Zehn wichtige Entwicklungen, die wegen Corona völlig untergehen

© Getty Images / Luke Dray

Psyche und Gesundheit

Zehn wichtige Entwicklungen, die wegen Corona völlig untergehen

Daten, die von Andreas Scheuers Minister-Handy verschwinden, exponentiell wachsende Heuschreckenplagen und vorsichtige Annäherungen in Afghanistan.

Profilbild von Alisa Sonntag und Nora Theisinger

Ein Blick auf die internen Lesestatistiken von Krautreporter zeigt: Die Corona-Pandemie war in den vergangenen Wochen das Top-Thema, an manchen Tagen sogar fast das einzige Thema, für das sich die Menschen interessierten. Aber es ist natürlich noch viel mehr in der Welt passiert. Wichtige Themen sind untergegangen. Deswegen haben wir diesen kompakten Überblick für euch erstellt: zehn Themen, jeweils mit Links zum Weiterlesen.

1. PKW-Maut: Wichtige Handydaten von Verkehrsminister Andreas Scheuer sind verschwunden – Untersuchung läuft weiter

Zur Erinnerung: Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) hatte ursprünglich für 2020 die Einführung einer PKW-Maut geplant. Diese erklärte der Europäische Gerichtshof (EuGH) allerdings im Juni 2019 für rechtswidrig.

Allerdings hatte Verkehrsminister Andreas Scheuer schon vor der endgültigen Entscheidung des Gerichts zwei Firmen beauftragt, die PKW-Maut umzusetzen Der Bund hatte die Verträge schnell wieder gekündigt, aber die Firmen CTS Eventim und Kapsch fordern trotzdem 500 Millionen Euro.

Hinzu kommt: Es gibt Zweifel an der Art und Weise, wie der Verkehrsminister die Verträge mit den Firmen abgeschlossen hat. Ein Untersuchungsausschuss des Bundestages prüft nun den Fall und hat dafür die Einsicht von Scheuers Handydaten gefordert. Pikant: Die entscheidenden Handydaten aus dem Februar 2019 wurden gelöscht. Die Tagesschau berichtete am 1. April, das Verfahren laufe weiter, allerdings würden die Parlamentarier im Untersuchungsausschuss die Zeugen wegen Corona erst später als geplant befragen können.

2. Die Zahl rechtsextremer Straftaten ist 2019 gestiegen und im Fall Hannibal gibt es Ungereimtheiten

Rassismus, Antisemitismus und Verschwörungstheorien erfahren – wie so oft in Krisenzeiten – aktuell ein neues Hoch. So bringen Zeit-Recherchen den Mord an einem 15-jährigen Kurden in Celle Anfang April in Verbindung mit rechtsextremen Verschwörungsideologien. Auch insgesamt ist 2019 die Zahl rechtsextremer Straftaten gestiegen. Das zeigen im April vorläufige Zahlen aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine kleine Anfrage der Grünen.

Außerdem hat das Bundesinnenministerium Mitte März zum ersten Mal eine Gruppe von Reichsbürger:innen und Rechtsextremist:innen verboten. Gleichzeitig musste der ehemalige AfD-Politiker Wolfgang Gedeon wegen seiner antisemitischen Äußerungen die Partei verlassen und sitzt jetzt als partei- und fraktionsloser Abgeordneter im baden-württembergischen Landtag.
Aktuelle Taz-Recherchen zeigen außerdem, dass es noch weitere Ungereimtheiten im Zusammenhang mit der rechtsextremen Nordkreuz-Gruppe gibt. Unter anderem ist unklar, woher genau der Angeklagte die Munition bekam.

3. Neue Düngeverordnung gegen Nitratverschmutzung tritt abgeschwächt in Kraft

Nur in wenigen Ländern Europas hat das Grundwasser eine so schlechte Qualität wie in Deutschland. Das größte Problem dabei: Nitrat. Der gesundheitsschädliche Stoff gelangt vor allem durch Düngemittel in der industriellen Landwirtschaft in den Boden. Dagegen hat Deutschland lange Zeit nichts unternommen.

Schon im Sommer 2018 hatte der Europäische Gerichtshof das Land deswegen verurteilt. Seitdem drohen Geldstrafen.

Eine neue Düngeverordnung mit strengeren Vorschriften soll das nun ändern. Ende März hat der Bundesrat den Regelungen zugestimmt – auch, wenn es darin nach wie vor zahlreiche „Unzulänglichkeiten“ gebe. Schon im April sollen die neuen Regeln in Kraft treten – mit einer Corona-bedingten Änderung: Die strengeren Regeln in besonders nitratbelasteten Gebieten gelten erst ab 2021. In den vergangenen Monaten hatten Bauern bundesweit gegen die Düngeverordnung protestiert, weil sie ungerechtfertigt und zu streng sei.

4. Es ist zu heiß und zu trocken in Deutschland – mal wieder

Im März hat es in Deutschland zu wenig geregnet. Die Messtationen verzeichneten nur 50 bis 75 Prozent der üblichen Niederschläge, in der ersten Aprilhälfte sogar nur fünf Prozent. Das erste Quartal 2020 war das drittwärmste seit 1881. In Teilen Deutschlands herrscht deswegen schon jetzt erhöhte Waldbrandgefahr, ähnlich wie im April 2019 und dem April 2018. Um vorherzusagen, ob auf den zu trockenen Frühling auch ein Dürre-Sommer wie in den beiden Vorjahren folgen wird, ist es allerdings noch zu früh. Insgesamt müssen wir uns aber darauf einstellen, dass Trockenheit und Hitze als Folgen des Klimawandels in Deutschland zukünftig eine größere Rolle spielen werden.
Unser Klimareporter Rico Grimm gibt hier einen Überblick über die aktuelle Situation des Klimaschutzes.

5. Eine Heuschreckenplage bedroht Ostafrika

Im ohnehin armen Ostafrika hatte es in den letzten Monaten erst Dürren, dann Überschwemmungen gegeben. Und jetzt auch noch das: eine neue Heuschreckenplage. Die Schwärme fressen Weiden und Ackerland leer. Kleinbäuer:innen sorgen sich um ihre Ernte, Viehhirt:innen finden kein Futter mehr für ihre Tiere. Die Lebensmittelpreise steigen weiter.

Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen schätzt, dass wegen der Heuschrecken bis zu 13 Millionen Menschen hungern werden müssen. Sie nennt die Plage „beispiellos in der jüngsten Geschichte.“

Die Insekten vermehren sich schnell. Die zweite Generation Heuschrecken könnte bis zu 500-mal so groß werden wie die erste. Um das zu verhindern, müssten eigentlich Pestizide versprüht werden. Aber das ist wegen der Corona-Pandemie immer schwieriger. Teilweise dürfen die Menschen, die die Heuschrecken bekämpfen sollen, nicht mehr reisen und kommen so nicht an ihre Einsatzorte. Oder die Pestizide hängen wegen strenger Corona-Regeln an den Grenzen fest.

Auch in Südasien und am Arabischen Golf sind Heuschreckenplagen ein wachsendes Problem. Hier beschreibt eine Lehrerin aus dem Oman die aktuelle Situation in dem Land.

6. Die EU überlässt Flüchtende auf dem Mittelmeer ihrem Schicksal

Die private Hilfsorganisation Sea-Eye hat am 6. April 150 Menschen auf dem Mittelmeer aus Seenot gerettet. Zwölf Tage lang mussten die Geretteten an Bord des Seenotrettungsschiffes ausharren, bevor sie zur Quarantäne auf ein größeres Schiff gehen durften. Über Ostern sind außerdem vier weitere Boote mit Flüchtenden von Libyen aus Richtung Europa gestartet. Von der Europäischen Union bekamen sie keine Hilfe.

Ende März hat die Europäische Union eine neue Militärmission beschlossen. Die Operation „Irini“ soll mit Flugzeugen, Schiffen und Satelliten kontrollieren, dass keine Waffen in das Bürgerkriegsland Libyen transportiert werden. Die Vorgängermission „Sophia“ hatte Flüchtende in Seenot nach Italien gebracht. „Irini“ wird jedoch abseits der Haupt-Fluchtrouten operieren.

In den Geflüchtetenlagern auf den griechischen Inseln ist die Situation nach wie vor fatal. 42.500 Menschen halten sich dort in Lagern auf, die für 6.000 Menschen gedacht waren. Was in Griechenland passieren müsste – und warum es nicht passiert, erklärt unsere Reporterin Belinda Grasnick.

7. Waffenruhe in Syrien, und eine Untersuchung macht klar: Die syrische Regierung hat 2017 Giftgas eingesetzt

Einer der Gründe, warum Menschen momentan auf der Flucht sind, ist der seit inzwischen neun Jahren anhaltende Krieg in Syrien. Die Zusammenhänge und Hintergründe auch für Nicht-Nahost-Experten erklären Rico Grimm und Lars Hauch hier, hier und hier. In dem letzten Text erklärt Lars unter anderem, dass die Provinz Idlib in der Hand von Oppositionellen ist. Auch jetzt noch halten die Kämpfe um die Region an. Putin und Erdoğan haben sich Anfang März vorerst auf eine Waffenruhe geeinigt. Die unhygienischen Bedingungen vor Ort, unter denen drei Millionen Flüchtlinge leben, begünstigen eine unkontrollierte Ausbreitung des Coronavirus. Da höchstwahrscheinlich nicht nur Idlib von der Pandemie betroffen sein wird, fordert die syrische Regierung die USA und die EU dazu auf, bestehende Sanktionen aufzuheben, um eine Ausbreitung des Virus schnell eindämmen zu können.

Zur Aufklärung der Giftgas-Angriffe auf den Ort Al-Lataminah in Syrien Ende März 2017 hatte die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) nun erstmalig Verantwortliche benannt. Anfang April erklärte die Organisation die syrische Regierung für schuldig, Sarin- und Chlorgas eingesetzt zu haben. Deutsche Firmen stehen unter Verdacht im Jahr 2014 an der Bereitstellung von Chemikalien für das Assad-Regime beteiligt gewesen zu sein.

8. Der Islamische Staat versucht, Corona auszunutzen, um wieder mehr Macht zu bekommen

Die Koalition gegen den Islamischen Staat (IS) im Irak ist stark geschwächt. Zum einen aufgrund des Konflikts zwischen den USA und dem Iran, der auch auf irakischem Boden ausgetragen wird; zum anderen durch die Corona-Pandemie. Deshalb ziehen sich einige Länder sowie die Nato aus der Region zurück. Auch die Bundeswehr zieht Soldaten ab. Zwar warnt der IS seine Anhänger vor Reisen, fordert jedoch gleichzeitig dazu auf, die aktuell unsichere Situation auszunutzen, um Anschläge auszuüben sowie seine Machtstellung in der Region wieder zu sichern. Am Dienstag, den 14. April, nahm die Polizei in vier Bundesländern mutmaßliche militante Islamist:innen fest. Al Qaida hingegen brachte eine Handlungsempfehlung zum Umgang mit Covid-19 heraus. Empfehlenswert sind diese beiden Artikel im Guardian und in der Süddeutschen Zeitung zu diesem Thema.

9. Russland ändert seine Verfassung – Putin wird mächtiger

Keine Demonstrationen, kaum Freiheiten und eine Menge Ablenkung: Es ist eine gute Zeit für Autokraten. Das kommt auch Russlands Präsident Wladimir Putin zugute. Mit einer Verfassungsänderung will er seine Machtposition in Russland zementieren. Es könnte die größte Reform der Verfassung in der Geschichte Russlands werden. Das russische Parlament und das Verfassungsgericht haben seinen Plänen schon zugestimmt. Eine Volksabstimmung zu den Änderungen war für den 22. April geplant, ist aber wegen Corona auf unbestimmte Zeit verschoben. Ohnehin ist die Entscheidung des Volkes für die Änderung weder nötig noch bindend.

Mit der Reform hat sich Putin mehr Entscheidungsbefugnisse gegeben und die Möglichkeit, bis 2036 im Amt zu bleiben. Ursprünglich sollte seine Amtszeit spätestens 2024 enden. Außerdem schreibt die Änderung eine konservative Ausrichtung Russlands, „Gottesfurcht“ und die Ehe als Verbindung zwischen Mann und Frau fest. Kritiker sprechen von einem Staatsstreich.

Was ein unabhängiger Journalist aus Russland dazu denkt, könnt ihr bei Dekoder lesen, was Putins Pläne noch verhindern könnte, auf Zeit Online.

10. Afghanische Regierung und Taliban verhandeln über gegenseitigen Gefangenenaustausch

Da sich der afghanische Staatschef Aschraf Ghani sowie Kontrahent Abdullah Abdullah nicht auf eine Regierungsbildung einigen können, kürzen die USA die Hilfszahlungen für das Land um eine Milliarde Dollar. Ende Februar schlossen die USA und die Taliban ein Friedensabkommen ab. In diesem bestätigt die USA den langsamen Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan. Trotzdem gab es Anschläge gegen die Zivilbevölkerung. Die afghanische Regierung war bisher nicht an dem Abkommen beteiligt. Voraussetzung für Gespräche war der Austausch von Gefangenen zwischen Miliz und Regierung. Nun kommt aber auch in diese Auseinandersetzung Bewegung und Anfang April sind die afghanische Regierung und die Taliban zu Gesprächen zusammengekommen. Sie haben über den Austausch von Gefangenen verhandelt. Bisher hat die Regierung 300 Inhaftierte freigelassen. Im Gegenzug entließen die Taliban 30 Mitarbeiter:innen der Regierung. Außerdem verpflichteten sie sich, sich nicht mehr an Kämpfen zu beteiligen.

Was außerdem passiert ist:

  • Ende März hat der Bundesrat einen Gesetzentwurf für die Grundrente eingebracht, die wahrscheinlich ab 2021 kommen soll.
  • In Berlin ist der Mietendeckel zum 23. März 2020 in Kraft getreten.
  • Der Demokrat Bernie Sanders hat sich aus dem US-Wahlkampf gegen Joe Biden zurückgezogen und hinter seinen demokratischen Kollegen gestellt.
  • Die USA setzt auf den venezolanischen Präsident ein Kopfgeld in Höhe von 15 Millionen Dollar aus.
  • Im Sperrgebiet um das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl hat es mehrere Tage gebrannt. Nach offiziellen Angaben wurde keine erhöhte Radioaktivität in der Umgebung gemessen.
  • Seit Ende März regiert der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán per Notstandsregelungen faktisch ohne demokratische Kontrolle, während in Polen die nationalkonservative Regierungspartei PiS ihre Macht mit einer verfassungswidrigen Wahlrechtsänderung absichern will.
  • Das Welternährungsprogramm kürzt die finanzielle Unterstützung für den Jemen. Die Huthi-Rebellen und die durch Saudi-Arabien unterstützte Militärkoalition konnten sich nicht auf eine Waffenruhe einigen.
  • Gantz und Netanjahu einigen sich in Israel auf eine Große Koalition.

Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel