Get the fuck out

© Leon Fryszer

Psyche und Gesundheit

Get the fuck out

Wie es ist, in Corona-Zeiten depressiv zu sein.

Profilbild von Martin Gommel
Reporter für psychische Gesundheit

Ich bin 39 Jahre alt und habe eine Krankheit, die unsichtbar ist – im Worst Case könnte ich sogar daran sterben. Röntgenbilder können sie nicht zeigen, und selbst ein Ultraschall-Check würde nichts finden. Man könnte mich auf dem OP-Tisch aufschneiden, mir Kontrastmittel spritzen oder gar ein Ganzkörper-MRT machen. Nichts. Kerngesund, der Herr Gommel.

Ich habe rezidivierende, also wiederkehrende Depressionen. Ich bin nicht alleine damit, circa fünf Millionen Menschen, die in Deutschland leben, haben sie auch, die unsichtbare Krankheit. Und aktuell habe ich rezidivierende Sorgen, die aber überhaupt nichts mit meiner Krankheit zu tun haben.

Ich frage mich, was die Coronakrise mit uns, den Depressiven, macht. Denn wir werden von der Gesellschaft nicht gesehen. Es geht nicht darum, ob wir uns unsichtbar fühlen, wir sind de facto unsichtbar. Du merkst schon, das wird kein Gute-Laune-Text.

Denn wir Depressiven haben gerade ein fettes Problem: #staythefuckhome. Das ist der neue Status Quo unserer Zeit, in der die Regierung von allen verlangt, Kontakte einzuschränken, um die Verbreitung des Coronavirus in der Bevölkerung zu verlangsamen.

Aber das Mantra von Depressiven, der Rat, den jede:r Therapeut:in uns gibt, ist nicht: „Stay the fuck home“, sondern: „Get the fuck out.“

Fangen wir von vorne an. Seit ich denken kann, bin ich in Therapie. Als Kind steckten mich meine Eltern in Spieltherapie, danach kam die Familientherapie und seit zehn Jahren bin ich in Gesprächstherapie. Außerdem bin ich seit drei Jahren bei ein und demselben Therapeuten.

Und in allen Therapien habe ich, wenn ich akut depressiv war, sinngemäß folgende Sätze gehört: „Herr Gommel, Sie müssen sich bewegen. Sie können nicht den ganzen Tag im Bett bleiben. Raus mit Ihnen! Gehen Sie spazieren! Gehen Sie in die Sportgruppe! Machen Sie Fotos! Verabreden Sie sich mit Freunden! Gehen Sie einen saufen!“ Okay, der letzte Satz ist ein Witz. Das Ganze nennt sich: Aktivierung.

Ein entscheidendes Symptom meiner Krankheit ist massive Antriebslosigkeit. Nein, das ist kein „Ich habe heute keine Lust zu arbeiten“-Gefühl. Nochmal: Depressionen sind eine echte Krankheit. Ich kann in solchen Momenten nicht mal pullern gehen. Es fühlt sich an, als ob ich gefesselt im Bett liege, nur dass das keine BDSM-Session ist, sondern dass sich mein Körper schlicht und ergreifend verweigert.

Genau deshalb werden wir Depressiven von Therapeuten zur Aktivierung ermuntert. Sie fordern beispielsweise, dass wir aufstehen und einen Kaffee trinken, und wenn es nur kurz ist. Ja, allein das kann für Depressive sehr schwer sein. Wenn das irgendwann geht, sollen wir raus, andere Menschen treffen. Raus aus der Wohnung, raus aus dem Loch.

Die Corona-Krise drückt uns gerade in das Gegenteil dessen, was gut für uns ist, rein in die krankheitsfördernden Gewohnheiten, nicht raus. Wir sollen uns nicht bemühen, rauszukommen und soziale Kontakte zu pflegen.

Es gibt für dieses Dilemma keine einfache Lösung, und ich werde den Teufel tun, die Regierung dafür zu kritisieren, dass sie uns zu sozialem Abstand auffordert. Kritik habe ich dennoch – weil sozialer Abstand aus Gründen, die nichts mit Viren zu tun haben, Leben kosten kann. Und viel zu wenig dagegen getan wird.

Get a fucking Therapy

An dieser Stelle würde ich gerne aufhören zu schreiben, denn eigentlich reicht das schon. Wer gute Nerven hat, kann gerne weiterlesen, allerdings geht es ab jetzt auch um das schwierigste Thema im Kapitel der Depressionen. Suizid. Und ja, das ist eine Triggerwarnung.

Mit der räumlichen Isolation bricht in manchen Fällen auch der Kontakt zur aller-aller-aller-wichtigsten Person ab, die wir Depressiven haben: unserer Therapeutin, unserem Therapeuten. Und das ist fatal.

Mein Therapeut ist Johannes. Ich würde alles dafür tun, mit ihm sprechen zu dürfen. Kein Mensch kennt mich so gut wie er, kein Mensch kann so messerscharf meine empfindlichsten Triggerzonen benennen und kein Mensch kann mich so aufbauen.

Ich habe mit ihm schmerzhafte Trennungen (gibt es Trennungen, die nicht schmerzhaft sind?), meine schlimmsten Ängste und den Suizid meiner Cousine vor zwei Jahren verarbeitet, die nach der Geburt ihres Kindes aus dem Fenster im Krankenhaus gesprungen ist. Achter Stock.

Ich wollte das nicht wahrhaben. Ich wollte stark sein. Und schob es zur Seite. Und wollte auch nicht zur Beerdigung, weil ich dachte, dass ich das nicht brauche. Johannes war derjenige, der mir sagte: „Martin, geh zur Beerdigung. Du kannst das nicht einfach verdrängen. Verabschiede dich. Es wird dir helfen.“

Er hatte recht. Auch, wenn es wahnsinnig weh getan hat. Auch, wenn ich dort nichts anderes tun konnte, außer weinen, weinen, weinen. Und beim sogenannten Leichenschmaus mit allen anderen Cousinen, Tanten, Onkel und Freund:innen über meine Cousine zu sprechen.

In Krisenzeiten ist das Gespräch mit Johannes DAS Event, auf das ich hinfiebere. Ich schreibe vorher meine Fragen und Sorgen auf; während des Gesprächs schreibe ich mit und fasse hinterher nochmal zusammen, was ich gelernt habe. Und auch jetzt in dieser Corona-Zeit kann ich mit Johannes sprechen.

Das Gute ist: Wir müssen uns dafür nicht persönlich gegenüber sitzen, denn wir telefonieren. Johannes sitzt in Wien und ich in Berlin. Für mich funktioniert das super, und ich brauche keine Couch.

Doch das Ganze hat einen Haken. Denn ich bezahle meine Therapie selbst, weil meine Krankenkasse diese Form der Therapie nicht bezahlt hat, als ich damit anfing. Wie gut, dass ich zwei Jobs habe, denn sonst könnte ich mir Johannes nicht leisten.

Ich habe mich für diesen Text einmal probehalber in die Situation einer Person versetzt, die zum ersten Mal eine depressive Episode erlebt und online eine Therapie machen möchte. Eine Person, die wegen des Virus Hemmungen hat, persönlich in eine Praxis zu gehen. Und ich habe so getan, als ob ich darauf angewiesen wäre, dass meine Krankenkasse die Kosten übernimmt.

Ich habe gegoogelt. Und gelesen. Und gegoogelt. Und verglichen. Und Listen von Kassenvereinigungen studiert. Zeit Online berichtet. Der Spiegel auch. Machen wir es kurz: Ich habe nicht kapiert, wie das funktionieren soll. Ich habe keine zentrale Anlaufstelle gefunden, an die ich mich wenden kann, keine einfach zu verstehende Anleitung, keine seriöse Hilfestellung bekommen.

Beim Suchen fand ich heraus, dass mittlerweile „Videosprechstunden unbegrenzt möglich“ sein sollen, so die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KVB). Konkret heißt das, dass Menschen, die bisher in ambulanter Psychotherapie behandelt wurden, mit ihre:r Therapeut:in während der Corona-Krise weiter per Videochat betreut werden können. Und das bedeutet, dass Bewegung in der Sache ist und Menschen nicht zwingend abrupt von der Therapieversorgung abgeschnitten werden. Auch Erstgespräche sollen laut KVB möglich sein.

Wer aber sein Gesicht nicht preisgeben, sondern nur eine Telefon-Sprechstunde nutzen möchte, kann zum jetzigen Zeitpunkt all das nicht bekommen.

Ganz ehrlich? In meinen Augen ist das ein unübersichtliches, theoretisches und vor allem nerviges Kuddelmuddel. Wäre ich jetzt akut zum ersten Mal depressiv, ich wüsste nicht wirklich, was ich tun soll. Ich hätte nicht die Kraft, mich durch zig Seiten zu klicken, zu lesen, zu telefonieren.

Wie gesagt: Brichst du dir das Bein, musst du nicht lange nachdenken, wie dir geholfen werden kann. Bei einer Depression? Sagen wir es so: Es ist verdammt kompliziert. Und das muss sich ändern, so schnell wie möglich.

Was der ganze Scheiß konkret bedeutet, habe ich am Beispiel einer 22-jährigen Depressiven gefunden, die akut unter der Corona-Krise leidet und Reddit ihr Leid klagt (ich habe es übersetzt):

„Seit Dezember 2019 gehe ich jede Woche zu einer Therapeutin. Seit ich 16 bin (ich bin jetzt 22), bin ich immer wieder zu einem Therapeuten gegangen, aber nie so konsequent wie jetzt. Im Dezember wurde es sehr schlimm, und ich beschloss, mich für eine Therapie anzumelden, weil ich wusste, dass ich Hilfe brauchte. Ich plante täglich meinen eigenen Tod und war Tag und Nacht extrem deprimiert. Als ich mit meiner Therapeutin sprechen konnte, hörte ich auf, mich selbst zu verletzen, und habe das seit über zwei Monaten nicht mehr getan. Nun habe ich meine Therapeutin seit drei Wochen nicht mehr gesehen. Heute ist es schlimm. Heute fühle ich mich wirklich deprimiert, und ich weiß, dass es vorbeigehen wird, aber mein Verstand sagt mir immer wieder, dass ich mir selbst schaden soll, und ich kann es nicht verhindern. Ich sitze hier gerade am Rande einer Panikattacke, weil ich nicht rückfällig werden will. Und doch spielt mir mein Verstand einen Streich, wenn er mir sagt, ich solle es tun. Ich hoffe, diese Quarantäne endet bald.“

Ich bin der Meinung, dass es verdammt nochmal an der Zeit ist, Online-Therapien für alle Menschen, die es brauchen, leicht und verständlich zugänglich zu machen. Online-Therapien sind der einzige Weg, um psychisch kranke Menschen nicht von diesem wichtigen Anker abzuschneiden, der lebensrettend sein kann.

Get the fuck in

Die Psychiatrie. Niemand will dorthin, auch nicht als Besucher:in. Es kostet mich jedes Mal Überwindung, es zu akzeptieren, wenn ich in die Klinik muss. Ich war nun insgesamt vier Mal dort zu Gast und jedes Mal fährt es mir durch Mark und Bein: Schon wieder in der Klapse. Ich weiß trotzdem, dass die Klinik für mich lebensrettend sein kann. Ich weiß, dass sie für mich ein Schutzraum ist und dass ich dort „gut aufgehoben“ bin.

Und damit kommen wir zum nächsten Problem: Wir Depressiven lesen jeden Tag, dass in deutschen Krankenhäusern Bettenknappheit herrscht und alle Wege frei gemacht werden für Leute, die am Coronavirus sterben könnten. Operationen, die gerade nicht dringend sind, werden verschoben, damit Betten frei bleiben für Viruserkrankte.

Und weil wir Depressiven ohnehin schon ein großes Problem haben, uns für unsere eigenen Bedürfnisse einzusetzen – das ist nun mal ein großes Problem bei unserer Krankheit–, zögern wir in dieser Zeit erst recht, in die Klinik zu gehen. Diesen Eindruck hat die deutsche Depressionshilfe am Telefon bestätigt.

