Stell dir vor, du bist auf ein Medikament angewiesen, aber es ist gerade nicht lieferbar. Keine Apotheke schafft es, dir deine Arznei zu besorgen. Die Lager der Hersteller sind leer. Und auch die Apotheken haben ihre Bestände abverkauft. Dein Arzt oder deine Ärztin regt sich auf, die Apotheker:innen auch. Und du erst recht. Niemand weiß, wann deine Tabletten wieder lieferbar sein werden.
Zum Glück gibt es eine Alternative. Aber dieses Präparat ist sehr teuer, und deine Krankenkasse bezahlt die Mehrkosten nicht. Die nette Apothekerin schaut dich mitleidig an, als sie sagt: „Das macht dann 200 Euro bitte.“ Und du rechnest schnell nach: Dann reicht dein Geld diesen Monat nicht mehr für die neue Winterjacke, die du dir eigentlich kaufen wolltest, weil die alte kaputt ist. Und sowieso fragst du dich, ob die Alternative wirklich in Ordnung geht. Schließlich solltest du ja eigentlich etwas anderes nehmen.
Diese Geschichte ist zwar ausgedacht, aber trotzdem wahr. Und sie passiert zigfach so oder so ähnlich jeden Tag. Nicht irgendwo. Sondern in Deutschland. In dem Land, das sich rühmt, eines der besten Gesundheitssysteme der Welt zu haben, müssen täglich Operationen verschoben werden, weil wichtige Narkosemittel fehlen. Müssen Menschen, die Krebs haben, auf Medikamente warten, von denen im Zweifel ihr Leben abhängt. Müssen Menschen mit Depressionen ihre Antidepressiva-Restbestände rationieren, weil der Nachschub fehlt. Wissen Menschen mit Bluthochdruck nicht, ob sie sich die einzige Alternative zu ihrem Standardmittel leisten können werden, weil ihre Krankenkasse das teurere Medikament nicht zahlt.
Die Liste der fehlenden Medikamente ist lang. Und sie wächst von Jahr zu Jahr. Das Ärzteblatt schreibt am 25. Oktober: „Von 40 Meldungen (2015) auf 81 Meldungen (2016), auf 108 Meldungen 2017 und auf 268 Meldungen im vergangenen Jahr. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion hervor.“
Circa die Hälfte der knapp gewordenen Arzneimittel kann eine Lücke in die medizinische Versorgung reißen, für die andere Hälfte gibt es Alternativen. In Apotheken müssen inzwischen ungefähr 10 Prozent der Arbeitszeit dafür aufgewendet werden, nach diesen Alternativen zu suchen.
Warum ist das so?
Den einen Grund gibt es nicht, da kommt viel zusammen. Und Deutschland ist auch nicht allein betroffen. Die Lieferengpässe bei Arzneimitteln sind ein globales Problem.
Grund 1: Hersteller stellen Wirkstoffe nicht mehr selbst her
Viele Pharmaunternehmen sind dazu übergegangen, sich die Rohstoffe auf dem Weltmarkt zu besorgen, anstatt sie selbst herzustellen. Das hat Vorteile für die Unternehmen: Sie müssen keine teuren Produktionsstraßen unterhalten, haben kein Risiko für den Fall der Überproduktion. Oft kann auch die Lagerhaltung auf ein Minimum runtergefahren werden, weil man Just-in-Time bestellt. All das spart Kosten. Auch, weil man mit den Wirkstoffproduzenten günstige Verträge aushandeln kann. Denn diese Produzenten befinden sich sehr oft in Schwellen- oder Entwicklungsländern wie zum Beispiel Indien oder Bangladesch.
Das begünstigt Konzentration. Für den Wirkstoff Ibuprofen gibt es nur sechs Produktionsstätten weltweit und wie dieser Umstand zu Lieferschwierigkeiten beiträgt, darüber berichtet die Fachpresse ausführlich. Kommt es in einer der Fabriken zu Störungen, hat das sofort Auswirkungen auf die Lieferbarkeit. Manchmal gibt es für Wirkstoffe auch nur eine Produktionsstätte. Welche Folgen die Konzentrationsentwicklung bei unseren Apotheken vor Ort hat, kann man auch in diesem Twitter-Thread einer Apothekerin nachlesen.
Grund 2: Strengere Kontrollen sollen gefährliche Imitate eindämmen
Nach einigen Skandalen mit gefälschten Medikamenten gibt es nun in Deutschland ein Kontrollsystem. Diese an sich gute Entwicklung sorgt allerdings dafür, dass Produktionsstraßen umgestellt werden und Verpackungen aufwändiger gestaltet werden müssen: Verpackungen brauchen Siegel und Arzneimittel eine ID-Kennung. Das kann dazu führen, dass beim Umstellen die Produktion ins Stocken gerät.
Grund 3: Produktionsstopps unterbrechen Lieferketten für länger
Wenn die Produktion eines Arzneimittels zum Halten kommt, muss die Fabrik zuerst einen Prüfprozess durchlaufen, bevor sie wieder liefern darf. Dabei ist es egal, ob der Grund für den Stopp ein Hygienemangel, eine Produktionsumstellung oder ein Lieferengpass bei einem Rohstoff war.
Grund 4: Rabattverträge der Krankenkassen
Um ständig steigenden Arzneimittelausgaben entgegenzuwirken, schließen Krankenkassen Rabattverträge mit Herstellern ab. Das heißt, dass du je nachdem, bei wem du versichert bist, ein anderes Präparat bekommst für den Wirkstoff, den dir dein Arzt oder deine Ärztin verordnet. Nämlich das, für das die Krankenkasse am wenigsten zahlen muss. Die Hersteller beziehungsweise Vertreiber stellen sich auf den zu erwartenden Bedarf ein, der sich aus den Verträgen ergibt. Auch diejenigen, die keinen Rabattvertrag mit Krankenkassen abgeschlossen haben oder nur mit kleineren Kassen oder Kassenverbünden. Sie planen um, fahren die Produktion herunter, kaufen weniger Rohstoffe etc.
Kommen nun Hersteller in Lieferschwierigkeiten, die große Kontingente eingeplant haben, müssen die kleinen einspringen. Doch weil der Bedarf plötzlich größer ist als gedacht, kommen auch sie über kurz oder lang in Lieferschwierigkeiten. Das Arzneimittel fehlt dann völlig. Das betrifft derzeit etwa zwei Prozent der Präparate, für die es Rabattverträge gibt.
Grund 5: Niemand mag Festbeträge
Deutschland ist ein sehr regulierter Markt. Möglicherweise können Hersteller ihre Produkte woanders lukrativer verkaufen. Dann fehlen Kontingente für den Markt, der sich für die Hersteller am wenigsten lohnt. So entsteht Arzneimittelknappheit in einigen Regionen, während es Überschüsse in anderen gibt.
Grund 6: Wer nicht liefern kann, hat nichts zu befürchten
Zwar haben sich Hersteller freiwillig selbst verpflichtet, Lieferschwierigkeiten an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BfArm zu melden – auch schon absehbare. Aber sie müssen keine Konsequenz befürchten, wenn sie es nicht tun. Außerdem können sie wegen der Lieferschwierigkeiten selbst auch nicht bestraft werden, zum Beispiel mit Geldbußen.
Grund 7: Die Behörden haben keinen Überblick und kein Druckmittel
Zwar gibt es eine Liste der Weltgesundheitsorganisation mit unentbehrlichen Arzneimitteln. Aber aus dieser Liste ergeben sich lediglich Empfehlungen, welche Medikamente ein Land bevorraten sollte. In der Regel soll ein Vorrat von zwei Wochen vorgehalten werden. Unklar ist jedoch, an welcher Stelle: beim Hersteller, beim Großhändler, in der Apotheke vor Ort? Bei über 400 Arzneimitteln kommt man schnell an Lagergrenzen.
Außerdem können Hersteller Präparate als lieferbar melden, wenn sie einzelne Packungen ausliefern können. Das nützt aber in der Fläche unter Umständen nichts. Niemand kann sagen, wo diese einzelnen Packungen zu finden sind, denn dazu gibt es kein Register. Das heißt, dass das BfArm unter Umständen Entwarnung gibt, während in der Praxis ein Lieferengpass besteht.
Wie groß das Problem ist, weiß niemand so genau
Unbestritten geben Lieferengpässe Anlass zur Sorge. Allerdings ist es wichtig, dass man zwischen Lieferengpass und Versorgungsengpass unterscheidet. Denn nicht immer entstehen aus Lieferengpässen Probleme. Zum Beispiel dann, wenn es genügend Alternativen gibt, die Krankenkassen bei Verschreibungen, die vor Ort ambulant abgeholt werden, kulant sind und bei Mitteln, die in Krankenhäusern fehlen, Unterstützung leisten. Oder auch, wenn es um Mittel geht, die zur Behandlung von Bagatellkrankheiten gebraucht werden.
Allerdings zeigt allein die Tatsache, dass Lieferengpässe immer mehr zunehmen und auch weltweit bestehen, dass das System hinkt. Die Politik müsste gegensteuern. Inzwischen gibt es auch Vorschläge, wie man das Problem angehen könnte: Krankenkassen sollen regionale Rabattverträge abschließen. Außerdem sollen die Verträge jeweils mit mindestens drei Anbietern und zwei Wirkstoffherstellern geschlossen werden und nicht wie derzeit möglich mit nur einem Partner. Und schließlich soll die Wirkstoffproduktion in Europa gefördert werden. Wie genau ist jedoch offen.
Bis diese Ideen umgesetzt werden und greifen können, wird es sicher noch dauern. Manche Apotheken empfehlen ihren Kunden im Moment, sich rechtzeitig um Nachschub zu kümmern und nicht erst, wenn Freitagmittag die letzte Pille geschluckt ist. Und nach Möglichkeit dann in die Apotheke zu gehen, wenn die verordnende Praxis noch geöffnet ist. Denn sehr oft müssen Apotheken Rücksprache mit der Arztpraxis halten, welches Präparat sie alternativ abgeben können. Auch interessant: Einige Arztpraxen nutzen Praxissoftware, die Informationen über den Lieferstatus bereithält, andere nicht.
Viele Patient:innen sind sehr verunsichert und wissen nicht, was es bedeutet, wenn sie nicht das Medikament bekommen können, das ihnen ihr Arzt oder ihre Ärztin aufgeschrieben hat. Vielleicht tröstet es ein wenig, dass es manchmal auch einfach das erste in der Liste der möglichen Mittel ist, es also tatsächlich meist unbedenklich ist, ein anderes Medikament zu nehmen. Schwieriger ist die Situation für Krankenhäuser, deren Apotheken die Kunst vollbringen müssen, aus Lieferengpässen keine Versorgungsengpässe für die stationären Patient:innen werden zu lassen. Denn Versorgungsengpässe können im Krankenhaus schnell über Leben und Tod entscheiden.
Redaktion und Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel