Als die Bilder überfüllter Krankenhäuser in Italien am letzten Februar-Wochenende um die Welt gingen, wussten die Anleger, dass dieses Virus keine chinesische Angelegenheit mehr war. Am Montag, als die Börsen wieder aufmachten, begannen viele von ihnen zu verkaufen, erst nur die risikoreichsten Anlagen, irgendwann den ganzen Rest.
Es flogen aus den Portfolios: Jahrhundertkonzerne wie das Pharmaunternehmen Johnson & Johnson, der Quasimonopolist Amazon, Gold, Öl und selbst die als besonders sicher geltenden US-Staatsanleihen. Es begann der „Alles-Muss-Raus-Crash“. Von ganz oben bis zu seinem Tief verlor der US-amerikanische Aktieninex Dow Jones knapp 40 Prozent, wie sein deutsches Pendant, der Dax, 40 Prozent.
Und heute? Stehen die Aktienkurse höher, viel höher, fast so hoch wie vor der Corona-Krise. Viele Technologie-Aktien sind sogar auf Allzeithochs angekommen. Die vergangenen zweieinhalb Monate waren eine historische Rallye, die selbst Profi-Investoren mit jahrzehntelanger Erfahrung entgeistert zurückließ. Daran ändert auch der Rutsch nach unten in den letzten Tagen nichts.
Wie kann das sein? Wie können Aktien so stark steigen – inmitten einer Wirtschaftskrise, die gemessen an fast allen Wirtschaftsdaten zur schwersten gehören dürfte, die die Welt seit 80 Jahren gesehen hat?
Wer das verstehen will, darf ironischerweise nicht auf die aktuelle Lage der Wirtschaft schauen. Sie ist, im Moment, völlig egal. Denn diese Rallye haben nicht brummende Unternehmensgewinne angetrieben. Die Protagonisten dieses Stücks sind: die Zentralbanken der Welt, PR-Abteilungen von Pharmafirmen, gelangweilte Glücksspieler und du, ja du, der oder die du vielleicht gerade zum ersten Mal im Leben Geld in den Aktienmarkt gesteckt hast und beim Blick ins Depot merktest: Es geht ja nur aufwärts.
Akt 1: Der Schock
Eine Sache missverstehen viele oft: Börsenprofis schauen nicht zuerst auf den möglichen Gewinn, sondern auf den möglichen Verlust. Striktes Risikomanagement ist Pflicht. Das ist das wichtigste Prinzip hinter dieser irren Rallye. Alles leitet sich davon ab. Auch der erste Crash Mitte März.
Denn die Corona-Pandemie verschleierte den Blick für die Anleger:innen: Geschäftsprognosen der Unternehmen waren schlagartig veraltet, und es war nicht klar, was passieren würde. Man musste vom Schlimmsten ausgehen: Modell China, monatelang alles zu. Viele Anleger saßen aber nach zehn Jahren Börsenboom auf Gewinnen. Die galt es jetzt zu sichern. Zuerst flogen die Risikopositionen raus, die Anlagen derjenigen Unternehmen, die ganz offensichtlich unter der Pandemie leiden würden. Kreuzfahrtunternehmen, Autovermieter, Airlines, Betreiber von Einkaufszentren. Danach flogen die Aktien der hochverschuldeten Unternehmen raus, Firmen wie Uber oder der Fracking-Firmen aus den USA.
Die computergestützten Handelssysteme stellten auf Abwärtstrend um und beschleunigten den Abverkauf noch. Gleichzeitig aber brauchten einige Händler, die auf Kredit spekuliert hatten, nun schnell Cash, um ihre Kredite zurückzuzahlen. Sie verkauften, was noch Gewinn brachte: die Qualitätstitel. Dann wurden Dollar plötzlich knapp außerhalb der USA, die Zinsen für italienische Staatsanleihen explodierten und an einem Tag kam sogar der größte und stabilste Markt der Welt ins Rutschen: Für ein paar Stunden fand sich niemand mehr, der US-Staatsanleihen kaufen wollte. Der Markt fror ein, Panik griff um sich. Jede Anlage war ein Risiko. Die nächste Finanzkrise war, würde es so weitergehen, nur noch eine Frage von Tagen.
Akt 2: Die Auferstehung
In der letzten Finanzkrise 2008/2009 retteten die Zentralbanken das Finanzsystem mit einer Reihe von neuen, bis dato kaum in diesem Maßstab erprobten Maßnahmen. Vereinfacht gesagt: Sie fluteten das System mit Geld. Und das veränderte die Art und Weise, wie Börsen funktionieren. Deswegen ist es wichtig, sich diesen Mechanismus genau anzugucken.
Die Zentralbanken überweisen nicht einfach Geld an Firma X oder Bank Y, sie gehen indirekt vor: Sie kaufen Staatsanleihen und machen sich das oberste Prinzip der Geldanlage zu Nutzen: Risikomanagement.
Kredite, die gut geführte Staaten mit einer starken Wirtschaft aufnehmen, gelten als besonders sicher. Deswegen müssen sie ihren Geldgebern nicht so hohe Zinsen zahlen; das Risiko ist ja klein, dass diese ihr Geld nicht wiedersehen. Gerade zahlen die USA für eine zehnjährige Anleihe 0,65 Prozent Zinsen, Deutschland minus 0,4 Prozent. Damit lässt sich also fast kein Geld verdienen. Aber dafür sind solche Anleihen eben auch sicher.
Wenn nun eine Zentralbank das System mit Geld fluten will, kann sie den für Banken relevanten Leitzins senken, was dazu führen sollte, dass es generell billiger wird, Geld zu leihen. Oder sie kauft selbst Staatsanleihen. Dadurch sinken deren Zinsen. Denn je mehr potentielle Geldgeber es gibt, desto weniger muss ein Staat bieten, um sich Geld leihen zu können. Und praktischerweise sind diese neuen Käufer die mächtigsten, die es gibt, denn Zentralbanken können per Knopfdruck so viel Geld erschaffen, wie sie wollen.
In den chaotischen Märzwochen begannen die Zentralbanken damit, in einem bis dato nie gesehenen Ausmaß Anleihen zu kaufen. Dieses Schaubild zeigt, dass allein die US-amerikanische Zentralbank (Fed) in vier Wochen mehr Geld in die Hand genommen hat als in den gesamten zwei Jahren nach der Finanzkrise. Die Kurve zeigt, wie groß die Bilanz der Zentralbank ist. Grau hinterlegt ist die Zeit der Finanzkrise, der Sprung nach oben, das sind die letzten Monate. Die Bilanzsumme hat sich in sehr kurzer Zeit von einem sowieso schon hohen Niveau aus fast verdoppelt:
Aber es war nicht nur die Fed. Die Zentralbank von Bangladesch begann, Anleihen zu kaufen, und die Zentralbank von Brasilien und auch die von Südafrika. Überall auf der Welt sanken im März die Zinsen im Rekordtempo, und das Signal an die Finanzwelt war klar: Die Märkte werden funktionieren, dafür sorgen wir. Das war Botschaft eins. Botschaft zwei war aber wichtiger: Bei Staatsanleihen gibt es nicht mehr viel zu holen, ihre Zinsen sinken. Sie sind zwar sicher, aber nicht sehr gewinnbringend. Die Zentralbanken bestätigten damit einen Trend, der schon seit Jahren anhält.
Das reichte aber noch nicht ganz, die Märkte zu beruhigen. Denn in den vergangenen Jahren hatten sich nicht nur viele Staaten immer weiter verschuldet, sondern auch sehr, sehr viele Unternehmen. Uber: noch nie auch nur einen Dollar Gewinn gemacht, aber zehn Milliarden Dollar Schulden. Netflix: 15 Milliarden Dollar Schulden. American Airlines: 34 Milliarden Dollar Schulden. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Die Deutsche Bank schätzt, dass fast jedes fünfte Unternehmen in den USA mehr Schulden hat, als es allein aus seinen Profiten abzahlen könnte. Hunderten Unternehmen drohte deswegen im Corona-Crash die Zahlungsunfähigkeit, niemand wollte ihnen mehr Geld leihen. Wären die Firmen pleite gegangen, hätten gleichzeitig ihre alten Geldgeber, die Banken, große Probleme bekommen. Was nun?
Here comes the Fed. Mitte März verkündete die amerikanische Zentralbank, dass sie fortan nicht nur Staatsanleihen kaufen werde, sondern auch Anleihen von Unternehmen, die besonders riskant waren, sogenannte „Junk Bonds“. Das war die dritte und wichtigste Botschaft an die Märkte: Ehe der Markt diese Unternehmen pleite gehen lässt, retten wir sie vor der Insolvenz – und schützen damit, so jedenfalls die offizielle Begründung der Fed: Arbeitsplätze.
Versetzen wir uns nun in die Lage eines Investors mit sehr vielen Barreserven: Bei den sicheren Staatsanleihen gibt es fast keine Rendite. Gleichzeitig wurde das akute Insolvenzrisiko im Aktienmarkt von der Zentralbank herausgenommen. Und, viele Aktien gibt es gerade gemessen an den Jahren vorher zum Schnäppchenpreis.
Mike Wilson, Chef der Investmentabteilung bei der Bank Morgan Stanley hat in den Tiefs der Märzwochen gekauft. Seine Begründung: „wegen der großen fiskalischen Unterstützung der Fed.“ Die Begründung ist aufschlussreich, weil Wilson kein Wort über den realen Zustand der Wirtschaft verliert. Entscheidend sind die Hilfen der Fed.
Damit war ein Boden in die Märkte eingezogen: ein Punkt, an dem sich erstmal immer wieder Käufer finden werden. Die Risikokalkulation hatte sich komplett verändert. Und als dann quasi direkt mit der Einführung der Corona-Maßnahmen gleich wieder über Lockerungen diskutiert wurde, gab das einen neuen Schub. Ein Ende war absehbar, gleichzeitig gaben immer neue Meldungen von Pharmaunternehmen über Impfstoffe und Medikamente – ob plausibel oder nicht – die Hoffnung, dass das Coronavirus bald besiegt werden könnte.
Währenddessen wurden Aktienbroker mit Neuanmeldungen überrannt. Millionen glaubten an die Chance ihres Lebens und eröffneten Aktiendepots, darunter auch Menschen, die sich ihren kleinen Kick eigentlich durch Wetten auf Football, Fußball oder Pferderennen holen, aber nun mangels Sportereignissen auf Aktienwetten umstiegen.
Viele Profianleger waren am Anfang skeptisch, vielleicht sind sie es immer noch, aber inzwischen ist die Rallye so weit gelaufen, dass die Profis mindestens einen Fuß in der Tür haben müssen – also kaufen sie. Was der Markt in den letzten Wochen erlebt hat, ist das genaue Gegenteil dessen, was im März geschah: Kaufpanik. Neudeutsch: Fomo, Fear of missing out.
Akt 3: Das Nachspiel
Gemessen am üblichsten Verfahren zur Aktienbewertung ist der Markt inzwischen so teuer wie auf dem Höhepunkt der Dotcom-Bubble aus dem Jahr 2000.
Diejenigen, die rechtzeitig eingestiegen sind, haben große Gewinne gemacht. Zu verdanken haben sie das den Zentralbanken: Der Markt gehört ihnen. Die Fed kann im Alleingang die Märkte aufblasen oder abstürzen lassen. Das geschah schon zweimal vorher: Vor der Dotcom-Bubble und vor der Finanzkrise. In den libertären Kreisen der USA sprechen sie deswegen schon von neuer „Planwirtschaft“. Was sich abgedreht und schrill anhört, findet ein Echo in den Worten von Mohammed El-Erian, einem der angesehensten Vermögensverwalter der Welt:
„Je mehr die Märkte die Wirtschafts- und Geschäftsdaten ignorieren und sich auf die Fed verlassen, desto schwerer fällt es ihnen, ihre Ressourcen effektiv in der gesamten Wirtschaft einzusetzen. Die entscheidende Rolle der Aktienkurse als Signal dafür, welche Unternehmen die besten Aussichten haben, wird ausgehöhlt. Das untergräbt das Produktivitätswachstum und beeinträchtigt die Fähigkeit der Wirtschaft, ein hohes Wachstum und eine stabile Arbeitsplatzschaffung aufrechtzuerhalten.“ (Hervorhebung von mir)
Die große Mehrzahl der Menschen aber hat nicht genug Geld, um sich Aktien zu kaufen, vielleicht hat sie gerade Angst vor der Arbeitslosigkeit. So fließen die spektakulären Gewinne vor allem in die Taschen der oberen zehn, zwanzig Prozent. Gerade in den USA haben auch viele, die es sich leisten können, begonnen, die unerwarteteten Hilfen vom Staat in den Aktienmarkt zu stecken. Wer Kapital hat, wird belohnt, wer für sein Geld arbeiten muss, geht leer aus. Es ist eine Wiederholung der Finanzkrise. Nur das bisher Banken keinen Rettungsschirm, den sogenannten Bail-Out bekommen haben, sondern nur hochverschuldete Unternehmen, die in den Boom-Jahren schlecht gewirtschaftet haben.
Die letzte Finanzkrise radikalisierte in den USA die Basis der republikanischen Partei. Die Tea-Party-Bewegung entstand und sechs Jahre später wurde Donald Trump Präsident. Studien zeigen, dass die Finanzkrise das Vertrauen in die Institutionen des Staates untergraben, und so den Aufstieg von Rechtsextremen beschleunigt hat.
Vermögensverwalter El-Erian sagt: „Wenn es nicht gelingt, die aktuellen Kurse der Vermögenswerte durch eine deutliche wirtschaftliche Erholung zu bestätigen, ist das längerfristige Wohlergehen nicht nur der Wirtschaft und der Märkte, sondern auch der Institutionen und der Gesellschaft gefährdet.“
Die Zentralbanken haben die Märkte mit einem billionengroßen Schnuller befriedet, aber für eine Sache haben selbst sie nicht genug Geld: gesellschaftlichen Frieden.
Redaktion: Philipp Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Martin Gommel