Die Einführung der Apple Watch 4 in Deutschland war für viele Leute ein großer Moment: für Apple-Fans, Technik-Junkies und – und für Kardiolog:innen. Denn als die Smartwach im September 2018 auf den deutschen Markt kam, erlebten Fachärzt:innen einen wahren Ansturm. In ihren Sprechzimmern saßen plötzlich ziemlich viele, ziemlich junge Menschen. Ihre Apple Watch hatte sie zum Arzt geschickt. Der Verdacht: Herzrhythmusstörung.
Hersteller von Medizin-Apps versprechen Großes. So klingt das zum Beispiel bei der EKG-App KardiaMobile: „Sorglosigkeit für die Hosentasche. Mit KardiaMobile und Ihrem Smartphone überprüfen Sie ganz einfach in nur 30 Sekunden Ihren normalen Herzschlag. Oder erkennen mit dem mobilen EKG Gerät Anzeichen eines Vorhofflimmerns.“
EKG-Apps wie die der Apple Watch und KardiaMobile messen den Herzrhythmus und wollen so Herzkrankheiten wie Vorhofflimmern und Herzrhythmusstörungen früh erkennen können (Achtung: nicht Herzinfarkte!). Doch halten sie mit professionellen EKG-Geräten mit? Können diese Apps wirklich Herzkrankheiten erkennen? Kurze Antwort: Nein. Aber tatsächlich können sie aus medizinischer Sicht schon recht viel: Sie finden Auffälligkeiten und sortieren sie in Schubladen ein – wenn man sie zum richtigen Zeitpunkt nutzt.
Was halten Mediziner:innen von EKG-Apps?
Ich habe mich unter den Krautreporter-Mitgliedern umgehört. KR-Mitglied Ralf ist Kardiologe und arbeitet in seiner eigenen Praxis. Manchen seiner Patient:innen empfiehlt er, sich eine Apple Watch zu kaufen. Denn so können sie immer dann messen, wenn sie Symptome an sich feststellen – zum Beispiel, wenn sie ihr Herz rasen spüren. Seine Patient:innen bringen ihm dann einen Ausdruck der Kurven mit.
„Das ist ein Fortschritt“, sagt Ralf. Er habe als Kardiologe oft das Problem, dass Patient:innen bei der Untersuchung selbst keine Auffälligkeiten zeigen. „Aber kaum sind sie zu Hause, geht es los. Wer dann eine Apple Watch hat, fühlt sich sicherer. Und ich als Arzt freue mich auch, weil es meine Diagnostik erleichtert, wenn ich einen Anhaltspunkt für meine Diagnose habe.“
Herzspezialist:innen geben, wenn sie sich mit Ursachen der Beschwerden schwertun, ihren Patient:innen häufig ein EKG-Gerät mit nach Hause. Es hat meist 2, 3 oder 12 Kanäle und zeichnet innerhalb von 24 Stunden ständig EKG-Kurven auf. Aber eine EKG-App ist unkomplizierter und die Patient:innen können die Messung selbst starten. Das kann ein echter Pluspunkt sein.
KR-Mitglied Suitbert macht sich begründete Sorgen um sein Herz, ist deswegen auch in Behandlung. Er nutzt die App Heartbeats der deutschen Firma Preventicus, um seine Herzfrequenz zu überprüfen, wenn er sich unwohl fühlt. Auf meine Frage, ob er ohne die App öfter im Sprechzimmer seines Hausarztes säße, antwortet er: „Ja, definitiv. Mit der App habe ich eine Rückversicherung, dass meine Beschwerden in dem Moment keine Gefahr für mich sind. Diese Sicherheit hätte mir sonst ja nur mein Arzt vermitteln können.“
Und was sagen Studien?
Da EKG-Apps noch nicht lange auf dem Markt sind, läuft die wissenschaftliche Überprüfung dazu erst an. Deshalb gibt es noch nicht viele Arbeiten, die untersuchen, ob die Diagnostik mit Apps mit den etablierten Methoden mithalten kann. Dazu kommt eine weitere Schwierigkeit, die typisch ist für die sogenannte Apparate-Medizin: Die Forschung dazu ist häufig von den Herstellern selbst finanziert (zum Teil mit Unterstützung von Fördertöpfen aus Deutschland und der EU) und die Studiendesigns oft darauf ausgerichtet, die Güte des diagnostischen Tests zu belegen, aber nicht unbedingt, den neuen Test mit anderen Tests zu vergleichen. Das heißt, sogenannte Vergleichsstudien der obersten Güte sind eher rar.
Viel Wirbel gab es um eine große von Apple finanzierte und organisierte Studie. Das Besondere: Die beeindruckend hohe Proband:innenzahl von 420.000 Menschen. Die Studie sollte Zahlen darüber liefern, wie gut die App tatsächlich Kranke findet und wie gut die App Gesunde als gesund erkennt.
In der Berichterstattung zur Studie kursierte eine beeindruckende Zahl: 84 Prozent derjenigen, die tatsächlich Vorhofflimmern hatten, wurden von der Apple Watch gefunden.
Das hört sich allerdings besser an, als es ist. Denn diese 84 Prozent beziehen sich nur auf eine bestimmte Gruppe der Teilnehmer:innen, nämlich 450, die gleichzeitig zur Smartwatch für eine Woche ein Langzeit-EKG-Gerät trugen. Dennoch: Professionelle EKG-Geräte finden auch nicht 100 Prozent der Fälle, in denen Vorhofflimmern auftritt.
Trotzdem bewerten Kardiolog:innen die Studie durchaus kritisch. Denn sie ist zu groß und damit die Ergebnisse zu ungenau. Und: Sie beantwortet die Frage nicht, was sich für die Patient:innen genau verbessert, wenn sie sich reihenweise überwachen, ohne Symptome zu haben. Denn Vorhofflimmern muss nicht zwangsläufig behandelt werden. Manchmal schadet eine Behandlung mehr als sie hilft, da blutverdünnende Medikamente, die bei Vorhofflimmern oft gegeben werden, um Schlaganfällen vorzubeugen, nur sinnvoll sind, wenn die Patient:innen noch andere Risiken haben.
Deshalb braucht man jetzt mehr Studien mit Menschen, die ein erhöhtes Risiko für Vorhofflimmern haben, um sicherer sagen zu können, wie gut diese Gruppe tatsächlich vom Monitoring profitiert. Eine entsprechende Studie führt Apple gerade durch: Teilnehmen sollen 120.000 Probanden ab 65 Jahren. Expert:innen gehen davon aus, dass die neuen Ergebnisse für die Gruppe der Risikopatient:innen vielversprechende Anzeichen liefern kann.
Die Nachteile von EKG-Apps
EKG-Apps werden häufig als Lifestyle-Produkt benutzt. Du kannst mit ihnen mal eben nachschauen, was das Herz macht. So präsentieren die Hersteller selbst den Nutzen. Doch das wäre so, als wenn du kurz nach dem Dauerlauf zur Hausärztin oder dem Kardiologen gehst, um nachprüfen zu lassen, wie es deinem Herzen geht. Die erste Frage, die dein:e Ärzt:in dann stellt ist: „Wieso? Haben Sie Beschwerden?“
Für Ärzt:innen ist ein EKG nämlich nur ein Bestandteil der Diagnostik. Zu einer sicheren Diagnose gehören viele Dinge: Wie alt du bist, ob du Vorerkrankungen hast und welchen Lebensstil du hast, zum Beispiel, ob du rauchst oder dich viel bewegst. All das betrachtet dein:e Ärzt:in zusammen.
Der Nutzen einer EKG-App hängt ganz entscheidend davon ab, ob du gesund bist oder krank. Und das hat mit statistischen Gesetzen zu tun: Wenn man im großen Stil nach bestimmten Symptomen sucht (auch bei Menschen, die gar nicht gefährdet sind), entstehen überdurchschnittlich viele Scheintreffer. Solche Fehlalarme sind bei Tests ganz normal. Aber sie sind umso seltener, je wahrscheinlicher die Testpersonen die Krankheit auch wirklich haben.
Wenn also reihenweise junge Menschen, die sehr selten Herzrhythmusstörungen haben, plötzlich mit der Smartwatch nach solchen Störungen suchen, gibt es auch reihenweise Fehlalarme. Das erklärt auch die plötzliche Schwemme an jungen „Herzpatient:innen“ nach Einführung der Apple Watch 4.
Bei EKG-Apps kannst du dir merken: Wenn dein Arzt oder deine Ärztin dir dazu rät, ist das eine gute Voraussetzung dafür, dass du mit den Empfehlungen der App sinnvoll umgehen kannst. Denn die App ist dann nur ein Baustein der medizinischen Betreuung, die du ohnehin brauchst, weil dein Herz ein erhöhtes Risiko für Vorhofflimmern oder andere Herzrhythmusstörungen und Herzerkrankungen hat.
Auf eigene Faust und ohne bekannte Vorerkrankung regelmäßig EKGs aufzuzeichnen, stiftet dagegen oft mehr Verwirrung als es nützt.
Dieser Text ist mit der Unterstützung von KR-Leser:innen entstanden. Ich danke Ralf, Suitbert, Volker und Jakob für ihre Zeit und ihre Expertise und Markus, Maria, Uwe, André, Raimar und Vanessa für ihre E-Mails.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel, Audioversion: Christian Melchert