Jemand der Depressionen hat, geht nicht, wenn er spürt: „Oh, mir geht es seit Wochen nicht gut.“ Oder wenn sie merkt: „Verdammt, ich habe zehn Tage das Bett nicht verlassen.“ Oder: „Ich bin schon wieder so traurig.“

Eine depressive Person geht in die Klinik, wenn sie das Folgende denkt und gleichzeitig fühlt:

SHIT SHIT SHIT! ALLES TUT SO WEH! ICH KANN DAS KEINE MINUTE MEHR AUSHALTEN! ES TUT MIR SO LEID, ES TUT MIR SO UNENDLICH LEID, DASS ICH SO BIN!
oder: ICH SPÜRE GAR NICHTS MEHR. ALLES IST SO TAUB, ICH BIN SO KAPUTT, ICH BIN AM ENDE!
oder: ICH WILL STERBEN. JETZT.

Ergo: Wenn sie am Boden ist. Wenn sie wirklich nicht mehr kann. Für mich bedeutet das konkret, dass ich nur noch weinen kann, dass ich Angst davor habe, von meiner Partnerin verlassen zu werden und anderen Menschen zur Last zu fallen. Dieser Gedanke treibt mich nicht selten in die Suizidalität. Spätestens dann weiß auch ich, dass ich jetzt sofort in die Klinik muss, weil ich es sonst nicht überlebe.

Wäre ich heute wieder soweit, dann käme direkt nach dem Impuls, in die Klinik zu gehen, folgender Gedanke: Die Corona-Patienten sind wichtiger als ich. Der Schritt, in die Klinik zu gehen, fällt um ein Vielfaches schwerer. An dieser Stelle trickst mich dann die Krankheit aus, und ich sitze wieder in der Falle.

Stay the fuck alive

Wenn ich all diese Probleme zusammenfasse, dann bleibt da eine sehr unangenehme Frage, vor der ich mich gerne drücke: Kann es sein, dass während der Corona-Krise die Suizidfälle zunehmen? Diesen Gedanken hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel auch schon. So steht in der Süddeutschen Zeitung vom 20. März:

„Merkel will vermeiden – und sinngemäß sagt sie das auch in kleiner Runde –, dass es am Ende mehr Tote durch Suizide in der Einsamkeit und Gewalt hinter verschlossenen Türen gibt als durch das Coronavirus.“

Die Weltgesundheitsorganisation WHO drückt das so aus:

„In Bezug auf die öffentliche psychische Gesundheit sind die wichtigsten psychologischen Auswirkungen bisher erhöhte Raten von Stress oder Angstzuständen. Doch mit der Einführung neuer Maßnahmen und Auswirkungen – insbesondere der Quarantäne und ihrer Auswirkungen auf die üblichen Aktivitäten, Routinen oder Lebensgrundlagen vieler Menschen – ist auch ein Anstieg der Einsamkeit, der Depressionen, des schädlichen Alkohol- und Drogenkonsums sowie der Selbstverletzung oder des suizidalen Verhaltens zu erwarten.“

Wenn ich diese Worte lese, dann möchte ich nicht die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierungen zurücknehmen (als ob ich das könnte). Denn ich weiß, dass sie dringend notwendig sind. Es ist in meinen Augen auch Quark, die Maßnahmen als übertrieben oder gar hysterisch zu bekritteln oder gar die Regierung für die möglichen Suizide verantwortlich zu machen.

Wer in seinem Freund:innenkreis Leute hat, die schon mal unter Depressionen gelitten haben oder aktuell leiden: Meldet euch bei ihnen. Fragt nach. Schickt eine Whatsapp-Nachricht. Ruft an. Tut alles, aber lasst sie nicht alleine.

Es ist in diesen Tagen so wichtig, dass wir die Handlungsempfehlung „sozialer Distanz“ nicht wortwörtlich nehmen. Die Idee ist nicht, dass wir aufhören, miteinander zu kommunizieren. „Physische Distanz“ ist meiner Meinung nach eine treffendere Formulierung.

Stattdessen sollten wir näher rücken. Mehr telefonieren. Einander mehr zuhören. Mehr die ganz einfache und ehrliche Frage stellen: „Wie geht es dir?“ Füreinander da sein. Gegenseitig den Rücken stärken.

Zum Abschluss möchte ich meine Forderung an Behörden und Krankenkassen bestärken: Der Zugang zur Online- und Telefontherapie muss einfach, kostenfrei und für alle zugänglich gemacht werden. Ohne medizinisch-wissenschaftliches Kuddelmuddel. Und bitte nicht in ein paar Monaten. Jetzt. Sofort.

Care the fuck for us.


Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel