die Bedürfnisse von Introvertierten eher selten von Vorteil, aber in der Corona-Zeit lohnte es sich, wenn man gut mit sich selbst allein sein konnte und außerhäusige Aktivitäten kein unabdingbarer Bestandteil eines jeden Wochenendes sein müssen. Das lernten auch die sonst sehr Geselligen, so wie Regina aus Neuburg: „Nach zwei Tagen Corona dachte ich; in welchem Wahnsinn lebst du denn normalerweise? Keine Termine mehr auf einmal, und da wurde mir sehr bewusst, wie ich ansonsten durch den Tag hetze. Mir wurde klar, dass es mir viel besser geht, wenn ich nicht so viel vorhabe.“ Auch Kira tat die Zeit der Selbstbeobachtung gut: „Ich habe Zeit mit mir verbracht. Mich selbst wahrgenommen wie ich bin ohne andere um mich.“ Für Svenja steht allerdings fest: „Ich bin wirklich sehr gern allein. Über Monate keinen anderen Menschen zu berühren, tut trotzdem nicht gut“.
Gutes aus der Krise ziehen konnten diejenigen, denen es ohnehin gut geht
Fast alle, die bei der Umfrage mitgemacht haben, sind sich ihrer Bedürfnisse bewusster geworden. Viele haben auch erkannt, dass in ihrem Leben einiges gut laufen muss, sodass sie für sich etwas Gutes aus der Krise ziehen konnten. Die Glücklichen von uns, die den Raum hatten, sich auf sich selbst zurückzubesinnen, könnten darauf achten, dass sie aus den positiven Erfahrungen langfristig etwas lernen und unsere Gesellschaft in einigen Bereichen ein Stückchen besser machen. Dabei helfen vielleicht bedeutsamere soziale Beziehungen, mehr Rücksichtnahme auf Introvertierte, flexiblere Arbeitsmodelle, digitale Freizeitangebote oder bewusstes Konsumieren. Und manch ein schönes Erlebnis steht einfach nur für sich – wie der gemeinsam gefeierte Verlust des ersten Milchzahns.
Und ich – habe fürs kommende Wochenende noch absolut keine Pläne. Wen kümmerts? Ich freue mich schon darauf, es mir zusammen mit den Bienen und einem Buch vom Büchertausch auf dem Balkon bequem zu machen.
Ich möchte mich bei allen 172 KR-Mitgliedern bedanken, die sich an der Umfrage beteiligt haben: Marion, Simon, Gudrun, Andrea, Jessi, Roland, Daniela, Diana, Felicitas, Julia, U., Gero, Dana, Julia, Kristof, Wilfried, Alexander, Rike, Sebatian, Sebastian, Christian, Nina, Dan, Nina, Susie, Walter, Alex, Martin, Naomi, Sabine, Joachim, Anke, Florian, Sascha, Deliah, Sabine, Marie, Sonja, Kai, Fritz, Dagmar, Michaela, Katrin, Konrad, Nathalie, Mona, Patrick, Clara, Silke, Jan, Thomas, Christoph, Chris, Claudia, Britta, Nina, Heike, Elke, Dierk, Susanne, Wilfried, Ulrike, Grete, Su, Paula, Bent, Marion, Luise, Yoreme, Sandra, Ina, Michael, Julia, Susanne, Beate, Michael, Thomas, Corinna, Jenny, Frank, Janina, Wiebke, Martin, Lauretta, Knut, Judith, Anita, Dirk, Eckhard, Yan, Johanna, Lisa-Marie, Lutz, Leah, Christiane, Anna, Jonas, Rich, Thore, Türker, Anne, Kira, Kathrin, Margarete, Karin, Jacqueline, Wilfried, Ulrich, Heinz, Bela, Alexandra, Conny, Werner, Sebastan, Bettina, Karsten, Jeanne, Bernd, Henry, Oliver, Erik, Luise, Martin, Kai-Uwe, Helle, Marie, Niko, Manu, Tom, Thomas, Siegfried, Karl, Juliane, Tessy, Vera, Astrid, Anne, Fanny, Till, Sabine, Kajetan, Serkan, Sophia, Jeannette, Ute, Regina, Marianne, Anika, Nicole, Hanna, Felix, Megan und Clarissa.
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Redaktion: Belinda Grasnick; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Martin Gommel.