Wie ich für den Tod meiner eigenen Tochter kämpfte

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Psyche und Gesundheit

Wie ich für den Tod meiner eigenen Tochter kämpfte

Mascha May hatte einen schweren Unfall. Anschließend lag die 17-Jährige fünf Monate lang im Wachkoma, bevor sie in einem Hospiz sterben durfte. Für unsere Kolumne „Was ich wirklich denke“ erzählt ihre Mutter Antje von ihrem Kampf für ein würdevolles Sterben ihrer Tochter. Und warum es wichtig ist, sich schon früh Gedanken über den eigenen Tod zu machen.

Profilbild von Protokoll von Benjamin Hindrichs

Der Unfall geschah am 18. Februar 2009, um 19 Uhr. Danach haben wir stundenlang nur gewartet. Mein Sohn und ich saßen im Krankenhaus, in einem furchtbaren Raum, in dem der Getränkeautomat vor sich hin dröhnte, und konnten nichts tun. Durch meinen Kopf hallten immer wieder die gleichen Fragen: Wird sie überleben? Kommt gleich einer zur Tür rein und sagt diesen einen Satz? Es war die schlimmste Nacht meines Lebens.

Meine Tochter Mascha war 17, als sie abends aus dem Haus lief, um mit dem Bus zu einer Freundin zu fahren. Sie wollten gemeinsam Karneval feiern. Die Bushaltestelle lag direkt gegenüber, auf der anderen Straßenseite. Es war dunkel. Dann hörte ich draußen einen dumpfen Knall: Als Mascha über die Straße lief, wurde sie von einem Auto erfasst, sie knallte mit dem Kopf auf die Frontscheibe. Noch an der Unfallstelle diagnostizierten Sanitäter: Pupillenweitstand. Eines von mehreren Zeichen, die auf Hirntod hindeuten.

Im Krankenhaus wurden Mascha sofort beide Schädelknochen entnommen. Die Verletzungen waren so schwer, dass man nicht wusste, ob sie überleben würde. Mascha wurde für zwei Wochen in ein künstliches Koma versetzt. Am Anfang hatten wir noch Hoffnung, dass sie halbwegs unbeschadet wieder erwacht. Wir hofften auf ein Wunder. Aber es geschah nicht.

Nach dem Koma schlug Mascha die Augen wieder auf. Der anfängliche Verdacht, sie sei hirntod, bestätigte sich nicht. Aber Teile ihres Gehirns waren abgestorben und sie konnte sich nicht bewegen. Sie musste über eine Magensonde ernährt werden. Mascha war jetzt eine Wachkomapatientin.

Mascha entwickelte starke Krämpfe, Spastiken, ihre Hände waren oft so stark zur Faust geballt, dass man sie kaum noch auseinander bekam. Ihre Arme waren steif, ihre Beine waren steif. Ein neurologisches Gutachten sagte aus, dass Maschas Gehirn so schwer verletzt sei, dass sie nie wieder zu einer Bewegung fähig sei. In dieser Zeit habe ich viele Fotos von Mascha gemacht und ihr Gesichtsausdruck war sehr leidend.

Nach zwei Monaten blieb ihr Herz stehen. Sie wurde reanimiert.

Vor dem Unfall sagte Mascha, als Wachkomapatientin würde sie nicht leben wollen

Es gab immer neue Untersuchungen, immer neue Operationen, immer neue Gutachten. Das Ärzteteam war gespalten in seinen Meinungen. Manche meinten, dass Mascha vielleicht wieder sprechen könne. Andere schüttelten den Kopf, als sie das hörten. Ein Arzt sagte zu mir: „Vergessen Sie ihre Tochter, die werden sie so nie wiedersehen.“

Ihr Zustand verschlechterte sich weiter, und es kamen immer mehr Medikamente dazu. Sie erbrach sich, jeden Tag. Das war schrecklich. Ich hätte mich so gerne an ihrer Stelle ins Bett gelegt. Das habe ich mir so oft gewünscht.

Noch einige Wochen vor Maschas Unfall sahen wir gemeinsam den Film „Schmetterling und Taucherglocke“ im Kino. Der behandelt das Thema eines sogenannten Locked-In-Patienten; ein Mensch kann klar denken, sich aber nicht bewegen. Es ist unglaublich. Man fährt nach Köln, schaut diesen Film im Kino, fährt müde und bedrückt nach Hause und die eigene Tochter sagt: „Als Wachkomapatientin würde ich nicht leben wollen.“ Und einige Wochen später liegt sie da, man erinnert sich an ihre Worte und weiß: Das kann es nicht sein.

Mit palliativer Pflege können wir Sterbende in Würde begleiten

Mit Palliativmedizin kannte ich mich damals nicht aus. Ich wusste nicht, was es für Möglichkeiten gibt – und heute, zehn Jahre später wundere ich mich, dass das niemals jemand vorgeschlagen hat.

Palliative Pflege bedeutet, dass Sterbende medizinisch und spirituell in der letzten Lebensphase begleitet werden. Und menschlich sterben dürfen. Das geschieht in Hospizen. Palliative Pflege bejaht das Leben, erkennt Sterben aber auch als normalen Prozess an. Man bekommt Medikamente gegen die Schmerzen, man versucht, gute Mundpflege zu machen, den Leuten ihren letzten Weg so angenehm wie möglich zu machen. Das Wort „palliativ“ bedeutet eigentlich „ummanteln“. Man ummantelt den geliebten Menschen, behütet ihn so gut wie möglich, bevor er geht. Einen solchen Tod wünschte ich mir für Mascha.

Damit sie aber ins Hospiz durfte, brauchten wir eine sogenannte Notwendigkeitsbescheinigung. Darin wird bestätigt, dass die betroffene Person einen Krankheitsverlauf aufweist, der zum Sterben hinführt. Ich wusste, dass meine Tochter so nicht leben wollte und bemühte mich um die Bescheinigung. Aber ich bekam sie nicht.

Dann wurde ein Ethikkonsil einberufen. Es kamen Ärzte, Pfleger und auch ein Rechtsanwalt zusammen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Ich wollte unbedingt daran teilnehmen, hatte mir Worte zurechtgelegt, die halbe Nacht nicht geschlafen, stand morgens um halb acht auf der Matte – und wurde nicht reingelassen. Ich sei ambivalent in meinen Meinungen. Irgendwann kam der Oberarzt und sagte: „Wir werden weiter therapieren.“ Das Protokoll des Konsils durfte ich mir kurz durchlesen.

Das war der Moment, in dem ich tatsächlich dachte: „Wollen die hier mit meinem Kind Geld machen?“ Beatmung bringt viel Geld, das kann man ruhig mal sagen. Heute, nachdem ich mich über zehn Jahre lang mit dem Thema beschäftigt habe, bin ich mit meinen Gedanken weiter. Ich weiß inzwischen, dass Ärzte junge Leute immer therapieren, bis nichts mehr geht. Keiner will und darf sich auf die Weste schreiben, zu früh aufzugeben.

Es war eine düstere, schlimme Zeit des Abschieds – für mich, die ganze Familie und Maschas Freunde. Wir wussten: Sie wird nicht mehr so wiederkommen, wie sie war. Wir verabschiedeten uns, obwohl sie noch lebte. Wir trauerten um etwas, das noch da war. Ihr Körper war noch da – aber der Mensch nicht. Das zu begreifen, ist fast unmöglich.

Es gibt ein Zitat von der Ärztin Cicely Saunders, die in den sechziger Jahren in England die Hospizbewegung begründet hat: „Wir können dem Leben nicht mehr Tage, aber den Tagen mehr Leben geben.“ Sie hat Unrecht: Mit den heutigen medizinischen Möglichkeiten können wir dem Leben mehr Tage geben. Wir können Leben verlängern – aber auch Leid.

Nach fünf Monaten stellte uns ein Arzt dann die Notwendigkeitsbescheinigung aus. Mascha durfte ins Hospiz. Dort wurden die Behandlungen nicht weitergführt. Sie starb eine Woche nach der Aufnahme.

Menschen werden künstlich am Leben gehalten – und anschließend in Pflegeheime abgeschoben

Mascha wäre früher schneller gestorben. Heute halten wir Wachkomapatienten künstlich am Leben. Oft aber nur, um sie nachher in unterbesetzte Pflegeheime zu geben, oder in Familien zu lassen, die sozial völlig verarmen, weil es kaum Unterstützung gibt. Das kann es nicht sein.

Wenn ein Mensch weiterleben muss, weil – ich drücke das jetzt mal so aus – man ihn nicht hat sterben lassen, dann müssen wir doch auch dafür sorgen, dass dieses Leben möglichst angenehm und würdevoll ist. Dann müssen wir als Gesellschaft doch auch das Geld dafür aufbringen, uns medizinisch und menschlich bestmöglich um sie zu kümmern. Aber diese Gelder werden nicht da sein. Und deshalb müssen wir mehr über Alternativen reden.

Es gibt heutzutage wirklich schöne Wege, einen Menschen in einen würdigen Tod zu begleiten. Wege, auf denen man weitestgehend schmerzfrei sterben kann. Wege, auf denen man sich geborgen fühlt.

Das bedeutet nicht, dass ich dafür plädiere, Wachkomapatienten pauschal palliativ zu versorgen. Im Gegenteil: Ich verstehe alle, die die Hoffnung nicht aufgeben. Das ist unglaublich schwer. Und wahrscheinlich gibt es keine gute oder richtige Entscheidung, sondern nur eine menschenwürdige. Die muss man im Einzelfall genau abstimmen.

Patientenverfügungen ersparen Angehörigen die Last der Entscheidung

Jeden von uns kann es treffen. Bei einem Unfall, einem Schlaganfall, Herzinfarkt oder anders. Deshalb halte ich es für unglaublich wichtig, eine Patientenverfügung zu schreiben. Wir können heute schon festhalten, was wir uns für uns selber wünschen. Das tun viele nicht, es erscheint so fern. Man macht sich nicht gerne Gedanken über den eigenen Tod. Man möchte leben. Man möchte keine Angst haben. Aber die schwere Last der Entscheidung, wann künstliche Beatmung beendet werden soll, sollten wir unseren Angehörigen nicht aufbürden.

Es heißt oft: Wer nach drei Monaten aus dem Wachkoma nicht erwacht, bei dem ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass das noch passieren wird. Die Sensationsmeldungen, die wir immer wieder hören, schüren bei Angehörigen große Hoffnung, sind aber leider die absolute Ausnahme. Mir fiel es unglaublich schwer, loszulassen und zu entscheiden: Ich werde jetzt für einen anderen Weg kämpfen. Es ist eine der schwersten Entscheidungen, die man treffen kann.

Denn hätte ich damals gefordert, dass Mascha weiter therapiert wird, würde sie heute vielleicht noch leben. Ich hatte oft Angst, dass man mir vorwirft: Die hat ihre behinderte Tochter umgebracht. Unzählige Male habe ich vor ihrem Grab gestanden und zum Himmel hoch gebetet, dass es die richtige Entscheidung war. Ich kann es nicht wissen. Was mir aber dabei half, waren Maschas Worte über den Tod. Sie gaben mir die Kraft, sie ins Hospiz zu begleiten und mich dafür einzusetzen, dass sie sterben darf. In Würde.


In unserer Serie „Was ich wirklich denke“ lassen wir Menschen sprechen, die interessante Berufe haben, die in herausfordernden oder besonderen Lebenssituationen stecken oder die etwas Ungewöhnliches erlebt haben. Trifft das auf dich zu und willst du davon erzählen? Dann melde dich unter: theresa@krautreporter.de


Redaktion: Philipp Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Martin Gommel